L 5 KG 2/20

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Kassel (HES)
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 11 KG 4/20
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 KG 2/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Von einer subjektiven Kenntnis vom Aufenthaltsort der Eltern oder des noch lebenden Elternteils des Kindergeld beanspruchenden Kindes i.S.v. § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BKGG kann je nach den Umständen des Einzelfalls ausgegangen werden, wenn der Aufenthaltsort positiv bekannt war und sich keine Anhaltspunkte für eine Änderung desselben ergeben.

2. Aufenthalt i.S.v. § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BKGG ist im rein körperlichen Sinne zu verstehen und setzt nicht zwingend einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt voraus.

3. Eine missbräuchliche Unkenntnis vom Aufenthaltsort kann im Einzelfall bei fehlender möglicher Nachfrage bestehen.
 

I.    Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Kassel vom 10. September 2020 aufgehoben und die Klage abgewiesen. 

II.    Die Beteiligten haben einander für beide Instanzen keine Kosten zu erstatten.

III.    Die Revision wird nicht zugelassen.


Tatbestand

Im Streit zwischen den Beteiligten steht der Anspruch des Klägers auf Kindergeld für sich selbst für die Zeit ab 1. Dezember 2019. 

Der in Kabul geborene Kläger ist afghanischer Staatsbürger. Er reiste am 16. Dezember 2015 ohne seine Eltern in die Bundesrepublik Deutschland ein. Während in der amtlichen Meldebescheinigung der Stadt A-Stadt vom 22. Mai 2018 sowie im Ausbildungsvertrag zunächst das Geburtsdatum des Klägers mit 1996 angegeben war, lässt sich aus der Duldung, ausgestellt durch den Werra-Meißner-Kreis am 16. August 2018, ersehen, dass das dort ursprünglich ebenfalls mit 1996 angegebene Geburtsdatum auf 1998 amtlich korrigiert wurde. Auch dem durch das Generalkonsulat von Afghanistan in Bonn ausgestellten Ausweisdokument vom 25. Juni 2019 lässt sich das Geburtsdatum 1998 entnehmen. Der Kläger selbst hat gegenüber der Beklagten sein Geburtsdatum immer mit 1998 angegeben. 

Nach Auskunft des Landrates des Werra-Meißner-Kreises vom 30. Januar 2020 erhielt der Kläger für den Zeitraum vom 21. November 2016 bis 15. August 2018 eine Aufenthaltsgestattung gem. § 63 Asylgesetz (AsylG) und vom 16. August 2018 bis 14. Mai 2020 eine Duldung zum Zwecke der Ausbildung nach § 60a Abs. 2, 3 AsylG (wohl: Aufenthaltsgesetz <AufenthG>). Diese Duldung zum Zwecke der Ausbildung wurde über den 14. Mai 2020 hinaus verlängert bis zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Erwerbstätigkeit am 7. April 2021, deren Gültigkeit sich bis zum 6. April 2023 erstreckt. 

Der Kläger absolvierte vom 15. Mai 2018 bis 14. Mai 2020 eine erstmalige Ausbildung zur Fachkraft im Gastgewerbe, die bis zum 31. Januar 2021 verlängert wurde. Ausweislich des Abschlusszeugnisses vom 22. Januar 2021 schloss der Kläger die Ausbildung erfolgreich ab. 

Nachdem die Beklagte zunächst einen Antrag des Klägers auf Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz (EStG) mit Bescheid vom 9. Dezember 2019 abgelehnt hatte, da ein Anspruch auf Kindergeld für das Kind selbst hiernach nicht vorgesehen sei, beantragte der Kläger am 30. Dezember 2019 die Gewährung von Kindergeld für Vollwaisen oder Kinder, die den Aufenthaltsort ihrer Eltern nicht kennen (Kindergeld für sich selbst). Im Rahmen der Antragstellung gab er die Namen seiner Eltern an, die Geburtsdaten ließ er offen. Ihre letzte bekannte Anschrift stamme aus dem Jahr 2015. Im Juli 2015 habe er sowohl zu seinem Vater als auch zu seiner Mutter letztmals persönlichen Kontakt gehabt. Den Todestag seines Vaters gab er mit „2015“ an. Weiter gab er an, dass kein Aufgebotsverfahren zum Zwecke der Todeserklärung oder ein Aufgebot nach dem Verschollenheitsgesetz (VerschG) durchgeführt worden sei. Er habe keine Behörde zur Feststellung des Aufenthalts eingeschaltet. Seine Flucht aus Afghanistan habe zur Trennung von den Eltern geführt. 

Mit Bescheid vom 5. Februar 2020 lehnte die Beklagte die Gewährung von Kindergeld an den Kläger ab dem Monat Mai 2019 ab. Es seien keine Bemühungen oder Bemühungen anderer Personen dargelegt worden, den Aufenthalt der Eltern zu ermitteln. 

Mit Schreiben vom 20. Februar 2020 erhob der Kläger hiergegen Widerspruch. Zur Begründung führte er aus, dass er vor seiner Flucht aus Afghanistan in der Provinz Kabul, Distrikt Paghman, im Dorf C-Stadt bis Juli 2015 mit seinen Eltern gelebt habe. Die Taliban hätten seinen Vater, der Polizeibeamter und Fahrer des örtlichen Polizeikommandanten gewesen sei, ermordet. Sie hätten Drohbriefe geschickt und nach ihm gesucht, um ihn zu rekrutieren, weswegen er das Land verlassen habe, um sein Leben zu retten. Auch seine Mutter habe das Dorf verlassen und sei zu ihrem Bruder nach Kabul, D-Straße, D-Stadt, gezogen. Eine Bescheinigung hierüber könne er nicht vorlegen. Eine solche könne auch seine Mutter nicht beschaffen, da ihre Stellung ihr einen alleinigen Behördenbesuch verbiete. Mit ihr habe er nur sehr selten die Möglichkeit eines telefonischen Kontakts. Da Familienangehörige von Geflüchteten von den Taliban bedroht würden, würde sie ihm ihren wahren Aufenthaltsort nicht nennen. Hierüber werde auch nicht gesprochen. Die Durchführung eines Aufgebotsverfahrens sei unverhältnismäßig. 

Durch Widerspruchsbescheid vom 19. März 2020 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Der Kläger stehe einem Vollwaisen nicht gleich. Der Umstand, dass sich die Eltern im Ausland aufhielten, ohne dass eine konkrete Adresse bekannt sei, die aber bei bestehenden Telefonkontakten durchaus erfragt werden könne, sei mit der Unkenntnis des Kindes vom Aufenthalt seiner Eltern bzw. des überlebenden Elternteils nicht gleichzusetzen. Bei gebotener enger Auslegung des Gesetzes unter Berücksichtigung des Sinn und Zwecks der Regelung für Vollwaisen sei der Kläger vorliegend nicht anspruchsberechtigt. 

Hiergegen hat der Kläger am 20. April 2020 Klage bei dem Sozialgericht Kassel erhoben. Ergänzend zu seinem bisherigen Vorbringen hat er im Wesentlichen vorgetragen, dass es ihm nicht möglich sei, die Behörden in einem Land, das von Krieg und Terror überzogen sei, um Übersendung schriftlicher Unterlagen zu ersuchen. Es würden unverhältnismäßig hohe Hürden aufgebaut und ohne Ausübung von Ermessen durch die Beklagte entschieden. 

In der mündlichen Verhandlung am 20. August 2020 hat der Kläger weiter ausgeführt, dass er Afghanistan ohne weitere Familienangehörige verlassen habe. Seit seiner Ankunft in Deutschland habe er nur selten telefonischen Kontakt zu seiner Mutter gehabt, ca. alle zwei bis drei Monate. Seine Mutter würde ihn anrufen. Der Versuch, ihre Nummer anzurufen, gelänge nicht. Zu ihrem Aufenthaltsort sage seine Mutter am Telefon nichts. Er wisse nur, dass sie sich wohl noch in Kabul aufhalte, nicht aber, ob sie sich noch an der bekannten Anschrift aufhalte, von wo aus er seine Flucht begonnen habe. Alle Versuche der Kontaktaufnahme – auch über das Internet – seien fehlgeschlagen. 

Die Beklagte hat im Wesentlichen auf ihre Ausführungen im Widerspruchsbescheid verwiesen. Der Kläger habe keine Gründe dafür vorgetragen, warum sich der Aufenthaltsort seiner Mutter verändert haben könnte. Es sei klar, dass die Mutter des Klägers einen bekannten, unveränderten Aufenthaltsort in den Telefonaten nicht immer von Neuem mitteile. Der Kläger habe in der Widerspruchsbegründung angegeben, dass sich seine Wege von denen seiner Mutter im Heimatdorf trennten, als er sich auf die Flucht begeben habe. Der Kläger müsse sich fragen lassen, woher ihm die bereits genannte Adresse seiner Mutter bekannt gewesen sei, wenn nicht aus Telefonaten mit seiner Mutter. Eine Unkenntnis vom Aufenthaltsort der Mutter liege folglich nicht vor. Hilfsweise hat die Beklagte vorgetragen, dass die Angaben des Klägers erhebliche Diskrepanzen aufwiesen, und der Wahrheitsgehalt seiner Angaben in Zweifel zu ziehen sei. Es scheine sich um eine Schutzbehauptung bei Antragstellern auf Kindergeld mit Fluchthintergrund zu handeln, dass Angst vor Repressalien bestehe und deshalb der Aufenthaltsort nicht genannt werden könne. Wenn ein Verschweigen des Aufenthaltsorts gegenüber dem Kind aus Angst vor Repressalien der Obrigkeit erfolgen würde, rechneten die Eltern damit, dass das Kind die Eltern an die Obrigkeit oder die Taliban verraten würde, was wohl kaum der Fall sein dürfte. Überdies würden die Repressalien – wenn überhaupt – wegen des Kontaktes an sich drohen und nicht wegen eines bestimmten Informationsgehaltes. Insoweit gehe das Argument fehl, da seit fünf Jahren regelmäßiger Kontakt des Klägers mit seiner Mutter bestehe. Es sei nicht glaubhaft, dass die Frage nach dem Aufenthaltsort nicht beantwortet werden würde. Deshalb sei davon auszugehen, dass selbst bei Unkenntnis des Aufenthaltsorts dieser im telefonischen Kontakt erfragbar sei. Schließlich sei es selbst bei einer unterstellten Weigerung der Mutter, ihren Aufenthaltsort mitzuteilen, nicht sachgerecht, dass dies zur Behandlung des Klägers als Vollwaise führe. Durch diese Weigerung würde die ursprüngliche Intention der Begünstigung eines eng begrenzten Personenkreises allein durch das negative Handeln Dritter ad absurdum geführt. Weiterhin höchst hilfsweise könne aufgrund des aufenthaltsrechtlichen Titels des Klägers und einer entsprechenden Gesetzesänderung im Bundeskindergeldgesetz (BKGG) kein Anspruch vor dem 1. Januar 2020 bestehen. 

Durch Gerichtsbescheid vom 10. September 2020 hat das Sozialgericht die Beklagte unter Aufhebung der streitbefangenen Bescheide verurteilt, dem Kläger ab Dezember 2019 Kindergeld in gesetzlichem Umfang zu gewähren. Die erkennende Kammer gehe davon aus, dass der Vater des Klägers verstorben und dem Kläger der Aufenthaltsort seiner Mutter unbekannt sei. Zwar werde der Kläger von seiner Mutter angerufen, könne aber nicht selber Kontakt mit ihr aufnehmen. Er habe seit drei Monaten vor der mündlichen Verhandlung am 20. August 2020 nichts mehr von seiner Mutter gehört. An welchem Ort sich seine Mutter aufhalte, ob noch in Kabul oder an einem anderen Ort in Afghanistan oder gar außerhalb von Afghanistan, sei für den Kläger nach dessen Bekunden nicht zu ermitteln. Trotz des telefonischen Kontakts könne der Kläger nicht ohne weiteres den Aufenthaltsort seiner Mutter erfragen. Dass die Mutter in den Telefonaten mit dem Kläger ihren Aufenthalt nicht preisgebe, sei aufgrund der Ermordung des Vaters des Klägers und der fortgesetzten Bedrohung durch die Taliban nachvollziehbar. Die Anrufe ließen lediglich den Schluss zu, dass die Mutter des Klägers noch am Leben sei. Dass der Kläger den Aufenthalt seiner Mutter nicht über Dritte oder (vermutlich) noch in Afghanistan lebende Verwandte ermittelt habe, sei ihm nicht im Sinne eines rechtsmissbräuchlichen Nichtkennens vorzuwerfen. Die Angaben seien aufgrund des Eindrucks, den sich die Kammer von dem Kläger in der mündlichen Verhandlung verschafft habe, glaubhaft. Dass eine Ermittlung des Aufenthaltsortes der Mutter nicht möglich sei, habe auch der ehrenamtliche Flüchtlingsbetreuer, der den Kläger in der mündlichen Verhandlung begleitet habe, bestätigt. Wie dem Gericht aus Parallelverfahren bekannt sei, würden Anfragen z.B. beim Suchdienst des Roten Kreuzes zur Ermittlung des Aufenthaltsorts der Eltern bzw. des Elternteils zwecks Durchsetzung von Kindergeldansprüchen ausdrücklich mit dem Hinweis zurückgewiesen, für solche Anfragen stehe der DRK-Suchdienst nicht zur Verfügung. Daher bestehe ab Dezember 2019 für die Dauer der Ausbildung zumindest noch im 2. Halbjahr 2020 ein Anspruch auf Kindergeld. 

Gegen den ihr am 14. September 2020 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Beklagte am 17. September 2020 Berufung bei dem Hessischen Landessozialgericht eingelegt. 

Sie wiederholt im Wesentlichen ihr bisheriges Vorbringen. Der Kläger habe in seiner Widerspruchs- und seiner Klagebegründung eine Anschrift seiner Mutter in Kabul angegeben, so dass ihm der Aufenthaltsort seiner Mutter bekannt sei. Es sei kein Vortrag dahingehend erfolgt, weswegen sich der Aufenthaltsort seiner Mutter geändert haben könnte. Es komme nicht auf die Unmöglichkeit gegenseitiger Kontaktaufnahme, sondern auf die Unkenntnis des Aufenthaltsortes an. Es seien strengste Maßstäbe an die Glaubhaftmachung der Nichtkenntnis des Aufenthalts der Eltern anzulegen und es dürften keinerlei ernstliche Zweifel an dieser mehr bestehen (Verweis auf Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 7. Mai 2021, S 12 KG 2/18). Derjenige, der Kindergeld begehre, müsse die in seiner Lebenssphäre liegenden günstigen Umstände für seine Unkenntnis vom tatsächlichen Aufenthaltsort der Eltern darlegen und beweisen. Des Weiteren müsse er auch objektive Anhaltspunkte gehabt haben, dass sich seine Eltern nicht mehr an dem ihm zuletzt bekannten Ort aufhielten (sinngemäß LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 22. Juli 2022, L 2 KG 1/21). Eine Unkenntnis des Klägers einer konkreten Adresse, die durch einen entsprechenden Kontakt mit den Eltern ermittelt werden könne, sei mit der Unkenntnis des Kindes vom Aufenthalt der Eltern nicht gleichzusetzen. Vom Kind seien die möglichen Anstrengungen zu unternehmen, um den konkreten Aufenthaltsort der Eltern in Erfahrung zu bringen, etwa durch Anfragen an weitere Personen oder an behördliche Stellen oder private Organisationen. Würden diese Anstrengungen unterlassen, bestehe kein Kindergeldanspruch. Überdies stelle die Zahlung von Kindergeld an sich selbst eine eng umgrenzte Ausnahmevorschrift dar, denn grundsätzlich sei das Kindergeld eine Leistung, die den Personen zustehe, die mit dem Unterhalt von Kindern belastet seien. Aus der Entstehungsgeschichte der Norm sei ersichtlich, dass mit der gesetzlichen Regelung kein Anspruch auf Kindergeld für sich selbst für den Fall geschaffen werden sollte, dass die Eltern aufgrund eines ständigen Auslandsaufenthalts keinen Kindergeldanspruch hätten oder dem Kind keinen Unterhalt leisten könnten. Vielmehr hätten Kinder erfasst werden sollen, die mangels Kontakt nicht wüssten, wo ihre Eltern sich aufhielten, und letztlich nicht wissen könnten, ob sie noch am Leben seien und jemals die Elternstelle wieder einnehmen könnten. Nur dadurch sei die Gleichstellung mit den Vollwaisen erklärbar. Überdies habe das Sozialgericht nicht berücksichtigt, dass ein Anspruch wegen der befristeten Ausbildungsduldung frühestens am 1. Januar 2020 bestehen könne. 

Die Beklagte beantragt, 

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Kassel vom 10. September 2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen. 

Der Kläger beantragt, 

die Berufung zurückzuweisen. 

Er verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung. Insbesondere habe das Sozialgericht zutreffend darauf abgestellt, dass seiner Mutter durch die Kontaktaufnahme bzw. Erfragung ihres tatsächlichen Aufenthaltsorts in Afghanistan durch die Taliban Lebensgefahr drohe. Ergänzend hat er eine Anfrage an den DRK-Suchdienst vom 1. Juni 2021 sowie das Antwortschreiben des DRK vom 15. Juni 2021 vorgelegt. Hierin wird ihm mitgeteilt, dass davon ausgegangen werde, dass er von der Familienkasse die Aufforderung erhalten habe, sich an den Suchdienst des DRK zu wenden, und auf dieser Grundlage keine Unterstützung bei der Suche gewährt werden könne. 

In der mündlichen Verhandlung am 21. November 2022 ist der Kläger informatorisch befragt worden. Auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 21. November 2022 wird insoweit Bezug genommen.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird Bezug genommen auf die gewechselten Schriftsätze sowie auf den Inhalt der den Kläger betreffenden Verwaltungsakte, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.


Entscheidungsgründe

Die Berufung (§ 143, § 144 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) der Beklagten ist statthaft. Das Sozialgericht hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger Kindergeld für sich selbst ab Dezember 2019 in gesetzlichem Umfang zu gewähren. Ausgehend von einer monatlichen Höhe des Kindergeldes im maßgeblichen Zeitraum von 204,00 € (§ 6 Abs. 2 BKGG in der Fassung des Gesetzes zur steuerlichen Entlastung der Familien sowie zur Anpassung weiterer steuerlicher Regelungen <Familienentlastungsgesetz – FamEntlastG> vom 29. November 2018; ab 1. Januar 2021: 219,00 € <2. FamEntlastG vom 1. Dezember 2020>) überschreitet die Beschwer der Beklagten bereits im Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung (Gerichtsbescheid vom 10. September 2020) die Berufungssumme von 750,00 €. 

Die Berufung ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere ist sie form- und fristgerecht gemäß § 151 Abs. 1 SGG eingelegt worden. Sie hat auch in der Sache Erfolg. 

Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Kassel vom 10. September 2020 kann keinen Bestand haben. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Kindergeld für sich selbst. Der dies ablehnende Bescheid der Beklagten vom 5. Februar 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. März 2020 (§ 95 SGG) ist rechtmäßig und beschwert den Kläger nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 SGG

Da einzig die Beklagte Berufung gegen den Gerichtsbescheid vom 10. September 2020 eingelegt hat, ist Gegenstand der Berufung der Anspruch des Klägers auf Kindergeld für sich selbst ab Dezember 2019. Nicht streitgegenständlich dagegen ist die Frage, ob ein früherer Anspruch des Klägers bestand, denn der Kläger hat seinerseits gegen die erstinstanzliche Entscheidung keine Berufung eingelegt. Den Anspruch auf Kindergeld für sich selbst hat der Kläger zutreffend mit einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1, Abs. 4 SGG) geltend gemacht.

Entgegen der Entscheidung des Sozialgerichts kommt vorliegend überhaupt nur ein Anspruch des Klägers ab 1. Januar 2020 in Betracht. Aufgrund § 20 Abs. 10 BKGG in der Fassung von Art. 34 des Gesetzes zur weiteren steuerlichen Förderung der Elektromobilität und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 12. Dezember 2019 (BGBl. I, 2451; ab 1. März 2020 § 20 Abs. 13 BKGG, siehe Gesetz für den erleichterten Zugang zu sozialer Sicherung und zum Einsatz und zur Absicherung sozialer Dienstleister aufgrund des Coronavirus SARS-CoV-2 <Sozialschutz-Paket> vom 27. März 2020, BGBl. I, 575) ist § 1 Abs. 3 BKGG in der Fassung von Art. 33 des Gesetzes zur weiteren steuerlichen Förderung der Elektromobilität und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 12. Dezember 2019 (BGBl. I, 2451) mit Wirkung vom 1. Januar 2020 für Entscheidungen anzuwenden, die Zeiträume betreffen, die nach dem 31. Dezember 2019 beginnen. Erst durch diese Änderung von § 1 Abs. 3 BKGG – insbesondere die Einfügung von Nr. 4 (ab 1. März 2020 Nr. 5) – wurde die Anspruchsberechtigung nichtfreizügigkeitsberechtiger Ausländer, die eine Beschäftigungsduldung gemäß § 60d i.V.m. § 60a Absatz 2 Satz 3 des AufenthG besitzen, - wie der Kläger - in das BKGG eingefügt. 

Im Übrigen ist ein etwaiger Anspruch des Klägers durch § 1 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2a, § 5 Abs. 1, 2. Halbsatz BKGG bis zum Ende des Monats, in dem der Kläger seine Berufsausbildung beendet hat, also Januar 2021, beschränkt. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Kläger das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet. Denn zur Überzeugung des Senats ist von einem Geburtsdatum des Klägers 1998 - und nicht 1996 - auszugehen. Dies ergibt sich nicht nur aus seinem durch das Afghanische Generalkonsulat am 25. Juni 2019 ausgestellten Pass, sondern ebenso aus der amtlichen Berichtigung der am 16. August 2018 ausgestellten Duldung des Werra-Meißner-Kreises. Damit vollendete der Kläger 2019 das 22. Lebensjahr, 2020 das 23. Lebensjahr (§ 26 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch <SGB X> i.V.m. § 187 Abs. 2 Satz 2, § 188 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch <BGB>).

Für den maßgeblichen Zeitraum vom 1. Januar 2020 bis 31. Januar 2021 liegen jedoch die Voraussetzungen von § 1 Abs. 2 Satz 1 BKGG nicht vor. 

Kindergeld für sich selbst erhält gemäß § 1 Abs. 2 Satz 1 BKGG in der Fassung der Neufassung des Bundeskindergeldgesetzes vom 6. Februar 2009 (BGBl. I, 142), wer
1.    in Deutschland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat,
2.    Vollwaise ist oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt und
3.    nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen ist.

Zwar hat der Kläger seinen Wohnsitz seit seiner Einreise in die Bundesrepublik am 16. Dezember 2015 in Deutschland und war nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen (vgl. §§ 62, 63 EStG; §§ 1 Abs. 1, 2 BKGG). Er ist jedoch keine Vollwaise und der Aufenthalt seiner Eltern ist ihm auch nicht im Sinne von § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BKGG unbekannt. 

Der Kläger gibt an, sein Vater sei 2015 von den Taliban ermordet worden. Dagegen ist die Mutter des Klägers nach seinen Angaben weder verstorben noch verschollen, so dass der Kläger folglich keine Vollwaise ist. 

Dem Kläger ist der Aufenthalt seiner Mutter nicht im Sinne von § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BKGG unbekannt. 

§ 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BKGG ist nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung erkennbar subjektiv ausgerichtet und stellt auf die Nichtkenntnis des das Kindergeld beanspruchenden Kindes ab (vgl. BSG, Urteil vom 8. April 1992, 10 RKg 12/91 = SozR 3-5870 § 1 Nr. 1, juris Rdnr. 17). In Ermangelung sonstiger näherer Anhaltspunkte bleibt für die Auslegung der Formulierung "den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt" allein der Wortlaut maßgebend. Im Gegensatz zu den Formulierungen der Vorschriften über die öffentliche Zustellung (vgl. u.a. § 185 Zivilprozessordnung <ZPO>, § 15 Verwaltungszustellungsgesetz <VwZG>) oder die Vertreterbestellung bzw. die Abwesenheitspflegschaft (vgl. u.a. § 15 Abs. 1 SGB X, § 1911 BGB), die jeweils voraussetzen, dass "der Aufenthalt ... unbekannt ist", und somit darauf abstellen, dass der Aufenthalt von niemandem, weder dem Antragsteller noch der Behörde, zu ermitteln ist und damit einen objektiven Maßstab anlegen, stellt demgegenüber § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BKGG auf den subjektiven Maßstab der Nichtkenntnis des das Kindergeld beanspruchenden Kindes ab (vgl. BSG, a.a.O.). 

Hintergrund der Regelung des § 1 Abs. 2 Satz 1 BKGG ist, dass grundsätzlich nach dem Kindergeldrecht Zahlungen nicht den Kindern selbst, sondern den Eltern und solchen Personen, die elternähnlich mit dem Unterhalt von Kindern belastet sind, geleistet werden. Nachdem mehrere Fälle, in denen alleinstehenden Vollwaisen nach dem Tod der Eltern lediglich Kindergeld für ihre jüngeren Geschwister gewährt wurde, den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages beschäftigt hatten, räumte das 11. Gesetz zur Änderung des BKGG vom 27. Juni 1985 (BGBl. I, 1251) mit Wirkung vom 1. Januar 1986 diesem Personenkreis eine Anspruchsberechtigung für die eigene Person ein (vgl. die Berichte des BT-Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit vom 5. Dezember 1984 zum 10. Änderungsgesetz - BT-Drucks. 10/2563 S. 3 und vom 21. Mai 1985 zum 11. Änderungsgesetz - BT-Drucks. 10/3369 S. 11). Die neu eingefügten Vorschriften begünstigen jedoch nicht nur Kinder, die bei ihren Geschwistern quasi-elterliche Funktionen wahrnehmen, sondern vielmehr allgemein "alleinstehende Kinder" (so die Bezeichnung des Kreises der Anspruchsberechtigten nach § 1 Abs. 2 Nr. 2 BKGG in § 14 BKGG); die Gesetzgebungsmaterialien sprechen insoweit von Kindern, "bei denen nach dem Tode oder der Verschollenheit ihrer Eltern niemand die Elternstelle im Sinne des Kindergeldrechts eingenommen hat" (BT-Drucks. 10/3369 S. 11). Aus den Gesetzesmaterialien geht hervor, dass der Gesetzgeber unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des Kindergeldes und von gesetzessystematischen Bedenken eine eng begrenzte Ausnahmeregelung unter Härtegesichtspunkten schaffen und Kindergeld für sich selbst nur einem entsprechend eng begrenzten Personenkreis zukommen lassen wollte. Dass eine solche eng begrenzte Ausnahmeregelung auch zu einem Ausschluss von Personen führt, die die Voraussetzungen des entsprechend eng gefassten Personenkreises nicht erfüllen, ergibt sich bereits aus systematischen Überlegungen. Insbesondere nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 BKGG (in der zum Zeitpunkt des Gesetzgebungsverfahrens geltenden Fassung) kann im Falle eines beiderseitigen Auslandsaufenthaltes der Eltern (oder eines Auslandsaufenthaltes des allein noch lebenden Elternteils) an im Inland wohnende oder sich gewöhnlich aufhaltende Kinder in Anwendung von § 1 Abs. 2 Nr. 2 BKGG (ab 1. Januar 1996: Abs. 2 Satz 1 Nr. 2) kein Kindergeld gezahlt werden. Dementsprechend wollte der Gesetzgeber den engen Anwendungsbereich der aus Härtegesichtspunkten geschaffenen Ausnahmeregelung nicht auch auf den bloßen Auslandswohnsitz bzw. gewöhnlichen Auslandsaufenthalt der Eltern ausdehnen (vgl. Hessisches LSG, Urteil vom 25. Juni 2014, L 6 KG 3/11, juris Rdnr. 21). 

Vorliegend steht - nach der insbesondere in der mündlichen Verhandlung vom 21. November 2022 gewonnenen Überzeugung - für den Senat fest, dass der Kläger im maßgeblichen Zeitraum vom 1. Januar 2020 bis 31. Januar 2021 den Aufenthaltsort seiner Mutter kannte. Dieser Überzeugung liegt zugrunde, dass der Kläger im Zeitpunkt seiner Flucht aus Afghanistan 2015 positive Kenntnis vom Aufenthaltsort seiner Mutter hatte und keine objektiven Anhaltspunkte dafür gegeben sind, dass seine Mutter ihren Aufenthaltsort im streitbefangenen Zeitraum geändert haben könnte. So hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung am 21. November 2022 geschildert, dass er und seine Mutter von seinem Onkel nach der Ermordung seines Vaters aus dem Dorf, in dem seine Familie gewohnt hat, abgeholt und zu seinem Onkel nach Kabul gebracht worden seien. Während er von dort die Flucht angetreten habe, sei seine Mutter bei seinem Onkel geblieben. Dies stimmt auch mit den Angaben des Klägers in der Widerspruchsbegründung vom 22. Februar 2020 und in der Klagebegründung vom 9. Mai 2020 überein, wonach die Mutter des Klägers im Juli 2015 zu ihrem Bruder S. nach Kabul gezogen und fortan unter der Anschrift Kabul, D-Straße, D-Stadt wohnhaft gewesen sei. Auch bestand nach seiner Flucht nach Deutschland weiterhin etwa alle zwei bis drei Monate telefonischer Kontakt zu seiner Mutter, zuletzt Ende Mai 2020. Während der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht am 20. August 2020 angegeben hatte, seine Mutter würde nichts über ihren Aufenthaltsort sagen, führte er in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht aus, dass seine Mutter ihm zu Beginn mitgeteilt habe, dass sie noch bei ihrem Bruder sei, er sie später hiernach aber nicht mehr gefragt habe. Es ergeben sich hieraus keine Anhaltspunkte dafür, dass sich die Mutter des Klägers im streitbefangenen Zeitraum nicht mehr an dem zuletzt bekannten Aufenthaltsort bei dem Onkel des Klägers in Kabul aufhielt. Vielmehr spricht alles dafür, dass sie ihren Aufenthaltsort beibehalten hat. Denn bei einem Beibehalten des Aufenthaltsorts besteht keine Veranlassung, bei jedem Kontakt diesen Aufenthaltsort erneut zu bestätigen. Lediglich im Falle einer Aufenthaltsveränderung bestünde Mitteilungsbedarf über einen derart wesentlichen Umstand, gegebenenfalls aus Sicherheitsaspekten auch ohne Nennung der konkreten neuen Anschrift. Eine solche Mitteilung ist seitens der Mutter des Klägers offensichtlich jedoch jedenfalls bis Mai 2020 zu keinem Zeitpunkt erfolgt. Auch der insoweit für die in seiner Lebenssphäre liegenden günstigen Umstände darlegungs- und beweispflichtige Kläger (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 22. Juli 2022, L 2 KG 1/21, juris Rdnr. 36) hat weder vorgetragen, woraus er schließt, dass sich seine Mutter im maßgeblichen Zeitraum - also auch über Mai 2020 hinaus - nicht mehr unter der angegebenen Anschrift in Kabul bei seinem Onkel aufhielt, noch wohin sie verzogen sein könnte. Soweit das erstinstanzliche Gericht in seiner Urteilsbegründung ausführt, der Kläger habe angegeben, dass nicht ermittelbar sei, an welchem Ort sich seine Mutter aufhalte - ob noch in Kabul oder an einem anderen Ort in Afghanistan oder gar außerhalb von Afghanistan -, ergibt sich dies aus den Angaben des Klägers in dieser Weise nicht. Zwar hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung am 20. August 2020 bei dem Sozialgericht zu Protokoll gegeben, dass er nicht wisse, ob sich seine Mutter noch unter der Anschrift aufhalte, von der er seine Flucht angetreten habe. Weiter hat er aber ausgeführt, dass er deswegen nur wisse, dass sich seine Mutter wohl noch in Kabul aufhalte. In der mündlichen Verhandlung des erkennenden Senats am 21. November 2022 hat der Kläger schließlich selbst angegeben, dass er nicht wisse, dass seine Mutter ihren Aufenthaltsort verlassen habe und dass auch keine Anhaltspunkte für ein Verlassen vorlägen. Der bloße Zeitablauf führt im vorliegenden Fall, der keine Anhaltspunkte für eine Aufenthaltsänderung der Mutter des Klägers bietet - insbesondere wegen des überdauernden telefonischen Kontakts - nicht zum Wegfall der Kenntnis des Aufenthalts. 

Dass der Telefonkontakt nur einseitig durch die Mutter des Klägers möglich war und der Kläger seine Mutter nicht eigenständig anrufen konnte, ist ebenso unerheblich wie die Tatsache, dass es nach den Angaben des Klägers nicht möglich gewesen sei, mit den ihm bekannten Kontaktdaten seine Mutter postalisch unter der Anschrift Kabul, D-Straße, D-Stadt zu erreichen, weil generell in den dortigen Ortschaften weder Straßennamen noch Hausnummern vorhanden seien. Maßgeblich ist nach § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BKGG einzig die Kenntnis des Aufenthaltes des Elternteils. Aufenthalt ist im rein körperlichen Sinne zu verstehen. Entscheidend ist, wo sich die Eltern befinden, nicht jedoch kommt es auf das Vorliegen eines Wohnsitzes oder eines gewöhnlichen Aufenthalts nach § 30 Abs. 3 Sozialgesetzbuch, Erstes Buch (SGB I) an (vgl. Felix, Kindergeldrecht, Kommentar, 2005, BKGG § 1 Rdnr. 36). Eine so verstandene Kenntnis vom Aufenthalt seiner Mutter hatte der Kläger - wie dargelegt - im maßgeblichen Zeitraum. 

Auf die Frage, ob sich der Kläger missbräuchlich einer Kenntnis verschlossen hat, kommt es hiernach nicht mehr an. 

Selbst wenn man jedoch davon ausgehen wollte, dass der Kläger den Aufenthaltsort seiner Mutter im streitgegenständlichen Zeitraum nicht positiv kannte - oder jedenfalls nach dem letzten telefonischen Kontakt nicht mehr positiv kannte -müsste sich der Kläger vorliegend eine missbräuchliche Unkenntnis entgegenhalten lassen. Diese liegt mangels eines in § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BKGG genannten Verschuldensmaßstabes in Abgrenzung zu einer grob fahrlässig verschuldeten Unkenntnis bei einem missbräuchlichen "sich verschließen" vor der Kenntnis vor (vgl. BSG, Urteil vom 8. April 1992, a.a.O., Rdnr. 18; dort offengelassen, jedoch unter Hinweis auf die zivilrechtliche Rechtsprechung zu § 852 BGB in der bis zum 31. Dezember 2001 geltenden Fassung; hierzu vgl.: BGH, Urteil vom 5. Februar 1985, VI ZR 61/83, juris Rdnr. 16; Urteil vom 16. Mai 1989, VI ZR 251/88, juris Rdnr. 15). Ein solcher Fall liegt nur vor, wenn der Betroffene eine sich ihm ohne weiteres anbietende, gleichsam auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeit nicht wahrnimmt. Kriterien für eine missbräuchliche Unkenntnis sind nach der Rechtsprechung des BGH: Das Verschließen der Augen vor einer sich aufdrängenden Kenntnis oder die unterbliebene Wahrnehmung von sich anbietenden und auf der Hand liegenden Erkenntnismöglichkeiten, deren Erlangung weder besondere Kosten noch nennenswerte Mühe verursachen. Dies ist der Fall, wenn etwa eine einfache Nachfrage genügen würde zur positiven Kenntniserlangung. Dies gilt aber dann nicht mehr, wenn lange und Zeit raubende Telefonate oder umfangreicher Schriftwechsel erforderlich würden (BGH, Urteil vom 5. Februar 1985, a.a.O.). 

Unter Anwendung dieser Maßstäbe liegt - entgegen den Ausführungen der erstinstanzlichen Entscheidung - eine missbräuchliche Unkenntnis des Klägers vor. Bis Ende Mai 2020 hätte der Kläger seine Mutter bei den regelmäßig geführten Telefonaten nach ihrem Aufenthaltsort fragen können. Der Kläger hat nach seinem eigenen Bekunden jedoch keine Nachfragen an seine Mutter gerichtet, die den Aufenthaltsort hätten bestätigen oder anderweitig klären können. Selbst wenn - wie er ohne nähere Ausführungen behauptet - zu befürchten gewesen wäre, dass seiner Mutter „etwas“ passieren könnte, wenn jemand ihren Aufenthaltsort erführe - was schon in Anbetracht der Ausführungen in der mündlichen Verhandlung am 21. November 2022 nicht plausibel erscheint, wonach die Mutter des Klägers zu Beginn der Telefonate selbst bestätigt habe, sich noch bei ihrem Bruder aufzuhalten -, schließt dies dennoch eine telefonische Nachfrage nicht aus. Diese hätte sich zur Bestätigung seiner Kenntnis zunächst darauf beschränken können, ob sich seine Mutter noch an dem ihm letztbekannten Ort aufhält, wodurch keine wesentlichen Informationen preisgegeben worden wären. Erst im Falle der Verneinung dieser Frage, wäre eine Unkenntnis in Betracht zu ziehen gewesen. Im Übrigen ist für den Senat nach der informatorischen Befragung des Klägers in der mündlichen Verhandlung weder nachvollziehbar noch verständlich, weswegen er sich weder danach erkundigt hat, welcher seiner in Deutschland lebenden Bekannten aus Afghanistan bzw. Kabul auf welchem Weg seine Mobilfunknummer über seinen Onkel an seine Mutter weitergegeben hat, noch weswegen sich der Kläger nicht durch eine einfache Nachfrage bei den in Betracht kommenden Personen nach seiner Mutter erkundigt hat, um nach dem Ende des telefonischen Kontakts wieder mit ihr in Kontakt zu treten. Der bloße Verweis des Klägers darauf, dass er bei mehreren in Betracht kommenden Personen nicht gewusst haben will, wer etwas wissen könne, trägt insoweit nicht, war doch offensichtlich, dass es eine naheliegende Kontaktmöglichkeit nach Afghanistan zu seiner Mutter gibt bzw. gegeben hat. Diese unterlassenen, auf der Hand liegenden Erkundigungen kann auch nicht die erfolglose Anfrage an den Suchdienst des DRK ersetzen. Daher kann vorliegend dahinstehen, ob eine solche Anfrage zu den erforderlichen Bemühungen des Klägers zur Abwendung einer missbräuchlichen Unkenntnis im Sinne von § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BKGG gehört. 

Nach alledem sind die Voraussetzungen von § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BKGG nicht erfüllt. Die erstinstanzliche Entscheidung konnte vor diesem Hintergrund keinen Bestand haben. 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG

Gründe im Sinne von § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. 
 

Rechtskraft
Aus
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