L 1 KR 384/21

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 13 KR 270/20
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 KR 384/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Ein durch 5 % besseres Sprachverstehen zu erlangender Gebrauchsvorteil gegenüber dem zuzahlungsfreien Hörgerät ist bei an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit nicht als unwesentlich anzusehen.


Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Darmstadt vom 12. Juli 2021 aufgehoben und die Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 25. Juli 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18. Mai 2020 verurteilt, der Klägerin die ihr für das Hörsystem Widex Unique FS-330 entstandenen Kosten in Höhe von 2.895,60 € zu erstatten.

Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtlichen Kosten in beiden Instanzen zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen. 


Tatbestand

Die Beteiligten streiten um einen Anspruch der Klägerin auf Erstattung der den Festbetrag gemäß § 36 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch -SGB- V übersteigenden Kosten für das Hörsystem Widex Unique 330-FS.

Die 1964 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert und arbeitet in Vollzeit in einer Zulassungsstelle. Seit ihrer Geburt ist sie hörgeschädigt, seit dem Jahr 2001 trägt sie Hörgeräte. Im Jahr 2008 erhielt sie ein neues Hörgerätesystem. Die Klägerin leidet unter einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit.

Im Jahr 2017 erfolgte eine erneute Ausprobung bei der Hörgeräte C. GmbH wegen einer Verschlechterung des Hörvermögens der Klägerin. Auf den Antrag der Klägerin genehmigte die Beklagte zunächst den Festpreis, hob den Bescheid jedoch im Widerspruchsverfahren wegen nicht erfüllter Kriterien einer WHO-Versorgung wieder auf. 

Daraufhin erfolgte im Jahr 2018 eine erneute Ausprobung verschiedener Hörsysteme bei der Hörgeräte C. GmbH. Dabei testete die Klägerin sowohl aufzahlungsfreie als auch aufzahlungspflichtige Geräte. Sie befand das Hörgerätesystem Widex Unique 330-FS, welches ihr in ruhiger Umgebung ein Sprachverstehen von 50 % und in geräuschvoller Umgebung ein Sprachverstehen von 20 % ermöglicht, als am besten geeignet. Dabei handelt es sich nicht um ein aufzahlungsfreies Hörgerätesystem. Das aufzahlungsfreie Hörgerätesystem Magna 2 MG290-DVI ermöglichte der Klägerin hingegen in ruhiger Umgebung ein Sprachverstehen von 45 % und in geräuschvoller Umgebung von 20 %.

Am 5. Dezember 2018 erhielt die Klägerin die Geräte Widex Unique 330-FS von der Hörgeräte C. GmbH.

Mit Schreiben vom 21. Dezember 2018 teilte die Hörgeräte C. GmbH der Beklagten die Details zum Verlauf der Ausprobung der Hörgeräte mit. Die Klägerin beantrage die komplette Kostenübernahme für die Hörsysteme durch die Beklagte. Die Klägerin verweise auf das Urteil des Bundessozialgerichts -BSG- vom 17. Dezember 2009 (B 3 KR 20/08 R). Mit den Hörgeräten Widex Unique 330-FS würden die besten Ergebnisse erzielt. Sie verfügten über eine binaurale Synchronisation. Dies bedeute, dass die Automatikfunktionen, die Lärmunterdrückung sowie die Direktionalität von beiden Hörgeräten synchronisiert würden. Ebenso verfügten die Hörgeräte über eine binaurale Signalverarbeitung. Die Hörgeräte tauschten kontinuierlich Datenmengen aus. Dies führe zu einem natürlichen Raumklang, einer besseren Wahrnehmung, einem verbesserten Hören bzw. Richtungshören und einem besseren Sprachverstehen. Dies werde von der Klägerin benötigt und genutzt. 

Am 20. Mai 2019 bescheinigte der HNO-Arzt, dass durch die streitigen Hörgeräte eine ausreichende Hörverbesserung erzielt wird und das Hörgerätesystem zweckmäßig ist. 

Mit Bescheid vom 25. Juli 2019 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass sie von den Kosten in Höhe von 2.178,50 € für ein Hörgerät einen Anteil in Höhe von 875,50 € übernimmt. Mit einem weiteren Bescheid vom 25. Juli 2019 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass sie von den Kosten in Höhe von 2.331,50 € für ein (weiteres) Hörgerät einen Anteil in Höhe von 1.043,50 € übernimmt. Die Beklagte nahm jeweils Bezug auf die Verordnung vom 6. Mai 2019 und führte aus, dass die weiteren Kosten für die gewünschte höherwertige Hörgeräteversorgung nicht übernommen werden könnten. Der Hörakustiker sei vertraglich dazu verpflichtet, aufzahlungsfreie Hörgeräte anzubieten, die die vertraglichen Mindestvoraussetzungen erfüllten und den bestmöglichen Ausgleich der Hörminderung böten. 

Gegen diese Bescheide erhob die Klägerin Widerspruch. Das von ihr gewählte Hörgerätesystem ermögliche die Teilnahme an Gruppengesprächen, die Gesprächsführung in Räumen mit mehreren Leuten und das Telefonieren, was mit keinem der zuzahlungsfreien Geräte möglich gewesen sei. Das Sprachverstehen sei mit dem Gerät Widex Unique 300 FS in ruhiger Umgebung gut gewesen. Mit diesen hätte sie - im Gegensatz zu den zuzahlungsfreien Geräten - auch wegen der hochgradigen Hörbehinderung schwer verständliche Worte verstanden. Die Widex Geräte ermöglichen ihr eine Teilnahme am öffentlichen Leben. Mit den aufzahlungsfreien Geräten sei eine angemessene Versorgung gerade nicht gewährleistet. Bei zuzahlungsfreien Geräten habe es entweder Rückkopplungen gegeben oder sie habe kaum etwas gehört. Das sei nur bei dem gewählten Modell besser. Sie trage die Hörgeräte den ganzen Tag. Sie seien für sie kein Luxus, sondern ein notwendiges Übel, um überhaupt am täglichen Leben teilhaben zu können. Die gewählten Hörgeräte böten einen Gebrauchsvorteil. Sie seien zweckmäßig, wirtschaftlich und überschritten nicht das Maß der Notwendigkeit.

Am 20. August 2019 legte die Hilfsmittelberaterin und Hörgeräteakustikmeisterin M. der Beklagten ihr Beratungsergebnis vor. Sie empfahl, die Kosten der von der Klägerin gewünschten Versorgung nur im Rahmen der Vertragspreise zu übernehmen. Für eine höherwertige Versorgung bestehe aus fachlicher Sicht keine Notwendigkeit. Eine Versorgung zum Vertragspreis sei möglich. Der Messunterschied in Ruhe von 5 % könne als Messtoleranz gewertet werden. Subjektive Empfindungen der Klägerin könnten nicht bewertet werden. Auch Geräte zum Vertragspreis verfügten über Rückkopplungsunterdrückungen.

Mit Schreiben vom 16. April 2020 teilte die Beklagte der Klägerin mit, es gebe keine nachvollziehbare Begründung für eine ausschließliche Versorgbarkeit mit den Hörgeräten Widex Unique 330 FS. Zuzahlungsfreie Geräte erzielten ausweislich der Anpassberichte vergleichbare Ergebnisse. 

Mit Widerspruchsbescheid vom 18. Mai 2020 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Die Leistungspflicht der GKV werde durch das Wirtschaftlichkeitsgebot begrenzt. Die Krankenkasse müsse nicht jede vom Versicherten gewünschte und von ihm für optimal gehaltene Versorgung zur Verfügung stellen. Sei eine kostengünstige Alternative verfügbar, müsse keine teurere bezahlt werden, wenn Vorteile nur in bestimmten Lebenssituationen zum Tragen kämen, wenn einer geringfügigen Verbesserung ein unverhältnismäßiger Mehraufwand gegenüberstehe, oder wenn es nicht um Funktionalität, sondern Bequemlichkeit, Komfort oder Ästhetik gehe.

Am 16. Juni 2020 hat die Klägerin hiergegen Klage vor dem Sozialgericht Darmstadt erhoben. Sie habe einen gesetzlichen Anspruch auf Versorgung mit einem System, das einen möglichst vollständigen funktionellen Ausgleich ihrer Behinderung erreiche und an das Hörvermögen Gesunder angleiche. Dies sei nur bei dem System Widex Unique FS-330 der Fall, da dieses als einziges Gerät ein rückkopplungsfreies Hören und Verstehen ermögliche. Trotz diverser Tests habe sie kein gleichwertiges aufzahlungsfreies Hörgerät gefunden. Beruflich führe sie viele Telefonate, deshalb sei die Versorgung mit einem geeigneten Hörsystem besonders wichtig. Die aufzahlungsfreien Hörgeräte verfügten nicht über eine geeignete Technik zur Rückkopplungsunterdrückung.

Die Klägerin hat die Rechnung der Hörgeräte C. GmbH vom 23. November 2020 vorgelegt (4.409,62 € Gesamt; 1.534,02 € Zuschuss der Krankenkasse; 20 € Eigenanteil; 2.895,60 € Kosten) und ausgeführt, dass sie die Rechnung erst nach Durchführung des Widerspruchsverfahrens erhalten habe. Zum Erwerb der Geräte habe sie sich erst entschlossen, nachdem die Beklagte den Antrag bereits abgelehnt habe. Der Beschaffungsweg sei daher eingehalten. Da die Klägerin nicht vom Hörgeräteakustiker auf die Einhaltung des Beschaffungsweges hingewiesen worden sei, sei die Leistungsablehnung und Kostenbelastung ohnehin nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zu fingieren.

Die Beklagte hat auf die Stellungnahme der Hörakustikmeisterin verwiesen. Außerdem sei der Beschaffungsweg nicht eingehalten. Entscheidend sei insoweit nicht das Ausstellungsdatum der Rechnung, sondern wann sich die Klägerin für die Geräte entschieden und diese erhalten habe. Die Rechnung und die ärztliche Verordnung wiesen als Auslieferungsdatum für die Hörgeräte den 5. Dezember 2018 aus, der Antrag auf Kostenübernahme sei aber erst am 24. Juli 2019 bei der Beklagten eingegangen.

Mit Gerichtsbescheid vom 12. Juli 2021 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Eine Kostenerstattung gemäß § 13 Abs. 3 Satz 1 Var. 2 SGB V komme nicht in Betracht, weil die Klägerin den Beschaffungsweg nicht eingehalten habe. Das Bundessozialgericht -BSG- habe zwar entschieden, dass eine Hilfsmittel-Leistung nicht schon mit ihrer Ausprobe und Auswahl selbst verschafft sei. Anspruchshindernd sei erst ein endgültiges Verpflichtungsgeschäft im Verhältnis zwischen dem Versicherten und dem Leistungserbringer, wonach der Leistungserbringer auch im Falle der Ablehnung des Leistungsbegehrens durch den Träger eine Bezahlung des Hilfsmittels verlangen könne (vgl. BSG, Urteile vom 24. Januar 2013 - B 3 KR 5/12 R - und vom 17. Dezember 2009 - B 3 KR 20/08 R).

Auch für eine Vorfestlegung der Klägerin vor Ausprobe der verschiedenen Hörsysteme gebe es keine Anhaltspunkte. Nach einer Würdigung aller Umstände des Einzelfalls sei das Sozialgericht allerdings überzeugt, dass spätestens mit Auslieferung der Hörgeräte an die Klägerin am 5. Dezember 2018 ein Kaufvertrag zwischen der Klägerin und der Hörgeräte C. GmbH endgültig geschlossen worden sei, der die Klägerin einer Honorarforderung der Hörgeräte C. GmbH unabhängig von der Bewilligung des Leistungsantrags durch die Beklagte ausgesetzt habe. Ob bereits das Schreiben der Firma C. vom 21. Dezember 2018 als Antrag der Klägerin auf Kostenübernahme zu werten sei oder erst der Antrag der Klägerin vom 24. Juli 2019, könne offenbleiben, da beide Zeitpunkte nach Vertragsschluss lägen. Der Gesamtcharakter der Transaktion zwischen der Klägerin und der C. GmbH weise auf einen endgültigen Vertragsschluss hin. Die Auslieferung der Hörgeräte am 5. Dezember 2018 an die Klägerin sei ohne irgendeinen Vorbehalt erfolgt. Sie sei nicht nur zur Erprobung der Hörgeräte erfolgt, sondern diese seien endgültig bei der Klägerin verblieben. Dass dies von vorneherein so beabsichtigt gewesen sei, zeige sich auch daran, dass die Hörgeräte C. GmbH die Hörgeräte im Folgejahr zu keinem Zeitpunkt, auch nicht nach Antragsablehnung durch die Beklagte, von der Klägerin zurückgefordert habe. Dies ergebe bei wirtschaftlicher Betrachtung nur Sinn, wenn die Hörgeräte C. GmbH davon ausgegangen sei, in jedem Fall, unabhängig von der Entscheidung der Beklagten, von der Klägerin die Kostenforderung beglichen zu bekommen. Es sei auch nicht ersichtlich, dass es sich um einen Kauf auf Probe gemäß § 454 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch -BGB- handele. Nach den vorgelegten Anpassberichten sei die Ausprobe verschiedener Hörsysteme abgeschlossen gewesen, es seien auch keine anderen Hörsysteme probeweise auf Zeit überlassen worden. Eine Evaluation der Leistung des Hörsystems nach einer bestimmten Zeitspanne sei nicht erfolgt. Die Argumentation der Klägerin, die Kaufentscheidung sei erst nach Erlass des Widerspruchsbescheids durch die Beklagte gefallen, vermöge nicht zu überzeugen. Im Zeitpunkt der Entscheidung über den Widerspruch am 18. Mai 2020 durch die Beklagte habe die Klägerin die Hörgeräte bereits seit etwa eineinhalb Jahren ohne Unterbrechung im Gebrauch gehabt. Dass die Hörgeräte C. GmbH nach dieser Zeit zu einer kostenfreien Rücknahme der Geräte nach einer ablehnenden Entscheidung der Beklagten bereit gewesen wäre, sei lebensfremd. Eine derart lange Überlassung spreche für einen endgültigen Vertragsschluss. Dass die Hörgeräte C. GmbH zu einer Stundung des Kaufpreises bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens bereit gewesen sei und erst am 23. November 2020 eine bis 3. Dezember 2020 zahlbare Rechnung ausgestellt habe, ändere nichts daran, dass bereits mit Auslieferung der Geräte ein endgültiger Kaufvertrag geschlossen worden sei, durch den sich die Klägerin einer Honorarforderung ausgesetzt gesehen habe. Diese endgültige rechtliche Verpflichtung ohne Einhaltung des Beschaffungswegs schließe die Verpflichtung zur Übernahme der den Festpreis übersteigenden Mehrkosten aus.

Aber auch unter der Annahme der Einhaltung des sog. Beschaffungswegs bestehe kein Anspruch auf Kostenerstattung. Der Erstattungsanspruch gemäß § 13 Abs. 3 S. 1 Var. 2 SGB V reiche nicht weiter, als ein entsprechender Sachleistungsanspruch. Er setze daher voraus, dass die selbst beschaffte Leistung zu den Leistungen gehöre, welche die Krankenkasse allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen habe (BSG, Urteil vom 24. September 1996, 1 RK 33/95; BSG, Urteil vom 17. Dezember 2009, B 3 KR 20/08 R). Nach § 33 Abs. 2 S. 1 SGB V hätten Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, die im Einzelfall erforderlich seien, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen seien. Gemäß § 33 Abs. 1 S. 9 SGB V hätten Versicherte die Mehrkosten und dadurch bedingte höhere Folgekosten selbst zu tragen, wenn sie Hilfsmittel oder zusätzliche Leistungen wählten, die über das Maß des Notwendigen hinausgingen. Die Versorgung mit Hörgeräten diene dem unmittelbaren Behinderungsausgleich. In diesem Bereich sei die Hilfsmittelversorgung grundsätzlich vom Ziel eines vollständigen funktionellen Ausgleichs geleitet. Versicherte müssten sich deshalb nicht auf einen Basisausgleich verweisen lassen (hierzu ausführlich BSG, Urteil vom 17. Dezember 2009 - B 3 KR 20/08 R). Dennoch sei der Anspruch durch das Wirtschaftlichkeitsgebot gemäß § 12 Abs. 1 SGB V begrenzt. Deshalb hätten Versicherte gemäß § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V keinen Anspruch auf jede gewünschte und von ihnen für optimal gehaltene Versorgung. Ansprüche auf teure Hilfsmittel seien ausgeschlossen, wenn eine kostengünstigere Versorgung den angestrebten Nachteilsausgleich ebenso gut erreiche. Eine kostenaufwendige Versorgung könne hingegen verlangt werden, wenn sie gegenüber einer kostengünstigeren Alternative einen wesentlichen Gebrauchsvorteil biete. In diesem Fall dürften Versicherte nicht auf eine Versorgung zum festgesetzten Festpreis verwiesen werden. Wenn einer geringfügigen Verbesserung des Nutzens hingegen ein als unverhältnismäßig einzuschätzender Mehraufwand gegenüberstehe, könne die Leistungspflicht begrenzt sein. Dies gelte ebenso, wenn eine Innovation nicht die Funktionalität betreffe, sondern in erster Linie den Komfort oder die Ästhetik (BSG, Urteil vom 17. Dezember 2009 - B 3 KR 20/08 R).

Vorliegend sei eine Versorgung zum Festpreis möglich gewesen. Das von der Klägerin ausgewählte Hörsystem Widex U FS-330 biete höchstens geringfügige Vorteile gegenüber dem zuzahlungsfreien Hörsystem Magna 2 MG290-DVI. In einer Umgebung mit Störgeräuschen ermöglichten beide Geräte ein Sprachverstehen von 20 %. Lediglich in ruhiger Umgebung ermögliche das von der Klägerin gewählte System 50 % Sprachverstehen gegenüber 45 % Sprachverstehen bei Nutzung des zuzahlungsfreien Geräts. Die Abweichung von lediglich 5 % liege im Toleranzbereich und lasse nicht den Schluss zu, dass das Gerät Widex U FS-330 ein signifikant besseres Hören ermögliche (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 20. Oktober 2009 - L 11 KR 1229/09, juris Rn. 41). Sonstige angeführte Vorteile ergäben sich nicht aus der Dokumentation der Ausprobe der Hörsysteme und seien auch auf Rückfrage der Beklagten vom Hörgeräteakustiker nicht nachvollziehbar dargelegt worden. Weshalb das ansonsten gleichwertige Hörsystem Magna 2 MG290-DVI nicht rückkopplungsfrei habe eingestellt werden können, habe der Akustiker nicht hinreichend begründet.

Die Klägerin hat gegen den ihr am 16. Juli 2021 zugestellten Gerichtsbescheid am 10. August 2021 vor dem Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt.

Herr D. (Hörgeräte C. GmbH) hat unter dem 18. August 2021 ausgeführt, dass eine rückkoppelungsfreie Versorgung mit den getesteten zuzahlungsfreien Hörsystemen Signia Prompt SP und GN ReSound Magna 2-90 unter Berücksichtigung des Hörverlustes und einer gleichzeitigen Belüftung des Gehörganges durch sogenannte Zusatzbohrungen in den Otoplastiken nicht möglich sei. Nach Entfernen der Bohrungen seien die Otoplastiken verschlossen und böten eine bessere Rückkopplungsauslöschung. Gleichzeitig verursachten die verschlossenen Bohrungen aber auch ein deutlich schlechteres Hören, da sich durch den Verschluss und die Minderung des Luftgehalts im Gehörgang eine schlechtere Schwingungsfähigkeit des Trommmelfells bei der Klägerin ergebe. Somit sei der vollständige Verschluss der Otoplastiken keine akzeptable Lösung. Die Otoplastiken der Widex Unique 330-FS seien ebenfalls mit Belüftungsbohrungen versehen, um das bestmögliche akustische Übertragungsverhalten der Hörsysteme zu gewährleisten. 

In dem gemäß § 106 Sozialgerichtsgesetz -SGG- eingeholten Gutachten vom 16. November 2021 hat Prof. Dr. H. (Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde) ausgeführt: Die Daten zum Freiburger Sprachtest seien „für Patienten mit einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit nicht ohne Weiteres übertragbar. Hier müssen Einzelfallentscheidungen auf Grund subjektiver Angaben getroffen werden und sich vom Begriff der Signifikanz abgewendet und subjektiven Empfindungen der Kommunikation Bewertung geschenkt werden. Die Ergebnisse der Testverfahren können bei einer ausgeprägten Kommunikationsstörung, wie im vorliegenden Fall, nur mit Einschränkung zur Bewertung dienen, da es sich um Grenzsituationen des Kommunikationsvermögens handelt. Hier sind subjektive Details von Bedeutung. Im vorliegenden Fall unterscheidet sich der Hörgewinn mit dem Hörgerät Widex U-FS 330 objektiv geringfügig gegenüber den Hörgeräten Naida V70-RIC. Damit zeigt sich ein geringer Vorteil für das Gerät Widex U-FS 330. Damit sind die Hörgeräte laut Festbetrag zunächst zwar medizinisch ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich, jedoch im speziellen Fall auch nicht überzeugend besser, um den Behandlungserfolg der Schwerhörigkeit im vorliegenden Fall zu sichern. Es ergibt sich in den subjektiven Beschreibungen der Patientin für die kommunikative Bewältigung von Situationen im Alltag und im Beruf, dass sie mit dem Gerät „Widex U-FS 330" deutlich besser zurechtkommt (Verwaltungsakte S. 19 ff.). Dies sind die erwähnten, nicht messbaren Höreindrücke, die individuell zu berücksichtigenden Besonderheiten bei Patienten, die an einer an Taubheit grenzenden Hörstörung leiden. Die subjektiven Veränderungen sind im vorliegenden Fall nicht messbar, da alle vorliegenden Testverfahren nicht geeignet sind, objektive Aussagen über die subjektive Hörfunktion zu machen. Weiterhin bestätigen die Angaben in der Verwaltungs- und Gerichtsakte diese Auffassung, die Klägerin hat hier Protokoll über ihre Höreindrücke geführt, mit dem Ergebnis, dass sie mit den höherwertigen Hörgeräten eine bessere Kommunikation empfindet (Verwaltungsakte S. 19 ff.). Ein 5%iger Unterschied ist in solchen Fällen eines gestörten Kommunikationsvermögens ebenfalls von Bedeutung, wenn auch nicht „statistisch" signifikant. Wesentliches Argument für die Ausstattung mit kostenintensiveren Hörgeräten ist die Art der Hörstörung im vorliegenden Fall. Aus medizinischer Sicht (Lehrmeinung) stellt ein Sprachverständnis in Ruhe von ca. 30-40% im Freiburger Sprachtest die etwaige Grenze dar, um im täglichen Leben im Sinne der Teilhabe überhaupt kommunizieren zu können. Bei der Klägerin liegt bei Umgebungslautstärke und lauterer Präsentation kein messbares Sprachverständnis vor (eigene Untersuchung 0% Sprachverständnis bei 65 dB Sprachlautstärke vor). Es ist kein kommunikatives Verständnis ohne Hörgeräte möglich. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang vor allem, dass die Klägerin im Rahmen arbeitstätig ist und damit einen wesentlichen Anteil ihrer Zeit hierfür nutzt. Wie aus der Arbeitsplatzbeschreibung hervorgeht, ist der Beruf kommunikativ intensiv und anspruchsvoll. Im vorliegenden Fall muss ebenfalls berücksichtigt werden, dass das Hörvermögen der Klägerin stark eingeschränkt ist. Dies bedeutet, dass selbst mit Hörgeräten kommunikativ eine Teilhabe im täglichen Leben und im Beruf nur schwer erreicht werden kann. Subjektive Eindrücke des Hörvermögens spielen hier eine wesentliche Rolle. Zieht man alle Ergebnisse der Hörgeräteanpassung hinzu, besteht aus medizinischer Sicht für die verbale Kommunikation mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein persönlicher und beruflicher Mehrbedarf. Die medizinischen Fakten (an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit) und die persönlichen Aufzeichnungen und Erfahrungen, sind Belege dafür, einen persönlichen oder berufsbedingten Mehrbedarf mit höherwertigen Hörgeräten, in diesem Fall mit den Hörgeräten Widex U-FS 330 aus medizinischer Sicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu begründen. Hörgeräte dienen der Verbesserung der Kommunikation und der Erkennung von Sprache. Patienten mit einer Hörstörung, wie sie im individuellen Fall vorliegt, sind auf eine bestmögliche Kommunikation im täglichen Leben und im Beruf angewiesen.“

Zusammenfassend hat der Sachverständige festgestellt: „Es liegt eine an Taubheit grenzende Hörstörung auf beiden Ohren vor. Eine Kommunikation (Sprachverständnis) ist ohne Hörgerät nicht möglich. Die aufzahlungsfreien Hörgeräte Magna 2 MG290-DVI können den Hörverlust der Klägerin ausgleichen, allerdings ist im individuellen Fall mit den Hörgeräte Widex Unique 330-FS ein besseres Sprachverständnis möglich. Dies belegen die Tests und die Hörprotokolle der Klägerin. Im vorliegenden Fall sind hochwertige Hörgeräte erforderlich, um eine Kommunikation im täglichen Leben und im Beruf zu ermöglichen. Insbesondere das Sprachverständnis im Störschall ist mit den Geräten Widex Unique 330-FS objektiv und subjektiv besser. Diese Nuancen sind im vorliegenden Fall erforderlich, um eine optimale Kommunikation/Sprachverständnis zu ermöglichen. Aus wissenschaftlicher und ethischer Sicht geht es weniger um Signifikanz, sondern darum, einem Menschen, der ohne Hörgeräte kein kommunikatives Sprachverständnis hat, die bestmögliche Teilhabe am täglichen Leben und am Beruf zu ermöglichen. Da die Messmethoden hier ohnehin mit Einschränkung zu betrachten sind (obwohl sich ein geringer Vorteil für das höherwertige Hörgerät ergibt), stehen subjektive Empfindungen, die hier klar schriftlich adressiert sind, im Vordergrund. Betrachtet man messbare und subjektiv empfundene Hörsituationen, die Bewältigung von Alltag und Beruf, den Fakt, dass ohne Hörgeräte keine Kommunikation möglich ist und den Grad der Hörstörung, so ist insgesamt mit den Hörgeräte Widex Unique 330-FS eine „signifikant" bessere Kommunikation im Alltag und im Beruf möglich. U.a. lassen sich bei Widex Unique 330-FS im Universalprogramm Sound-Class-Technology™ fünf Situationskategorien unterscheiden. Weiterhin ist das Gerät mit einer Sprachhervorhebung ausgestattet, die in geräuschvollen Umgebungen die Sprachanteile anhebt, um in dieser Situation ein gutes Verstehen zu ermöglichen. Mit der Funktion „Telefon+", wird durch einen integrierten Magnetschalter im Hörgerät das Telefonat auf das gegenüberliegende Ohr übertragen. Das Telefongespräch kann somit über beiden Ohren gehört werden.“

Die Klägerin hat zur Begründung der Berufung darauf hingewiesen, dass bereits im Jahr 2017 eine Ausprobung erfolgt sei, welche zu einer Entscheidung für das Hörgerätesystem Widex Dream 330 Fashion Power geführt habe. Dieses Hörgerätemodell entspreche nicht den Kriterien einer WHO-Versorgung, so dass das Antragsverfahren erfolglos gewesen sei. Im Jahr 2018 sei daraufhin eine neue Ausprobung verschiedenster Hörgeräte erfolgt. Die Kaufentscheidung habe die Klägerin erst nach Erlass des Widerspruchsbescheides getroffen. Erst dann habe die Hörgeräte C. GmbH unter dem 23. November 2020 eine Rechnung erteilt. Dass dies lebensfremd sein solle, sei nicht nachvollziehbar, zumal die Klägerin schon über Jahre hinweg durchaus eine gute Kundin bei der Firma Hörgeräte C. GmbH sei. Eine Versorgung zum Festpreis sei in ihrem Fall nicht möglich, wie auch das Sachverständigengutachten aufzeige. 

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Darmstadt vom 12. Juli 2021 aufzuheben, die Bescheide der Beklagten vom 25. Juli 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18. Mai 2020 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin auch die weiteren Kosten in Höhe von 2.895,60 € für das Hörsystem Widex Unique FS-330 zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend. In Bezug auf das Sachverständigengutachten hat sie ausgeführt, dass mit dem gewählten Hörsystem Widex Unique FS-330 lediglich ein Hörgewinn von zusätzlich 5 % erreicht werde. Dieser Unterschied liege im Toleranzbereich, welcher durch naturgemäße Tagesschwankungen bedingt sei. Eine signifikante Hörverbesserung liege nicht vor. Die Leistungspflicht der GKV werde durch das Wirtschaftlichkeitsgebot begrenzt. Auch wenn vom Gutachter der Schwerpunkt nicht explizit auf die „Signifikanz“ gelegt worden sei, könne die gesetzliche Krankenkasse nur anhand der vorliegenden Messdaten und der daraus hervorgehenden „Signifikanz“ eine entsprechende Entscheidung treffen.

Der Sach- und Rechtsstand ist am 19. Dezember 2022 vor der Berichterstatterin erörtert worden. 

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
 

Entscheidungsgründe 

Die Entscheidung konnte durch die Berichterstatterin und ohne mündliche Verhandlung ergehen, da sich die Beteiligten mit dieser Vorgehensweise einverstanden erklärt haben, §§ 155 Abs. 3 und 4, 124 Abs. 2 SGG

Die zulässige Berufung ist begründet. 

Die Bescheide der Beklagten vom 25. Juli 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Mai 2020 sind nicht rechtmäßig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten, soweit die Beklagte damit eine Leistung über die Festbeträge hinaus abgelehnt hat. Der klageabweisende Gerichtsbescheid vom 12. Juli 2021 ist daher aufzuheben.

Die Beklagte hat die begehrte Leistung zu Unrecht abgelehnt.

Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben gesetzlich Versicherte Anspruch u.a. auf Versorgung mit Hörhilfen, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Danach besteht ein Anspruch auf Hörhilfen, die nur von hörbehinderten Menschen benutzt werden und deshalb kein Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens sind, auch nicht nach § 34 Abs. 4 SGB V aus der Versorgung der GKV ausgeschlossen sind und weder der Krankenbehandlung noch der Vorbeugung einer Behinderung dienen, soweit sie im Rahmen des Notwendigen und Wirtschaftlichen (§ 12 Abs. 1 SGB V) für den von der Krankenkasse geschuldeten Behinderungsausgleich erforderlich sind. 

Der Anspruch ist von der Krankenkasse grundsätzlich in Form einer Sachleistung gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB V zu erbringen, wobei sie ihre Leistungspflicht gemäß § 12 Abs. 2 SGB V mit dem Festbetrag erfüllt, wenn für die Leistung ein Festbetrag festgesetzt ist. Über die Erbringung der Sach- und Dienstleistungen schließen die Krankenkassen Verträge mit den Leistungserbringern, § 2 Abs. 2 Satz 3 SGB V. Grundsätzlich erfüllt die Krankenkasse die Sachleistung „Versorgung mit Hörhilfen“ auf der Grundlage einer Festbetragsregelung (§ 36 SGB V), also unter Zuzahlungspflicht des Versicherten hinsichtlich des den Festbetrag übersteigenden Teils des Kaufpreises. Dies ist grundsätzlich verfassungsgemäß, gilt jedoch in dieser Form nur, wenn eine sachgerechte Versorgung des Versicherten zu den festgesetzten Festbeträgen möglich ist. Der für ein Hilfsmittel festgesetzte Festbetrag begrenzt die Leistungspflicht der Krankenkasse nämlich dann nicht, wenn er für den Ausgleich der konkret vorliegenden Behinderung objektiv nicht ausreicht (BSG, Urteil vom 21. August 2008 – B 13 R 33/07 R).

Im Bereich des unmittelbaren Behinderungsausgleichs ist die Hilfsmittelversorgung grundsätzlich von dem Ziel eines vollständigen funktionellen Ausgleichs geleitet. Im Vordergrund steht dabei der unmittelbare Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion. Davon ist auszugehen, wenn das Hilfsmittel die Ausübung der beeinträchtigten Körperfunktion – hier das Hören – selbst ermöglicht, ersetzt oder erleichtert. Für diesen unmittelbaren Behinderungsausgleich gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits, und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts, § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V. Deshalb kann auch die Versorgung mit einem fortschrittlich, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsgrad sei ausreichend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleichziehens mit einem gesunden Menschen erreicht wird. Das Maß der notwendigen Versorgung würde deshalb verkannt, wenn die Krankenkassen ihren Versicherten Hörgeräte ungeachtet hörgerätetechnischer Verbesserungen nur „zur Verständigung beim Einzelgespräch unter direkter Ansprache“ zur Verfügung stellen müssten. Teil des von den Krankenkassen nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V geschuldeten – möglichst vollständigen – Behinderungsausgleich ist es vielmehr, hörbehinderten Menschen im Rahmen des Möglichen auch das Hören und Verstehen in größeren Räumen und bei störenden Umgebungsgeräuschen zu eröffnen und ihnen die dazu nach dem Stand der Hörgerätetechnik jeweils erforderlichen Geräte zur Verfügung zu stellen (BSG, Urteil vom 30. Oktober 2014 - B 5 KR 8/14). Ein Hörgerät ist erforderlich, wenn es nach dem Stand der Medizintechnik (§ 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V) die bestmögliche Angleichung an das Hörvermögen Gesunder erlaubt und damit im allgemeinen Alltagsleben einen erheblichen Gebrauchsvorteil gegenüber anderen Hörhilfen bietet. Ziel der Versorgung ist die Angleichung an das Hörvermögen hörgesunder Menschen; solange dieser Ausgleich im Sinne eines Gleichziehens mit deren Hörvermögen nicht vollständig erreicht ist, kann die Versorgung mit einem fortschrittlichen Hörgerät nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass die GKV nur für die Aufrechterhaltung eines Basishörvermögens aufzukommen habe.

Der vorstehend umrissene Anspruch auf eine Hilfsmittelversorgung nach § 33 SGB V ist durch das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 SGB V begrenzt. Danach müssen die Leistungen „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein“ und dürfen „das Maß des Notwendigen nicht überschreiten“. Daher verpflichtet auch § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V nicht dazu, den Versicherten jede gewünschte, von ihnen für optimal gehaltene Versorgung zur Verfügung zu stellen. Ausgeschlossen sind danach Ansprüche auf teurere Hilfsmittel, wenn eine kostengünstigere Versorgung für den angestrebten Nachteilsausgleich funktionell in gleicher Weise geeignet ist (BSG, Urteil vom 10. September 2020 - B 3 KR 15/19 R, juris Rn. 19 mwN; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. November 2020 – L 9 KR 90/18 R, juris Rn. 27). Eingeschlossen in den Versorgungsauftrag der GKV ist eine kostenaufwändigere Versorgung dagegen dann, wenn durch sie eine Verbesserung bedingt ist, die einen wesentlichen Gebrauchsvorteil gegenüber einer kostengünstigeren Alternative bietet (BSG, Urteil vom 17. Dezember 2009 – B 3 KR 20/08 R = BSGE 105, 170 Rn. 15 ff). Das gilt bei Hilfsmitteln zum unmittelbaren Behinderungsausgleich für grundsätzlich jede Innovation, die dem Versicherten nach ärztlicher Einschätzung in seinem Alltagsleben deutliche Gebrauchsvorteile bietet. Keine Leistungspflicht besteht dagegen für solche Innovationen, die nicht die Funktionalität betreffen, sondern in erster Linie die Bequemlichkeit und den Komfort bei der Nutzung des Hilfsmittels. Dasselbe gilt für lediglich ästhetische Vorteile oder wenn die funktionalen Vorteile eines Hilfsmittels ausschließlich in bestimmten Lebensbereichen zum Tragen kommen. Weitere Grenzen der Leistungspflicht können schließlich berührt sein, wenn einer nur geringfügigen Verbesserung des Gebrauchsnutzens ein als unverhältnismäßig einzuschätzender Mehraufwand gegenübersteht.

Das begehrte Hörgerät muss mithin einen objektiv erheblichen bzw. wesentlichen Gebrauchsvorteil gegenüber anderen, zum Festbetrag erhältlichen Hörhilfen bieten. Grundsätzlich ist dabei der subjektive Eindruck des Versicherten allein nicht ausreichend, es bedarf vielmehr eines objektiv messbaren Gebrauchsvorteils (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteile vom 23. August 2022 – L 16 KR 60/20 und vom 13. Juli 2022 – L 16 KR 351/20; LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 19. August 2020 - L 6 KR 36/16 R, Rn. 48; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. November 2020 – L 9 KR 90/18, Rn. 28 mwN; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 30. November 2021 – L 11 R 3540/20, Rn. 33 - jeweils zitiert nach juris). Denn die subjektiven Schilderungen des Hörgeräteträgers sind für das Gericht nicht überprüfbar. Auch besteht die Gefahr, dass der subjektive Eindruck nicht unwesentlich durch Komfortausstattungen des teureren Gerätes beeinflusst wird, die subjektiv das Hörvermögen erleichtern mögen (vgl. LSG Baden-Württemberg, aaO, Rn. 33).

Nach § 21 Abs. 2 der nach § 92 Abs 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V erlassenen und nach § 91 Abs 6 SGB V für die Versicherten, die Krankenkassen und die Leistungserbringer verbindlichen Richtlinie über die Verordnung von Hilfsmitteln in der vertragsärztlichen Versorgung –Hilfs M-Rl- des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) soll bei der beidohrigen Hörgeräteversorgung der Freiburger Einsilbertest zur Anwendung kommen. § 21 Abs. 3 der Hilfsmittel-Richtlinie sieht eine Störschalltestung vor. Der Freiburger Sprachtest ist ein normiertes Verfahren und ermöglicht einen objektiven Vergleich zwischen den getesteten Hörgeräten (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteile vom 30. November 2021 – L 11 R 3540/20, Rn. 33 – und 21. Januar 2020 - L 5 KR 241/18, Rn. 42 – juris) und dies auch im Störschall (vgl. § 21 Abs. 3 und § 22 Abs. 3 der Hilfsmittel-Richtlinie). Die Hilfsmittel-Richtlinie wurde mit Beschluss des GBA vom 24. November 2016 geändert. Nach den „Tragenden Gründen zum Beschluss“ handelt es sich bei dem Freiburger Einsilbertest um ein Testverfahren zur Überprüfung der Sprachverständlichkeit. Da der Nachweis einer Gleichwertigkeit des Freiburger Einsilbertests im Störgeräusch mit den bisher beispielhaft aufgezählten Testverfahren zur Überprüfung nur anhand der vorhandenen Literatur nicht möglich gewesen sei, sei nach den Ausführungen des GBA eine Expertenanhörung auf niedrigerer Evidenzstufe durchgeführt worden mit dem Ergebnis, dass der Freiburger Einsilbertest im Störgeräusch prinzipiell als geeignet angesehen werden könne. Bisher hat kein anderes Verfahren den Freiburger Sprachtest wegen besserer Qualität/Geeignetheit abgelöst (2.1.1. des GBA-Beschlusses; s.a. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 30. November 2021 – L 11 R 3540/20, Rn. 33; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 14. Oktober 2022 – L 16 KR 336/21).

Im vorliegenden Fall ist für den Antrag der Klägerin der Vertrag zur Komplettversorgung mit Hörsystemen zwischen den Ersatzkassen und der Bundesinnung der Hörgeräteakustiker mit Geltung ab dem 1. Juli 2015 maßgeblich. In der Anlage 1 § 1 wird die Versorgung der schwerhörigen Erwachsenen mit Ausnahme der an Taubheit grenzenden Schwerhörigen der Krankenkassen mit Hörsystemen auf Basis der Festbeträge geregelt. Nach § 3 Nr. 1 erhält der Versicherte für seine Hörsituation mindestens ein individuell geeignetes aufzahlungsfreies Versorgungsangebot mit volldigitalen Hörsystemen entsprechend dem festgestellten Hörverlust. Mit dem angebotenen Hörsystem ist das im Sprachaudiogramm ermittelte maximale Sprachverstehen (mit Freiburger Sprachtest gemessen mit Kopfhörern) soweit möglich zu erreichen. Wird bei der vergleichenden Anpassung nach dem Testverfahren (§ 5) mit dem aufzahlungspflichtigen Hörgerät ein besseres Sprachverstehen erzielt, so muss nach § 3 Nr. 9 ein weiteres aufzahlungsfreies Hörgerät zum Erreichen eines möglichst weitgehend gleichen Sprachverstehens getestet werden. Verfügt der Mitgliedsbetrieb über kein geeignetes weiteres Hörgerät in seinem Sortiment, ist das vergleichend angepasste aufzahlungspflichtige Hörgerät zum Vertragspreis abzugeben.

Bei der Klägerin besteht eine beidseitige an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit. Damit ist die Regelung aus der oben genannten Anlage 1 vorliegend nicht anwendbar.

Nach Maßgabe der gesetzlichen und vertraglichen Vorschriften bestand hier vielmehr ein Anspruch auf Erstattung der über den Festbetrag (§ 12 Abs. 2 SGB V) hinausgehenden Kosten für das streitige zuzahlungspflichtige Hörgerätesystem.

Das Hörsystem „Widex Unique 330-FS“ ist ausweislich der Dokumentation zur Hörgeräteanpassung geeignet, diese Schwerhörigkeit bestmöglich auszugleichen. Nach den erzielten Messwerten bestand mit ruhiger Umgebung ein Sprachverstehen von 50 % und in geräuschvoller Umgebung von 20 %. Das aufzahlungsfreie Hörgerätesystem „Magna 2 MG290-DVI“ ermöglichte hingegen in ruhiger Umgebung ein Sprachverstehen von 45 % und in geräuschvoller Umgebung von 20 %. 

Die Klägerin konnte damit mit dem „Widex Unique 330-FS“ in ruhiger Umgebung besser verstehen als mit dem „Magna 2 MG290-DVI“.

Die Auffassung, dass dieser Unterschied im Toleranzbereich liege, welcher durch naturgemäße Tagesschwankungen bedingt sei, wird nicht geteilt. Eine solche „Messtoleranz“ von 5%-Punkten ist zwar im Vertrag zu Komplettversorgung mit Hörsystemen erwähnt (siehe in Anlage 1 § 3 Nr. 9). Diese findet vorliegend jedoch keine Anwendung (s. oben). Zudem vermag der Vertrag zwischen Hilfsmittelerbringer und Krankenkasse nicht den Anspruch des Versicherten zu begrenzen. Auch spiegelt sich diese „Messtoleranz“ in der Hilfsmittel-Richtlinie in keiner Weise wider. Die Hilfsmittel-Richtlinie sieht bei Anwendung des vorgeschriebenen Freiburger Einsilbertests keine Abschläge für Messungenauigkeiten oder Schwankungen vor (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 14. Oktober 2022 – L 16 KR 336/21, Rn. 49; LSG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 19. März 2021 – L 26 KR 228/19, Rn. 52 und vom 19. August 2020, L 16 R 974/16, Rn. 33; a.A. LSG Baden-Württemberg, Urteile vom 30. November 2021 – L 11 R 3540/20, Rn. 33 und vom 2. Februar 2021, L 11 KR 2192/19, Rn. 29, jeweils juris). Die Krankenkassen können gegen Messergebnisse eines Hörgeräteakustikers, die die Überlegenheit eines zuzahlungsfreien Geräts belegen, daher nicht pauschal Messungenauigkeiten einwenden, die eine Abweichung von 5 % zugunsten des teuren Geräts erklären könnten. Anhaltspunkte dafür, dass es in der konkreten Testsituation zu Messungenauigkeiten gekommen sein könnte, sind nicht ersichtlich und von der Beklagten auch nicht vorgetragen. Gegebenenfalls hätte zudem die Möglichkeit bestanden, eine Wiederholung der Testung zu veranlassen. Findet eine solche erneute Testung nicht statt, so muss eine alleinige Orientierung an den Messergebnissen erfolgen (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 14. Oktober 2022 – L 16 KR 336/21, Rn. 49; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Dezember 2019 – L 9 KR 44/17, Rn. 36, juris). Denn wenn der Freiburger Sprachtest als derzeit am besten geeignet zur Überprüfung der Sprachverständlichkeit angesehen wird, dann muss er auch tatsächlich zugrunde gelegt werden. Bei der Berücksichtigung pauschaler Messtoleranzen ergäbe sich eine Verschiebung zuungunsten der betroffenen Versicherten. Denn auch wenn man unterstellen würde, dass 5 % im Bereich einer Messtoleranz liege, so ist es in diesen Fällen ebenso gut möglich, dass der tatsächliche Unterschied 5 % mehr, also 10 % beträgt. Die Messtoleranz ohne weitere Überprüfung stets „aufzurunden“ und das getestete (Festbetrags-)Gerät pauschal für gleichwertig im Vergleich zum nächstbesseren zu erklären, erscheint daher willkürlich und nicht durch sachliche Gründe gerechtfertigt (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 14. Oktober 2022 – L 16 KR 336/21, Rn. 49).

Der durch 5 % besseres Sprachverstehen im Störschall zu erlangende Gebrauchsvorteil gegenüber dem zuzahlungsfreien Gerät ist auch nicht als unwesentlich anzusehen (s. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 14. Oktober 2022 – L 16 KR 336/21, Rn. 50; a.A. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 30. November 2021 – L 11 R 3540/20, Rn. 33; Urteil vom 2. Februar 2021, L 11 KR 2192/19, Rn. 29, beide juris). Zwar ist zutreffend, dass im Freiburger Sprachtest ein Wort bei der Austestung eine Wertigkeit von 5 % hat, bei einem Unterschied von 5 % also gerade einmal ein einziges Wort mehr bzw. weniger verstanden wurde. Angesichts des Umstandes, dass insgesamt lediglich 20 Wörter abgefragt werden, ist dieser Unterschied jedoch durchaus erheblich. Wenn übertragen auf den Alltag des Hörgeminderten mit dem aufzahlungspflichtigen Hörgerät jedes 20. Wort besser verstanden wird als mit dem Vergleichsgerät, so kann diesem Gerät die Tauglichkeit für einen weitergehenden Ausgleich des Funktionsdefizits und damit eine maßgebliche Verbesserung auf dem Weg zu dem erstrebten Gleichziehen des Versicherten mit dem Hörvermögen gesunder Menschen nicht abgesprochen werden. Es handelt sich dabei nicht um bloße Komfortaspekte, sondern um das zentrale Anliegen eines verbesserten Hörens als solches, weshalb unter Beachtung der Teilhabeziele des Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch (vgl. § 11 Abs. 2 Satz 3 SGB V), insbesondere § 1 SGB IX (Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft) ein großzügiger Maßstab anzulegen ist (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteile vom 14. Oktober 2022 – L 16 KR 336/21, Rn. 50 mit Verweis auf BSG, Urteil vom 7. Mai 2020 – B 3 KR 7/19 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 54, Rn. 29). 

Dies muss umso mehr gelten, wenn es - wie bei der Klägerin - um den Ausgleich einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit geht. Denn je größer die Hörminderung ist, um so bedeutender ist für den Betroffenen ein auch nur geringer Ausgleich durch ein Hörgerät. Dies gilt nicht nur hinsichtlich des besseren Verstehens. Die Klägerin hat vielmehr im Erörterungstermin anschaulich dargelegt, welche Belastung und Anspannung die Hörminderung im Alltag bedeutet und wie sich dies z.B. auf den Blutdruck auswirke. Auch der Sachverständige ist in seinem Gutachten zu dem Ergebnis gekommen, dass 5 % besseres Sprachverstehen im Falle der an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit der Klägerin bedeutend sind und ihr eine „signifikant“ bessere Kommunikation ermöglicht. 

Die Klägerin hat auch den Beschaffungsweg eingehalten. Ansprüche nach § 13 Abs. 3, 2. Alt. SGB V sind nur gegeben, wenn die Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dem Versicherten "dadurch" Kosten für die selbst beschaffte Leistung entstanden sind. Dazu muss die Kostenbelastung des Versicherten wesentlich auf der Leistungsversagung der Krankenkasse beruhen. Hieran fehlt es, wenn diese vor Inanspruchnahme der Versorgung mit dem Leistungsbegehren nicht befasst worden ist, obwohl dies möglich gewesen wäre oder wenn der Versicherte auf eine bestimmte Versorgung von vornherein festgelegt war (vgl. BSG, Urteil vom 24. April 2018 – B 1 KR 29/17 R, Rn. 10, und vom 30. November 2017 – B 3 KR 11/16 R, Rn. 18; Schifferdecker, Kasseler Kommentar, § 13 Rn. 85).

Selbst beschafft im Sinne des § 13 Abs. 3 SGB V ist ein Hilfsmittel allerdings nicht schon mit dessen Auswahl. Die Auswahl ist dem Verfahren zur Bewilligung des Hilfsmittels vielmehr vorgeschaltet. Entscheidend ist ein unbedingtes Verpflichtungsgeschäft zwischen Leitungserbringer und Versichertem. Im Bereich der Versorgung mit Hörhilfen ist ein Ursachenzusammenhang noch gegeben, wenn der Versicherte sich erst nach der Lieferung und Anpassung des Geräts an die Krankenkasse wendet, was mit der an den medizinisch-technischen Notwendigkeit orientierten Praxis in diesem Bereich begründet wird, nach der die Krankenkasse über einen Versorgungsantrag in der Regel erst entscheidet, wenn sich der Versicherte ggf. nach Erprobung mehrerer Geräte für ein bestimmtes Gerät entschieden hat (BSG, Urteil vom 23. Januar 2003, B 3 KR 7/02 R, Rn. 36; BSG, Urteil vom 20. Mai 2003, B 1 KR 9/03 R, jeweils juris). Anders ist es dann, wenn der Versicherte bereits vor der Entscheidung der Kasse eine endgültige rechtliche Verpflichtung eingeht und der Leistungserbringer auch im Fall der Ablehnung der Leistung durch die Krankenkasse die Abnahme und Zahlung des Hilfsmittels verlangen kann (BSG, Urteil vom 17. Dezember 2009, B 3 KR 20/08 R, Rn. 12 juris). Bei der Beurteilung der Vorfestlegung eines Versicherten ist im Bereich der Hörgeräteversorgung der besondere Beratungs- und Beschaffungsweg zu berücksichtigen, den die Leistungserbringer mit den Krankenkassen vertraglich vereinbart haben. Hier ist es allgemein üblich, dass sich die Krankenkassen ihrer leistungsrechtlichen Verantwortung durch sog. Verträge zur Komplettversorgung entziehen und die Versorgung mit Hörgeräten in die Hände des Leistungserbringers legen. Eine anspruchsschädliche Vorfestlegung kann nur angenommen werden, wenn der Versicherte von vorneherein jede sinnvolle, d.h. auf eine ausreichende Versorgung gerichtete Beratung durch den Leistungserbringer ablehnt, weil er bereits auf eine bestimmte Leistung so fixiert ist, dass kein Raum für eine offene Prüfung und Beratung bleibt (BSG, Beschluss vom 28. September 2017, B 3 KR 7/17 B, Rn. 14 juris; Helbig, in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl. 2020, § 13 Rn. 78; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 14. Oktober 2022 – L 16 KR 336/21, Rn. 51). Dies ist dann der Fall, wenn der Versicherte das Testen verschiedener, auch eigenanteilsfreier Hörgeräte ablehnt, obwohl die gewünschte Hörgeräteversorgung keine im Verhältnis relevante funktionale Verbesserung im Alltagsleben bietet (BSG, Beschluss vom 28. September 2017, B 3 KR 7/17 B, Rn. 15 juris). Hierfür bestehen im Fall der Klägerin keine Anhaltspunkte.

Dem Anspruch der Klägerin steht aber auch nicht entgegen, dass sie vor Erlass der Bescheide vom 25. Juli 2019 ein bindendes Verpflichtungsgeschäft abgeschlossen hat. Die Klägerin hat vielmehr zunächst verschiedene Hörgeräte getestet und ist schließlich zu dem Ergebnis gelangt, dass das streitige Hörgerätesystem das geeignetste ist. Nach diesem Auswahlprozess hat der Akustiker den Kostenvoranschlag erstellt, den er an die Beklagte weitergeleitet hat. Eine solche Auswahlentscheidung des Hörgeschädigten ist letztendlich erforderlich, damit der Akustiker einen auf ein bestimmtes Gerät bezogenen Kostenvoranschlag erstellen kann. Mit dieser Auswahlentscheidung ist die Klägerin kein bindendes Verpflichtungsgeschäft eingegangen. Dies änderte sich auch nicht damit, dass die Klägerin die ausgewählten Hörgeräte zur Nutzung mitgenommen hat (vgl. BSG, Urteil vom 24. Januar 2013, B 3 KR 5/12 R, juris, Rn. 44). Die Mitnahme und Nutzung der Hörgeräte nach der Testphase ist vielmehr ein gängiges Vorgehen, das für sich allein noch kein Verpflichtungsgeschäft begründet. (vgl. Hess. LSG, Urteil vom 2. August 2022, L 1 VE 29/21, juris Rn. 57 ff.). Eine Verpflichtungserklärung in Bezug auf die den Festbetrag übersteigenden Kosten, die ein Verpflichtungsgeschäft hätte begründen können (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 11. November 2015, L 16 R 656/14, Rn. 21 und vom 19. März 2021, L 26 KR 228/19, Rn 55 jeweils juris), hat die Klägerin hingegen nicht abgegeben. Auch die lange Zeit zwischen Überlassung der Hörgeräte und Rechnungsstellung begründet kein Verpflichtungsgeschäft. Aufgrund der Vorgeschichte (erfolgloses Antragsverfahren wegen eines Fehlers des Akustikers) und der Tatsache, dass die Klägerin bereits seit Jahren Kundin der Hörgeräte C. GmbH war, ist vielmehr nachvollziehbar, dass die Hörgeräte C. GmbH nicht auf eine zügige Begleichung der Kosten durch die Klägerin noch vor dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens gedrängt hat.

Soweit das Sozialgericht darauf abgestellt hat, dass nach der Auslieferung der Hörgeräte an die Klägerin keine Evaluation der Leistung des Hörgerätesystems nach einer bestimmten Zeitspanne erfolgt sei, ist darauf hinzuweisen, dass der HNO-Arzt der Klägerin am 20. Mai 2019 die Zweckmäßigkeit der Versorgung bescheinigt hat.

Vor diesem Hintergrund ist rechtlich nicht relevant, ob der Antrag der Klägerin (Schreiben der Hörgeräte C. GmbH vom 21. Dezember 2018) schon vor dem 24. Juli 2019 bei der Beklagten eingegangen ist. 

Der Beiladung des Rentenversicherungsträgers war nicht erforderlich, da der Anspruch der Klägerin bereits aufgrund der Vorschriften des SGB V begründet ist. Die beruflichen Anforderungen an die Hörgeräteversorgung sind vorliegend nicht entscheidungsrelevant. 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen von § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
 

Rechtskraft
Aus
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