S 13 RJ 498/04

Berufskundekategorie
Gutachten
Land
Freistaat Bayern
Aktenzeichen
S 13 RJ 498/04
Auskunftgeber
Regionaldirektion Bayern, Nürnberg
Anfrage
Sachverhalt

Die bei Antragstellung (4.9.03) 41-jährige Klägerin ist seit Geburt in Marokko sesshaft. Lt. ärztlicher Bescheinigung ist die Klägerin seit dem 3. Lebensjahr taubstumm; gesundheitliche Beeinträchtigungen anderer Art sind den Akten nicht zu entnehmen. Nach dem Vortrag der Bevollmächtigten der Klägerin besuchte diese nie eine Schule und hätte keine Ausbildung; sie hätte nie eine Tätigkeit als Arbeit ausgeübt. Weiterhin wurde vorgetragen, dass das gleichzeitige Vorliegen einer Taubheit und Stummheit bei der Klägerin eine schwere spezifische Leistungsminderung begründen würde. Die Klägerin wäre zur mündlichen Kommunikation, die eine der wesentlichen Voraussetzungen der Befolgung von Arbeitsanweisungen wäre, nicht in der Lage. Der Arbeitsmarkt sei ihr als einer taubstummen Person grundsätzlich verschlossen.

Von der Beklagten wird im Widerspruchsbescheid vom 6.7.04 die Auffassung vertreten, dass die Klägerin auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden könne, die keine besonderen Fachkenntnisse voraussetzen und denen sie gesundheitlich gewachsen sei. Das Leistungsvermögen der Klägerin sei weder zeitlich und in sonstiger Hinsicht eingeschränkt, so dass die Klägerin unter Berücksichtigung der seit Geburt bestehenden Taubstummheit in der Lage wäre, nach kurzfristiger Einarbeitungszeit oder Unterweisung leichte Montier-, Sortier-, Verpackungs- oder Maschinenarbeiten zu verrichten; des Weiteren könne sie - wie in Marokko weit verbreitet - ohne Weiteres Näharbeiten verrichten.

Das Gericht bittet um berufskundliche Stellungnahme, welche Tätigkeiten der Klägerin in Hinblick auf ihre Behinderungen noch offen stehen.
Auskunft
Zu der hier aufgezeigten Problematik kann einleitend bemerkt werden, dass tauben und stummen Personen allein auf Grund dieser spezifischen Einschränkung der Arbeitsmarkt nicht grundsätzlich verschlossen ist. In der Bundesrepublik Deutschland waren mit Stand 31.12.01 insgesamt 22.039 Personen mit der Behinderung "Taubheit kombiniert mit Störungen der Sprachentwicklung " erfasst, davon im erwerbsfähigen Alter 15.656 Personen.

Zu den von der Beklagten genannten Verweisungsberufen im Einzelnen:

Montierarbeiten

Die wesentlichen Aufgaben umfassen hier den Zusammenbau/die Montage von vorgefertigten Einzelteilen oder von Baugruppen zu einer funktionsgerechten Einheit entsprechend den Montageanleitungen unter gleichzeitiger Prüfung der Maßgenauigkeit; das Verbinden erfolgt durch stecken, verschrauben, löten, schweißen, nieten u. ä. Auf der Ebene der qualifizierten Anlerntätigkeiten handelt es sich üblicher Weise um typische Arbeitsplätze für Frauen, zumeist um leichte bis mittelschwere Arbeiten in geschlossenen Räumen, in überwiegend einseitiger sitzender Körperhaltung, häufig leicht vorgebeugt, u. U. bis hin zu Zwangshaltungen im Rücken- oder Schulter-Nackenbereich mit lediglich gelegentlicher Möglichkeit zum Haltungswechsel. Häufiges Heben und Tragen kann in der Regel vermieden werden, jedoch ist die volle Funktionsfähigkeit beider Arme und Hände mit Eignung für Fein- bis hin zu Präzisionsarbeiten, also Geschick und Fingerfertigkeit erforderlich, weswegen für diese Tätigkeit überwiegend Frauen eingesetzt werden. Für Montagetätigkeiten wird erfahrungsgemäß ein gutes Nahsehvermögen vorausgesetzt. Einfache und wiederkehrende Tätigkeiten wurden und werden zunehmend in automatisierte Fertigungsabläufe integriert. Sie unterliegen somit in aller Regel einem bestimmten Produktionsrhythmus, Maschine bzw. Fließband geben die Arbeitsgeschwindigkeit vor. Gleichwohl werden hohe Anforderungen an Genauigkeit, Sorgfalt, Geduld, Ausdauer, Daueraufmerksamkeit und an das Konzentrationsvermögen gestellt.

Sortieren und Verpacken

Üblicherweise handelt es sich um ungelernte Tätigkeiten mit nur leichten bis mittelschweren Belastungen hinsichtlich der zu handhabenden Gegenstände. Die Tätigkeiten sind jedoch in der Regel durch ausschließliche oder weitestgehend einseitige Körperhaltungen (Stehen oder Sitzen, nicht selten bis hin zu Zwangshaltungen) und durch Zeitdruck (Akkord-, Fließbandarbeit) geprägt. Bei Verpackungstätigkeiten kann zudem häufiges Bücken und - auch wenn es sich einzeln betrachtet um leichte Gegenstände handelt - durch Zusammenfassung in größere Gebinde Heben und Tragen auch mittelschwerer Lasten verlangt sein. In der Regel sind solche Arbeitsplätze den speziellen Anforderungen entsprechend ausgestattet, um ungünstige Arbeitshaltungen weitestgehend zu vermeiden. Entweder wird die Tätigkeit in stehender Arbeitshaltung am Band verrichtet, beispielhaft sei hier das Zurichten und Einlegen von Fischen in Konserven angeführt (als Produktionshelfer), bzw. werden die zu sortierenden Teile in Behältern oder auf Paletten an den Arbeitsplatz geholt, auf Arbeitshöhe gebracht, danach in Behälter abgelegt und wieder wegtransportiert. Gutes Sehvermögen, beidseitiges Handgeschick und Fingerfertigkeit sind neben Aufmerksamkeit und Konzentrationsvermögen übliche Anforderungsvoraussetzungen.

Näherin

Im vorgenannten Widerspruchsbescheid der beklagten LVA wird zu den Verweisungsberufen, zu denen die Klägerin auch aufgrund ihrer Behinderung fähig sei, die Tätigkeit einer Näherin genannt; es erfolgte hierzu der Hinweis, dass diese Tätigkeit im Heimatland der Klägerin Marokko von vielen Beschäftigten ausgeübt wird. Textilnäherinnen sind in der industriellen Herstellung von Bekleidung und Textilien aller Art beschäftigt. Mit Hilfe von schnell laufenden Industrienähmaschinen bis hin zu automatisierten Maschinen fertigen sie entweder Einzelteile wie Taschen, Kragen, Manschetten, Ärmel oder Futterteile an, setzen vorgefertigte Teile zu fertigen Kleidungsstücken oder Textilwaren zusammen oder bringen Knöpfe und Knopflöcher, Abnäher, Besätze, Verzierungen usw. an. An den Maschinen stellen sie die Fadenspannung und Stichlänge ein, fädeln das Nähgarn ein und überprüfen Garn und Maschinennadeln. In der Regel sind sie spezialisiert auf einzelne Tätigkeiten, Artikel oder Artikelgruppen, bestimmte Maschinen oder zu nähende Teile. Es handelt sich um körperlich leichte Arbeiten in geschlossenen Räumen, die nahezu ausschließlich im Sitzen, größtenteils in Zwangshaltung und üblicherweise im Akkord verrichtet werden. Beeinträchtigungen treten durch Textilstäube und z.T. durch Dämpfe auf.

Bei den vorgenannten ungelernten Tätigkeiten werden im Wesentlichen körperliche Verrichtungen abverlangt (z.B. Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Packen, Sortieren, Zusammensetzen von Teilen), die bei der täglichen Lebensführung im eingeschränkten Umfang ebenfalls gefordert werden und die u. a. auch Arbeitsinhalte einer Haushaltsführung sind. Es sind keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass die Klägerin mit dem bestätigten Leistungsvermögen diese körperlichen Verrichtungen nicht vollschichtig erbringen und somit auch auf dem allgemeinen Arbeitsfeld verwerten kann. Auch die Taubheit der Klägerin und deren fehlenden Sprech-, Lese- und Schreibkenntnisse stehen einer betrieblichen Verwertung des Leistungsvermögens der Klägerin nicht grundsätzlich entgegen. Die Vermittlung von Arbeitsinhalten einfacher und wiederkehrender Art, wie bei Verpackungstätigkeiten angeführt, bedarf lediglich einem Vorführen der erforderlichen Tätigkeiten und Handreichungen am Arbeitsplatz; das weiterte Erlernen und die Aneignung von Fertigkeiten erfolgt hier durch das sog. "learning by doing". Eine hörgeschädigte Arbeitnehmerin ist hier nicht anders gestellt als sprachunkundige Arbeitnehmer. Eine Kommunikation am Arbeitsplatz ist in verschiedenen Bereichen (so vorstellbar u.a. bei Abfüll- und Verpackungsanlagen der Lebensmittel verarbeitenden Industrie) auch nicht möglich und nicht vorgesehen.

Aus berufskundlicher Sicht bestehen daher keine Zweifel an der betrieblichen Einsatzfähigkeit der Klägerin für vom Verständnis her einfache Sortier- und Verpackungstätigkeiten (ohne Versandarbeiten) sowie für einfache Montage- und Maschinenarbeiten auf Arbeitsplätzen mit leichten bis mittelschweren körperlichen Anforderungen. Solche Arbeitsplätze sind im ausreichenden Umfang bundesweit vorhanden und zugänglich. Es handelt sich auch nicht um sog. Schonarbeitsplätze, die Arbeitnehmern mit Leistungseinschränkungen körperlicher Art vorbehalten wären. Zwar bedarf es hier intensiver Vermittlungsbemühungen und ggf. anfänglichen berufsbegleitenden Hilfen, die aber über das übliche Maß einer Ersteingliederung nicht hinaus gehen. Bei entsprechender Bereitschaft der Klägerin muss von deren Eingliederungsfähigkeit in eine Erwerbstätigkeit ausgegangen werden.

Für Montage- und Maschinenarbeiten im feinmechanisch-feinwerktechnischen Bereich und auch für die Tätigkeit als Näherin im Umfang einer Erwerbstätigkeit bedarf es in der Regel steter und weitergehender Anleitungen - u. U. auch im gegenseitigen mündlichen Austausch - sowie ggf. die Beachtung unmittelbarer mündlicher als auch schriftlicher Anweisungen. Aus berufskundlicher Sicht bestehen daher Bedenken, ob die Klägerin mit ihrem ohne Zweifel nicht vorhandenen Kommunikationsvermögen solchen Tätigkeiten, die in der Regel auch längere Einarbeitungszeiten erfordern, voll umfänglich gerecht werden kann.

Küchenhilfe

Personen mit geringen bis keinen Deutschkenntnissen und/oder geringen bis keinen Lese- und Schreibkenntnissen (Analphabeten) wurden bislang u. a. auf die Tätigkeit der Küchenhilfe verwiesen, da nach vorhandenen Kenntnisstand es sich hier in der Regel um eine körperlich leichte bis mittelschwere, üblicherweise im Wechsel zwischen Stehen, Gehen und Sitzen auszuübende Arbeit handelt. Da das Erlernen der anfallenden Arbeiten auch hier auf dem Weg des "learning by doing" erfolgte, waren die Tätigkeiten einer Küchenhilfe durchaus auch für Analphabeten mit sehr geringen Deutschkenntnissen geeignet. Die Zahl der entsprechenden Arbeitsplätze in den verschiedenen Wirtschaftszweigen war aus statistischer Sicht landes- und bundesweit als ausreichend anzusehen. Das Tätigkeitsprofil einer Küchenhilfe war in den letzten Jahren aber qualitativen und quantitativen Änderungen unterworfen. So wurde im Bezirk der Regionaldirektion Nordrhein-Westfalen nach Arbeitserkundungen festgestellt, dass es nur noch vereinzelt Arbeitsplätze für Küchenhilfen in Kantinen und Großküchen gibt, die keine Anforderungen an die Lese- und Schreibfähigkeit stellen und zudem noch überwiegend leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten sind. Da selbst bei einfachen Küchenhilfsarbeiten (Gemüse und Salate putzen) bei steten Änderungen in der Regel aber mündlichen Anweisungen zu folgen und einfachen schriftliche Anweisungen zu beachten sind sowie abwechselnd andere Hilfsarbeiten (Abfallbeseitigung, Reinigungsarbeiten, ggf. Essenportionierung) anfallen, bedarf es hier eines hinlänglichen Kommunikationsvermögens, dem die Klägerin nicht nachkommen kann.

Reinigungskraft

Einfache Reinigungsarbeiten stellen für die Klägerin aber eine ihrem Leistungsvermögen entsprechende Alternative dar. Diese Arbeiten beinhalten zumindest teilweise mehr als nur leichte körperliche Belastungen, die jedoch nicht durchweg als mittelschwer zu bezeichnen sind. Die Arbeiten werden im Gehen und Stehen verrichtet; häufiges Bücken, Recken, vorgebeugte und z.T. gedrehte Haltung werden verlangt; die volle Gebrauchsfähigkeit und Belastbarkeit beider Hände ist erforderlich. Kontakt mit Feuchtigkeit und Chemikalien ist gegeben; in der Regel wird unter Zeitvorgabe gearbeitet. Soweit die Klägerin hier in eine Reinigungskolonne eingebunden ist, kann sie nach entsprechender Einarbeitung bestimmte - so vom Anspruch/der Vielfalt der Reinigungstätigkeit her einfache ggf. aber körperlich mehr belastende - Reviere wie z.B. Nassbereiche eigenverantwortlich unter der üblichen Überwachung der Reinigungskolonnen durch die Kontrollkräfte reinigen. Das der Klägerin fehlende Kommunikationsvermögen steht der Ausübung einer solchen Tätigkeit nicht entgegen.

Weitere Verweisungstätigkeiten werden nicht benannt.
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