L 6 U 169/18

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 39 U 222/13
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 6 U 169/18
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Im Rahmen von sog. "Feierabendtätigkeiten" und Tätigkeiten für die   volkswirtschaftlichen Masseninitiative (VMI) im Gebiet der ehemaligen DDR bestand Unfallversicherungsschutz nach dem Recht der ehemaligen DDR.

 

2. Beim Vorliegen der arbeitsmedizinischen und arbeitstechnischen Voraussetzungen (13.000 kniebelastende Stunden) der Berufskrankheit Nr. 2112 der Anlage 1 zur BKV ist diese von der Beklagten anzuerkennen.

 

3. Nach der Erfahrung des Senats werden die arbeitstechnischen Beurteilungen von den Präventionsdiensten regelmäßig „wohlwollend“, aber immer auch realistisch durchgeführt. Der Senat hat keine Veranlassung in Fällen, in denen die Einschätzungen des Präventionsdienstes für den Kläger günstig sind, anderer Auffassung zu sein als in den Fällen, in denen die Ermittlungen des Präventionsdienstes nicht für den Kläger sprechen, aber ebenso genau durchgeführt wurden.

 

Bemerkung

Unfallversicherung und "Feierabendtätigkeit" in der ehemaligen DDR

   
   
 

 

      1. Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 04.07.2018, der Bescheid der Beklagten vom 06.09.2012 und der Widerspruchsbescheid vom 26.06.2013 aufgehoben.
      2. Es wird festgestellt, dass die Gonarthrose in beiden Knien des Klägers als Berufskrankheit der Nummer 2112 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung anzuerkennen ist.
      3. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Instanzen.
      4. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Tatbestand

 

Zwischen den Beteiligten ist im Berufungsverfahren die Anerkennung der die Knie des Klägers betreffenden Gonarthrose als Berufskrankheit im Sinne der Ziffern 2112 der Anlage I zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) streitig.

 

Der 1963 geborene Kläger war in der Zeit vom 01.09.1980 bis 2006 und danach mit Unterbrechungen bis zum 31.03.2010 als Dachdecker und Bauhandwerker tätig Mit Schreiben vom 02.09.2011 beantragte er die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) vorwiegend wegen Schulterbeschwerden. Unter dem 24.02.2012 bezog er die Kniebeschwerden mit Gonarthrose in den Antrag ein. Hierauf leitete die Beklagte ein Feststellungsverfahren zu den BKen Nr. 2102 und Nr. 2112 ein. Die Beklagte führte Amtsermittlungen zum maßgeblichen Sachverhalt durch und stellte hinsichtlich der BK 2112 fest, dass die medizinischen Voraussetzungen zur Anerkennung fehlen würden und lehnte deshalb mit Bescheid vom 06.09.2012 und Widerspruchsbescheid vom 26.06.2013 die Anerkennung einer BK Nr. 2102 und BK Nr. 2112 ab.

Am 22.07.2013 hat der Kläger beim Sozialgericht Dresden Klage erhoben. Das Sozialgericht hat ein Gutachten bei Dr. med. Z.... auf unfallchirurgischem Fachgebiet eingeholt. Dieser hat sein schriftliches Gutachten nach ambulanter Untersuchung des Klägers vom 16.07.2014 unter den 24.07.2014 erstattet. Hinsichtlich der BK 2112 seien die medizinischen Voraussetzungen zu bejahen. Der Kläger beschreibe seit über zehn Jahren rezidivierende belastungsabhängige Schmerzen, insbesondere im Bereich des rechten Kniegelenkes, wobei die Anfangssymptome bis 2008/2009 durchaus typisch für ein degeneratives Gelenkleiden zu werten seien. Die typische Entwicklung der Gelenkarthrose sei nachvollziehbar. Sie würde regelmäßig längere Zeit im Alltag und bei Belastung kompensiert und toleriert bei zeitlich zunehmender Häufung der Aktivierungsphasen und vermehrter Frequenz an Heftigkeit. Beim Kläger bestehe eine klare Korrelation mit den körperlichen Belastungen nach Kniegelenksexposition. Zusammenfassend bestünden deutliche Funktionseinschränkungen im rechten Kniegelenk mit eindeutiger Bewegungseinschränkung im Beugen und Strecken bei dem Vollbild einer Kniegelenksarthrose. Auf der linken Seite seien anfängliche Zeichen einer Kniegelenksarthrose bereits ersichtlich. In der ergänzenden Stellungnahme vom 8.10.2014 hat Dr. Z.... weiter ausgeführt, dass sich nach Recherche in den medizinischen Unterlagen der Kläger im Januar 2012 in der Praxis Dr. Y...., B.... vorstellte und die dort gefertigte Röntgenaufnahme einen Arthrosegrad nach KELLGREN und Lawrence Stadium III beschreibt. Auch die MRT-Untersuchung vom Mai 2012 habe die degenerative Meniskopathie Grad III sowie die Chondropathie II. und III. Grades bestätigt. Dasselbe habe die Arthroskopie vom August 2012 ergeben. Die zum Gutachten gefertigten Röntgenaufnahmen des linken Kniegelenkes hätten bei typischer Klinik und typischem Verlauf eine beginnende Arthrose links mit Röntgenstadium nach KELLGREN und Lawrence Stadium II ergeben. Zusammengefasst könne aus gutachterlicher Sicht unzweifelhaft das Vorliegen einer degenerativen Gelenkerkrankung bestätigt werden, wobei sich auf der rechten Seite bereits deutlich schmerzhafte Funktionseinschränkungen eingestellt hätten. Hinsichtlich der BK 2112 schloss sich der Beratungsarzt Dr. W.... der Meinung von Dr. Z.... an. Mit dem Gutachter sei davon auszugehen, dass chronische Kniegelenksbeschwerden aktenkundig nachgewiesen seien. Bei jetzigem Ermittlungsstand könne unter Berücksichtigung der hier vorgelegten Röntgenaufnahmen bei eingeschränkter Beurteilbarkeit von einer Gonarthrose Grad II nach KELLGREN beiderseits ausgegangen werden. Dabei sei die Funktionseinschränkung am Kniegelenk rechts gesichert mit Extension/Flexion 0/10/115.

Die Beklagte veranlasste sodann Expositionsanalysen zur BK 2112 des eigenen Präventionsdienstes sowie desjenigen der BGW, VBG und UK. Der Präventionsdienst der Beklagten ermittelte sodann unter dem 17.03.2015 insgesamt kniebelastende Tätigkeiten im Sinne der BK 2112 in Höhe von 8.227 Stunden, die BGW unter dem 26.03.2015 für die Zeit vom 01.07.2009 bis zum 31.03.2010 von insgesamt 340 Stunden, die VBG mit Datum vom 31.03.2015 für die Zeit vom 23.04.2008 bis zum 20.04.2009 von insgesamt 48 Stunde sowie die Unfallkasse vom 01.04.2015 für die Zeit vom 01.11.2005 bis zum 30.04.2006 von insgesamt weiteren 75 Stunden (Bl. 148 d. GA) und legte mithin eine Gesamtsumme von 8. 227 h kniebelastender Tätigkeit zugrunde.

Der Kläger trat dem mit mehreren Schriftsätzen entgegen und legte eine Auflistung kniebelastender Tätigkeiten mit einer Gesamtstundenzahl von 13.807 h unter Beifügung einer Erläuterung zur näheren Beschreibung der kniebelastenden Tätigkeiten vor. Der gerichtliche Sachverständige Diplom-Ingenieur V...., DEKRA U...., als Gutachter auf arbeitstechnischem Fachgebiet hat für das Sozialgericht sein schriftliches Gutachten unter dem 11.03.2016 erstattet. Diplom-Ingenieur V.... kam in Auswertung des Akteninhalts zu der fachlichen Einschätzung, dass kniebelastende Tätigkeiten des Klägers im Sinne der BK 2112 für die Zeit vom 01.09.1980 bis zum 31.03.2010 in Höhe von insgesamt 10.536 Stunden vorlägen. Alternativ zu dieser Berechnung wurde von ihm eine Berechnung der Kniestunden auf der Grundlage der tatsächlichen Angaben des Klägers, eine sog. worst-case-Betrachtung, vorgenommen. Danach ergäben sich für den vorgenannten Zeitraum insgesamt 12.630 Stunden. Insgesamt sei im vorliegenden Fall davon auszugehen, dass letztlich keine Klarheit über die tatsächlich verrichteten Tätigkeiten des Klägers in den einzelnen Beschäftigungsabschnitten bestehe. Eine konkrete Berechnung der tatsächlich absolvierten Kniestunden sei daraus resultierend nicht möglich. Angaben zu einer ausgeübten Feierabendtätigkeit zu DDR-Zeiten habe der Kläger bisher nicht gemacht. Mit Schriftsatz vom 26.4.2016 hat der klägerische Bevollmächtigte. Der Kläger führte daraufhin aus, den Ausführungen des Sachverständigen könne nicht in allen Punkten gefolgt werden. So würde dem Befragungsprotokoll zum 09.01.2013 zu viel Bedeutung beigemessen. Jenes habe nur der groben Erfassung seines Arbeitslebens dienen sollen. Es hätten noch genauere Auskünfte bei den Arbeitgebern eingeholt werden sollen, was nicht erfolgt sei. Soweit der Gutachter vermerkt habe, dass der Kläger nach den vorliegenden Unterlagen sowie im persönlichen Gespräch mit dem Präventionsdienst keine außerberuflichen Tätigkeiten angegeben habe, beruhe dies auf reiner Unwissenheit. Er sei danach auch mit keinem Wort gefragt worden. Tatsächlich habe er von 1980 bis 1988 sehr viele Feierabendarbeiten im privaten, gesellschaftlichen und kommunalen Sektor ausgeführt. Das sei in der DDR auch legal gewesen und gefördert worden. Bei dem 400. Eigenheim in Feierabendarbeit habe er aufgehört zu zählen. Er schätze ein, dass er an ca. 550 bis 600 Objekten mitgearbeitet habe. Die Entlohnung sei privat geschehen. Er gehe davon aus, dass er selbst unter Zugrundelegung der ungünstigsten Annahme von nur 8.227 Stunden unter Berücksichtigung der Feierabendtätigkeit das Maß von 13.000 Stunden überschreite, auch wenn selbstverständlich eine konkrete Berechnung nicht mehr möglich sei.

 

Die Beklagte trat diesem ergänzenden Vortrag entgegen und führte aus, dass anspruchsbegründende Tatsachen im Vollbeweis vorliegen müssten und insbesondere Beweislosigkeit zu Lasten desjenigen geht, der einen Anspruch für sich geltend macht. Die pauschalen Darlegungen des Klägers zu Freizeit- und Feierabendtätigkeiten erfüllten jedenfalls nicht die geltenden Beweisgrundsätze. Zudem bezweifle die Beklagte, ob die dargestellten Tätigkeiten überhaupt als berücksichtigungsfähige Expositionszeiten im Sinne der begehrten Berufskrankheit(en) gelten könnten. Ungeachtet dessen fehlten konkrete Zeitangaben, wie taggenaue Tätigkeitszeiträume und die jeweilige arbeitstägliche Kniebelastungsdauer.

Dazu hat der gerichtliche Gutachter Diplom-Ingenieur V.... unter dem 01.12.2016 ergänzend Stellung genommen. Es sei wegen der allgemeinen Unwägbarkeiten der Kniebelastung durch den Gutachter eine Mittelwertberechnung der Kniebelastungen vorgenommen worden. Zusätzliche Belastungen durch Feierabendtätigkeiten seien ggf. durch die zuständigen Berufsgenossenschaften zu ermitteln und entsprechend den berechneten Kniestunden von 10.536 hinzuzuaddieren.

 

Mit Gerichtsbescheid vom 04.07.2018 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Vorliegend sein jedenfalls die arbeitstechnischen Voraussetzungen der Berufskrankheit BK 2112 nicht gegeben. Die Beweisaufnahme der Kammer (Vorsitzender) habe nicht zur hinreichenden Überzeugung ergeben, dass der Kläger während seines Arbeitslebens mindestens 13.000 kniebelastender Stunden und einer Mindesteinwirkungsdauer von insgesamt einer Stunde pro Schicht ausgesetzt gewesen sei. Auf Grundlage des bei den Akten vorliegenden Vortrages der Beteiligten in vom Kläger im Laufe des Berufslebens ausgeführten Tätigkeiten, den dazu vorgelegten Expositionsermittlungen der Präventionsabteilungen der betroffenen Berufsgenossenschaften und auf Grundlage der wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Umfang kniebelastender Tätigkeiten in einzelnen Berufszweigen habe der Gerichtsgutachter für die Zeit vom 01.09.1980 bis zum 31.03.2010 insgesamt kniebelastende Tätigkeiten des Klägers im Sinne des BK 2112 in Höhe von 10.536 Stunden und damit weitaus weniger als die vom Verordnungsgeber geforderten mindestens 13.000 Stunden. Selbst bei Berechnung der Kniestunden auf der Grundlage der Angaben des Klägers ergab sich nach den nachvollziehbaren Berechnungen des Gutachters nur eine Gesamtzahl kniebelastender Tätigkeiten von 12.630 Stunden und damit ebenfalls nicht die geforderten 13.000 Stunden. Eine Erhöhung der Gesamtzahl kniebelastender Tätigkeiten ergebe sich für den vorliegenden Fall auch nicht aus den von dem Kläger geltend gemachten zusätzlich außerhalb der eigentlichen Anstellung geleisteten Feierabendtätigkeiten im privaten, gesellschaftlichen und kommunalen Sektor (Feierabendtätigkeiten), weil auch solche Zeiten in keiner Weise konkret nach Zeit, Umfang und Intensität ihrer Belastungen konkretisiert worden seien, so dass der Kammer weitere Aufklärungen dazu verwehrt gewesen seien, selbst wenn für die Feierabendtätigkeit Versicherungsschutz zu unterstellen gewesen wäre.

 

Am 03.08.2018 hat der Kläger Berufung gegen den Gerichtsbescheid vom 04.07.2018 eingelegt. Unter Zugrundelegung des Gerichtsgutachters zur Arbeitsplatzexposition sei von einer Anzahl kniebelastender Stunden von 12.630 Stunden auszugehen, sodass lediglich 370 Stunden nicht belegt seien, wobei die außerberufliche Tätigkeit des Klägers als nach Meinung des Sozialgerichts unversicherter Zeit noch gar nicht berücksichtigt sei. Diese Arbeit sei aber nach den gesetzlichen Regelungen in der ehemaligen DDR als unfallversicherte Zeit anzusehen. Hierzu lege der Kläger eine weitere Aufstellung aus seinem Gedächtnis über ausgeführte Feierabendtätigkeiten für die Gemeinde und auch Privatpersonen mit Einzelstunden vor. Der Kläger habe unter anderem für seine Heimatgemeinde T.... gearbeitet, auf die alleine 898 kniebelastende Stunden entfielen. Die Befragung durch Mitarbeiter der Beklagten zur Arbeitstätigkeit des Klägers habe 20 Minuten gedauert und sei sehr ungenau gewesen. Nach einer Feierabendtätigkeit sei er nicht gefragt worden. Er hätte natürlich Angaben dazu gemacht, wenn er gefragt worden wäre. Die Beklagte habe ja die gesetzlichen Grundlagen dazu offenbar gekannt. Auf Aufforderung des Senates, die Arbeiten nach Tätigkeiten im Knien, Hocken, im Fersensitz und im Kriechen aufzuschlüsseln, um dem Präventionsdienst eine Einschätzung zu ermöglichen legte der Kläger eine 30 seitige Zusammenfassung der Einzelobjekte mit Gesamtarbeitsstunden und kniebelastend eingeschätzten Stunden nebst Jahreszahlen vor, die sich in der Summe auf 3585 kniebelastende Stunden belief. Später folgte eine weitere fünf seitige Aufstellung. Eine Eintragung dieser Tätigkeiten in den Sozialversicherungsausweis sei nicht erfolgt und habe der gängigen damaligen Praxis entsprochen. Für diese Unterlagen des Kläger hat der Senat eine weitere Berechnung des Präventionsdienstes der Beklagten veranlasst, der mit Schreiben vom 06.12.20121 mitteilte, dass nach den Angaben des Klägers zu seiner Feierabendtätigkeit unter der Berücksichtigung von vergleichbaren Arbeitsplätzen, Gefährdungskataster, Literatur und anderen technischen Stellungnahmen eine deutliche Überschreitung der zu fordernden 13.000 kniebelastenden Stunden vorgelegen habe, wobei die Angaben des Klägers mittels der aktuellen Fassung der IFA-Software "Kniebelastungen" geprüft worden seien. 13.000 kniebelastenden Stunden würden bestätigt, soweit die Feierabendtätigkeit auch eine versicherte Tätigkeit darstelle. Auf Anregung des Senats hat der Präventionsdienst der Beklagten unter dem 20.07.2022 eine erneute Berechnung unter Zuordnung einzelner, konkreter vom Kläger angegebenen Baustellen und Tätigkeiten mit IFA-Report Berechnungen vorgelegt mit dem Ergebnis, dass für die Feierabendtätigkeit des Klägers i.S.v. der BK Nr. 2112 eine Zahl von 2054 kniebelastenden Stunden für die Zeit vom 1981-1988 zugrunde zu legen sei.

 

Die Beklagte führt dazu aus, die Angaben des Klägers seien nicht durch Beweise gesichert und daher irrelevant. Die rechtlichen Grundlagen zur Feierabendtätigkeit seien bekannt. Für die Art der Tätigkeit trage der Kläger die Beweislast. Außerberufliche Tätigkeiten habe der Kläger bei der Befragung durch die Beklagte nicht angegeben. Beweise, dass der Kläger tatsächlich eine Feierabendtätigkeit vorgenommen habe, habe er nicht vorgelegt. Er habe damit die versicherte Tätigkeit nicht im Vollbeweis dargelegt.

 

Der Senat hat Beweis erhoben durch die Vernehmung von Herrn D.... und Herrn F.... als Zeugen im Erörterungstermin vom 02.09.2022durch den Berichterstatter gemäß § 155 Abs. 4 i.V.m. § 106a Abs. 3 Nr. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

 

Die Beteiligten stimmten einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zu.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakte verwiesen.

 

 

Entscheidungsgründe

 

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erteilt haben (§ 124 Abs. 2 SGG).

 

Die Berufung des Klägers ist begründet. Das SG hat auf der Basis seiner Rechtsmeinung von der nicht unfallversicherten Feierabendtätigkeit des Klägers in der ehemaligen DDR die auf Feststellung der BK-Nr. 2112 BKV gerichtete Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Senat teilt diese der Klageabweisung zugrundeliegende Rechtsmeinung nicht. Ferner hat der Kläger im Berufungsverfahren seine Feierabendtätigkeit konkretisiert. Der Gerichtsbescheid war daher ebenso wie der Bescheid der Beklagten vom 06.09.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.06.2013 über die Ablehnung der Anerkennung einer BK-Nr. 2112 BKV aufzuheben. Die Bescheide sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten.

 

Die Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und auch ansonsten zulässig (§§ 143, 151 SGG). Statthafte Klageart im Hinblick auf die begehrte Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide und Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen der BK Nr. 2112 ist die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 i.V.m. § 55 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 SGG; so Bundesozialgericht <BSG> stRspr; Urteil vom 31. März 2022, B 2 U 13/20 R und Urteil vom 08.12.2021, B 2 U 4/21 R, beide juris m.w.N. und Keller, in: Meyer-Ladewig u.a., SGG 13. Aufl. 2020, § 54 RdNr.. 20b, § 55 Rn. 13c). Ein berechtigtes Interesse des Klägers an dieser Feststellung besteht, weil es die Vorfrage für die Entscheidung der Beklagten über die zukünftigen an den Kläger zu gewährenden Leistungen darstellt.

 

Der Kläger hat einen Anspruch auf Anerkennung der BK-Nr. 2112 BKV. Berufskrankheiten sind gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz begründenden Tätigkeit erleiden. Die Rechtsverordnung gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII ist die Berufskrankheitenverordnung einschließlich deren Anlage 1, in der die einzelnen Berufskrankheiten benannt sind.

 

Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist für die Feststellung einer Listen-BK erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen o. ä. auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) und diese Einwirkungen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Dabei müssen die „versicherte Tätigkeit“, die „Verrichtung“, die „Einwirkungen“ und die „Krankheit“ im Sinne des Vollbeweises – also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit (vgl. Urteil des BSG vom 17.12.2015, B 2 U 11/14 R; Urteil vom 23.04.2015, B 2 U 6/13 R, beide juris). Der Beweisgrad der hinreichenden Wahrscheinlichkeit ist erfüllt, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht (vgl. Urteil des BSG vom 15.05.2012, B 2 U 31/11 R, juris) und ernste Zweifel ausscheiden. Dass die berufsbedingte Erkrankung gegebenenfalls den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität), ist keine Voraussetzung einer Listen-BK, wohl aber für eine Leistung (Leistungsfall).

 

Der Verordnungsgeber hat die hier streitige BK-Nr. 2112 BKV wie folgt bezeichnet: "Gonarthrose durch eine Tätigkeit im Knien oder vergleichbare Kniebelastung mit einer kumulativen Einwirkungsdauer während des Arbeitslebens von mindestens 13.000 Stunden und einer Mindesteinwirkungsdauer von insgesamt einer Stunde pro Schicht." Damit hat der Verordnungsgeber arbeitsmedizinische und arbeitstechnische Voraussetzungen der Feststellung eine BK Nr. 2112 formuliert.

 

Das Vorliegen der arbeitsmedizinischen Voraussetzung der Berufskrankheit ist für den Senat auf der Basis der gutachterlichen Ausführungen des Gerichtsgutachters und des Beratungsarztes der Beklagten als Gonarthrose Grad II nach KELLGREN beiderseits mit Funktionseinschränkung am Kniegelenk mit Extension/Flexion 0/10/115 gesichert. Konkurrierende Ursachenhintergründe sind nicht festgestellt worden.

 

Es sind aber entgegen der Meinung der Beklagten auch die arbeitstechnischen Voraussetzungen nach BK-Nr. 2112 BKV im Sinne einer erforderlichen Exposition von 13.000 kniebelastenden Stunden und einer Mindesteinwirkungsdauer von insgesamt einer Stunde pro Schicht im Vollbeweis gesichert. Dies ergibt sich mit hinreichender Deutlichkeit aus den zwei im Berufungsverfahren vorgelegten Arbeitsplatzanalysen des Präventionsdienstes der Beklagten, die unter der Prämisse der Feierabendtätigkeit als grundsätzlich unfallversicherte Tätigkeit zu einem für den Kläger günstigen Ergebnis gekommen sind. Im Fall des Klägers sind die Ermittlungen des Präventionsdienstes zur Feststellung der beruflichen Kniebelastungen umfangreich und nach Einschätzung des Gerichts auch gewissenhaft durchgeführt worden. Der Präventionsdienst der Beklagten hat hierbei eine realistische Einschätzung der vorzunehmenden Belastungen für die Tätigkeiten des Klägers nach seinen Angaben zugrunde gelegt und in einer für das Gericht nachvollziehbaren Gesamtwertung ein „rechnerisches“ Ergebnis unter Einbeziehung der sogenannten Feierabendtätigkeiten in der ehemaligen DDR festgestellt. Dass insoweit grundsätzlich keine exakten Feststellungen der tatsächlichen kniebelastenden Tätigkeiten getroffen werden konnten, ist im Recht der Berufskrankheiten allgemein als Problem verankert. Denn es gibt keine Kataster über jeden einzelnen Beschäftigten bzw. über dessen Belastungen bei seiner versicherten Tätigkeit. Schädigende Einwirkungen aus den beruflichen Tätigkeiten müssen im Berufskrankheitenrecht regelmäßig über Jahrzehnte zurück durch die Präventionsdienste der Unfallversicherungsträger beurteilt werden, die hierbei zum Teil auf Kataster zu Belastungen bei verschiedenen Berufsbildern zurückgreifen und gesammelte Erfahrungswerte verwenden. Wesentliche Erkenntnisquellen sind dabei immer auch die persönlichen Angaben des betroffenen Arbeitnehmers. Nach der Erfahrung des Senats werden die arbeitstechnischen Beurteilungen von den Präventionsdiensten regelmäßig sehr „wohlwollend“, aber immer auch realistisch, durchgeführt. Der Senat hat keinerlei Veranlassung in dem vorliegenden Fall, in dem die Einschätzungen des Präventionsdienstes für den Kläger günstig sind, anderer Auffassung zu sein als in den vielen Fällen, in denen die Ermittlungen des Präventionsdienstes nicht für den Kläger sprechen, aber ebenso genau durchgeführt wurden. Bei allen Schwierigkeiten einer Belastungsberechnung in die Vergangenheit hinein, ist auch darauf hinzuweisen, dass der Gerichtsgutachter Dr. V.... für das Sozialgericht in seinem Gutachten auf der Grundlage der Angaben des Klägers eine Gesamtzahl kniebelastender Tätigkeiten von 12.630 Stunden ohne Berücksichtigung der Feierabendtätigkeit errechnete und der Präventionsdienst für die Feierabendtätigkeit unter Zugrundelegung der konkretisierten Angaben des Klägers für die Zeit vom 1981-1988 eine Exposition in Höhe von 2054 kniebelastenden Stunden feststellte, mithin also eine Exposition von 14.684 kniebelastenden Stunden vorliegt.

 

Ferner ist für den vorliegenden Fall der strittigen Feierabendtätigkeit zu bedenken, dass im Gegensatz der sonst üblichen Befragung der ehemaligen Arbeitgeber der Versicherten, eine Befragung einzelner Auftraggeber über Jahrzehnte hinweg nicht einfach zu bewerkstelligen war. Typischen damit verbundenen Beweisschwierigkeiten haben die Gerichte und schon im Vorfeld die Unfallversicherungsträger im Verwaltungsverfahren bei der Beweiswürdigung Rechnung zu tragen, ohne dass aber insgesamt geringere Anforderungen an den Beweis der betreffenden Tatsache gestellt werden dürfen oder dass das Beweismaß als solches (im Regelfall: an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit) reduziert ist (BSG stRspr. z.B. Urteil vom 17. 12. 2015, B 2 U 11/14 R, RdNr., juris mit Hinweis auf BSG, Urteil vom 31.01. 2012, B 2 U 2/11 R, RdNr. 30, juris). Bei dieser Art von „Beweiserleichterung“ handelt es sich nicht um ein eigenständiges Rechtsinstitut, sondern um eine Anwendung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Verwaltung bzw. das Gericht die Überzeugung von einem bestimmten Geschehensablauf trotz bestehender Zweifel gewinnen darf (vgl. BSG, Urteil vom 31. 01.2012, B 2 U 2/11 R, RdNr.30, juris; zum Ganzen: Keller in: Hauck/Noftz SGB VII, § 8 Arbeitsunfall, RdNr. 335) Auch die Schwierigkeit der Aufklärung viele Jahre zurückliegender Sachverhalte darf bei der Beweiswürdigung berücksichtigt werden (BSG, Urteil vom 02.12.2008, B 2 U 26/06 R, RdNr. 39, juris).

Übertragen auf den Fall ist festzustellen, dass der Kläger den Vollbeweis der verrichteten Tätigkeiten erbracht hat. Der Zeuge D.... als ehemaliger Kollege des Klägers und der Zeuge F.... als Bürgermeister der Stadt S.... haben dazu nachvollziehbarer Äußerungen gemacht. Der Zeuge F.... hat die Arbeiten des Klägers im öffentlichen Bereich der Gemeinde T.... mit eigenen Recherchen dargelegt. Der Zeuge D.... konnte Angaben zum konkreten zeitlichen Umfang der Arbeiten des Klägers, mit dem er auch für private Hauseigentümer zusammengearbeitet hat, machen. Das Gesamtbild wurde auch durch die Angaben des Klägers selbst für den Senat nachvollziehbar gemacht. Insbesondere ist auch klar geworden, warum die Arbeiten in der Feierabendtätigkeit nicht in das Sozialversicherungsnachweisbuch des Klägers Eingang fanden. Erstens wurde dieser Eintrag nicht einmal durch die Gemeinde als Auftraggeber veranlasst und zweitens war der Kläger ja unfallversichert und ist auch wegen bei der Feierabendtätigkeit erlittener Arbeitsunfälle behandelt worden. Nach der in der DDR gültigen Anordnung über die Vergütung von Feierabendarbeit in den Betrieben, staatlichen Organen und Einrichtungen vom 23.10.1967unterlag die Vergütung der Feierabendarbeit nicht der Beitragspflicht zur Sozialversicherung. Zur Deckung der sich aus dem erweiterten Unfallversicherungsschutz ergebenden Leistungen der Sozialversicherung hatten die Betriebe aber einen Umlagebetrag zur Sozialversicherung in Höhe von 10 % der gesetzlichen Vergütung der Feierabendarbeit zu zahlen (LSG Saarland, Urteil vom 16.03.2005, L 2 U 101/98, RdNr. 27, juris). Die Tatsache, dass der Kläger bei seiner Erstbefragung gegenüber der Beklagten nichts von der Feierabendtätigkeit erwähnt hat, erscheint für den Senat angesichts der Befragung und dem Gesamtzusammenhang mit Arbeitsstellen bei Firmen als Arbeitgeber nachvollziehbar. Im Übrigen hätte es der Beklagte oblegen, den Kläger nach einer solchen Tätigkeit zu fragen, da ihr ja – wie sie im Berufungsverfahren ausführte, die rechtlichen Regelung der Feierabendtätigkeit in der ehemaligen DDR klar gewesen war.

Dass der Kläger während seiner Tätigkeit unfallversichert war, ergibt sich für den Senat ebenso wie für das LSG Saarland aus der gesetzlichen und wirtschaftspolitischen Realität in der ehemaligen DDR. Nach § 1 Abs. 1 der Verordnung über die Erweiterung des Versicherungsschutzes bei Unfällen in Ausübung gesellschaftlicher, kultureller oder sportlicher Tätigkeiten (Gesetzblatt der DDR Teil I Nr. 22, Seite 199) erhielten diejenigen, die bei Tätigkeiten für die volkswirtschaftlichen Masseninitiative (VMI) verunfallt waren, Leistungen wie bei einem Arbeitsunfall. Im Rahmen der VMI wurde Arbeitseinsätze in den Kommunen oder von der LPG organisiert. Nach § 10 der Anordnung über die Vergütung von Feierabendarbeit vom 23.10.1967 (Gesetzblatt der DDR-Teil II Nr. 106, Seite 746) i.V.m. der Anordnung Nr. 4 zur Verordnung über die Erweiterung des Versicherungsschutzes bei Unfällen vom 19.09.1962 (Gesetzblatt der DDR-Teil II Nr. 79, Seite 487) bestand Unfallversicherungsschutz bei Arbeiten für Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften, gemeinnützige Wohnungsbaugenossenschaften und bei staatlich gefördertem Bau von Eigenheimen. Aus allem ergibt sich, dass die gelebte und politisch – auch beim privaten Eigenheimbau – gewollte Feierabendarbeit nach den gesetzlichen Regelungen der DDR tatsächlich und rechtlich unfallversichert gewesen ist.

 

Zusammenfassen kann keine Rede davon sein, dass der Kläger den Vollbeweise einer versicherten Verrichtung und das Vorliegen kniebelastender Tätigkeiten oder arbeitsmedizinischer Voraussetzungen nicht geführt hätte. Die Grundsätze der objektiven Beweislast (Feststellungslast) greifen nämlich erst ein, wenn der Tatrichter keine Überzeugung von der Wahrheit oder Unwahrheit einer streitigen und entscheidungserheblichen Tatsachenbehauptung gewinnen kann – "non liquet" – (BSG-Urteil vom 17.12.2015, B 2 U 11/14, RdNr. 30, juris). Das ist hier aber nicht der Fall.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Gründe für eine Revisionszulassung sind für den Senat nicht ersichtlich (vgl. § 160 Abs. 2 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
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