S 10 SO 1830/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
10.
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 10 SO 1830/21
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Der Leistungsträger nach dem SGB II hat auch dann gegen den Leistungsträger nach dem SGB XII einen Erstattungsanspruch, wenn er es unterlassen hat, einen Antrag gemäß § 5 Abs. 3 SGB II beim zuständigen Rentenversicherungsträger zu stellen und kein Ermessensfehler ersichtlich ist

Bei den Regelungen der §§ 102 ff SGB X handelt es sich um ein geschlossenes System, das sämtliche Ausgleichsansprüche abschließend umfasst

Eines Rückgriffs auf § 86 SGB X aufgrund des Prinzips der gegenseitigen Rücksichtnahme bedarf es nicht

 

Tenor:

1. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 2.368,22 € zu leisten.

 

2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

 

3. Die Berufung wird zugelassen.

 

4. Der Streitwert wird endgültig auf 2.368,22 € festgesetzt.

 

Tatbestand

 

Streitgegenständlich ist die Höhe des vom Kläger gegenüber dem Beklagten geltend gemachte Erstattungsanspruch nach § 44a Abs. 2 SGB II in Verbindung mit § 103 SGB X.

 

Der Kläger leistete dem am 30.11.1969 geborenen leistungsberechtigten XXX (im Folgenden PH) Leistungen der Grundsicherung nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) seit dem 01.05.2018. Nachdem der ärztliche Dienst der Agentur für Arbeit am 13.02.2019 festgestellt hatte, dass der PH für einen Zeitraum von voraussichtlich länger als 6 Monate täglich nur weniger als 3 Stunden täglich Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten könne, zeigte der Kläger mit Schreiben vom 18.02.2019 seinen Erstattungsanspruch beim Beklagten als zuständigen Träger für die Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) an. Er verwies hierbei darauf, dass nach seinen Feststellungen ein Anspruch des PH auf eine Rente wegen Erwerbsminderung nicht in Betracht komme, da die rentenrechtlichen Zeiten offensichtlich nicht erfüllt seien. Zugleich forderte der Kläger den PH auf, einen entsprechenden Antrag nach dem SGB XII beim Beklagten zu stellen.

 

Gegen die Feststellung des Klägers, der PH sei nicht erwerbsfähig, erhob der Beklagte am 21.02.2019 Widerspruch nach § 44a Abs. 1 Satz 2 SGB II. Der Kläger leitete daraufhin das ihm obliegende Verfahren ein und forderte den Träger der gesetzlichen Rentenversicherung auf, eine gutachterliche Stellungnahme abzugeben. Der Kläger leistete dem PH unterdessen weiterhin Alg II — ungeachtet seiner eigenen Feststellung, dieser sei nicht erwerbsfähig.  Der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung stellte am 09.10.2019 gemäß § 44a Abs. 1 SGB II in Verbindung mit § 109a Abs. 3 SGB VI bindend für die beteiligten Träger fest, dass der Leistungsberechtigte PH auf Dauer voll erwerbsgemindert ist. Der Kläger stellte daraufhin die Leistungsgewährung nach dem SGB II zum 31.10.2019 ein. Der PH beantragte am 04.11.2019 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII beim Beklagten.

 

Mit Schreiben vom 13.11.2019 forderte der Kläger vom Beklagten für den Zeitraum 01.02.2019 bis zum 31.10.2019 die Erstattung in Höhe von insgesamt 7.281,00 €.

 

Der Beklagte bewilligte dem PH mit Bescheid vom 18.11.2019 Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB XII ab dem 01.11.2019 und forderte ihn zugleich dazu auf, einen Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung bei der Deutschen Rentenversicherung zu stellen. Der Beklagte seinerseits machte mit Schreiben vom gleichen Tag einen Erstattungsanspruch bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Baden-Württemberg geltend. Vorsorglich und fristwahrend stellte der Beklagten selbst bei der DRV einen Antrag gemäß § 95 SGB XII.

 

Am 19.11.2019 teilte die DRV Baden-Württemberg dem Beklagten mit, dass ein formeller Rentenantrag bislang nicht vorliege. Für die Prüfung, ob Versicherungszeiten des PH in Frankreich vorliegen würden, sei die DRV Rheinland-Pfalz zuständiger Rentenversicherungsträger.

 

Die DRV Rheinland-Pfalz teilte dem Beklagten am 20.08.2020 mit, dass dem PH ausgehend von einem Leistungsfall am 09.11.2018 und einem formellen Rentenantrag vom 12.05.2020 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 01.05.2020 bewilligt worden sei. Auf Rückfrage des Beklagten teilte die DRV Rheinland-Pfalz am 02.09.2020 mit, dass der formlos gestellte Rentenantrag des Beklagten vom November 2019 übersehen worden sei. Der Rentenantrag würde überprüft und für die Zeit ab 01.11.2019 bewilligt werden. Außerdem teilte die DRV mit, dass ein formloser Rentenantrag seitens des Klägers nicht vorliegen würde und der erste Rentenantrag auf den 18.11.2019 durch den Beklagten datiere.

 

Mit Schreiben vom 28.09.2020 erinnerte der Kläger an seinen Erstattungsanspruch.

 

Am 01.10.2020 erklärte der Beklagte gegenüber dem Kläger, dass der PH für die Zeit ab dem 01.11.2019 einen Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung habe, da erst im November 2019 ein formloser Rentenantrag gestellt worden sei. Voraussichtlich hätte bereits ab dem 01.02.2019 ein Rentenanspruch bestanden. Die Erwerbsminderungsrente stelle eine vorrangige Leistung dar, die zu realisieren gewesen wäre. Damit seien die Leistungen durch den Kläger teilweise zu Unrecht erbracht worden. Die DRV sei um Prüfung gebeten worden, in welcher Höhe ein Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit ab dem 01.02.2019 bestanden hätte. Die Entscheidung über den geltend gemachten Erstattungsanspruch müsse man solange zurückstellen.

 

Das JC trat mit E-Mail vom 11.11.2020 der Ansicht des Beklagte entgegen. Bereits mit dem Schreiben vom 18.02.2019 sei mitgeteilt worden, dass ein Rentenanspruch offensichtlich nicht bestehen würde, da der PH bereits seit mehr als 15 Jahren arbeitslos gewesen sei und somit keine Pflichtbeiträge aus einer versicherten Beschäftigung entrichtet hätte (§ 43 SGB VI). Dass nun die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen doch vorliegen würden sei dem JC erst mit der gutachterlichen Stellungnahme der DRV vom 09.10.2019 bekannt geworden. Somit hätte eine frühere Realisierung des Rentenanspruchs nicht erfolgen können. Des Weiteren sei festzuhalten, dass die Begutachtung durch die DRV am 04.03.2019 beantragt, aber erst am 11.09.2019 durchgeführt worden sei. Im Übrigen stelle sich die Frage der rechtmäßigen oder rechtswidrigen Leistungserbringung gar nicht, denn gemäß § 40a S. 2 SGB II bestehe der Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X auch, soweit die Erbringung des Alg II allein auf Grund einer nachträglich festgestellten Erwerbsminderung rechtswidrig gewesen sei. Der Kostenerstattungsanspruch sei zu befriedigen.

 

Der Beklagte erwiderte am 03.12.2020, dass der PH nach den Feststellungen der DRV bereits seit dem 09.11.2018 erwerbsunfähig sei und zu diesem Zeitpunkt einen Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente gehabt hätte. Mit Schreiben vom 18.02.2019 habe der Kläger mitgeteilt, dass der PH nach seinen Feststellungen erwerbsunfähig sei. Trotz der eingeleiteten Begutachtung durch die DRV sei die Stellung eines Rentenantrags unterblieben. Die formlose Antragstellung mit Anmeldung eines Erstattungsanspruchs sei wegen fehlerhafter Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen unterblieben, hätte aber vorsorglich erfolgen müssen. In der Zeit vom 01.02.2019 bis zum 31.10.2019 seien mithin Leistungen teilweise zu Unrecht erbracht worden. Es könne vom erstattungspflichtigen Leistungsträger nicht verlangt werden, eine rechtswidrige Leistung auszugleichen. Dem Grunde nach bestehe der Erstattungsanspruch, er könne aber nur abzüglich der Rente befriedigt werden.

 

Mit Schreiben vom 04.12.2020 teilte der Beklagte dem Kläger mit, dass der PH nach den Feststellungen der DRV ab dem November 2019 einen Anspruch auf eine Netto-Rente in Höhe von 385,73 € habe. Unter Abzug der Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge hätte der PH in der Zeit vom 01.02.2019 bis zum 30.06.2019 einen Anspruch auf eine Rente in Höhe von 373,84 € gehabt. Abzüglich der (fiktiven Rente) ergebe sich ein zu erstattender Betrag in Höhe von 4.373,44 €.       

 

Am 09.12.2020 teilte der Kläger dem Beklagten mit, dass der teilweise Erstattungsanspruch nicht akzeptiert werde.

 

Deswegen hat er am 02.07.2021 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben.

 

Zu deren Begründung trägt er vor, er habe (als SGB II-Träger) einen Erstattungsanspruch nach § 44a Abs. 3 SGB II i. V. mit § 103 SGB X gegen den Beklagten. Die (Spezial)Vorschrift des § 44 Abs. 3 SGB II regele abschließend die Erstattungsansprüche, die an Leistungen des Jobcenters anknüpfen würden, die bis zur Entscheidung über den Widerspruch nach § 44 Abs. 1 Satz 6 SGB II geleistet worden seien (RdNr. 32 zu § 44a SGB II LPK-SGB II, Münder-Geiger). § 44 Abs. 3 Satz 1 SGB II ordne die Anwendung von § 103 SGB X konstitutiv an; ein Erstattungsanspruch gegen den Sozialhilfeträger bestünde an sich sonst nicht (RdNr. 84 zu § 44a SGB II Eicher-Luik). Der Umfang dieses Erstattungsanspruches richte sich nach den für den Beklagten als zuständigen Leistungsträger geltenden Rechtsvorschriften (§ 103 Abs. 2 SGB X i. V. mit § 44 Abs. 3 SGB II). Der Beklagte sei nicht berechtigt gewesen, den Erstattungsanspruch des Klägers um einen rein fiktiven Betrag eines Rentenanspruches zu kürzen, wie er dies in seinem Schreiben vom 04.12.2020 dokumentiert habe. Die gesetzlichen Regelungen zum Umfang des Erstattungsanspruches würden eine solche Kürzung des Anspruches des Klägers auf Erstattung seiner Aufwendungen nicht vorsehen. Eine Anrechnung werde auch dann nicht zulässig, wenn der Beklagte meine, das Jobcenter habe es pflichtwidrig unterlassen, den Leistungsberechtigten PH frühzeitig zur Rentenantragstellung aufzufordern. Solche Überlegungen zum „Ausgleichs eines Schadens oder von Nachteilen" hätten den Beklagten aber — wie seinen Begründungen im Schreiben vom 04.12.2020 zu entnehmen sei — geleitet. Der Beklagte sei nicht berechtigt, dem Kläger auf diesem Wege einen „Nachteilsausgleich" aufzuerlegen, denn er hätte dem Leistungsberechtigten PH bis 31.10.2019 Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB XII ohne Anrechnung einer Rentenleistung erbringen müssen. Die Auffassung des Beklagten, er sei berechtigt, die Höhe des Erstattungsanspruches an den Kläger unter Hinweis auf § 86 SGB X zu begrenzen, werde nicht geteilt. Auf die Rechtsprechung des BSG in seinem Urteil vom 28.03.2000 – B 8 KN 3/98 werde verwiesen. Bei den Vorschriften des §§ 102 ff SGB X handele es sich um ein geschlossenes Regelungssystem, das abschließend sämtliche Ausgleichsansprüche umfasse. Der Anspruch des Klägers beruhe auf der Vorschrift des § 103 SGB X iVm §  44a Abs. 3 Satz 1 SGB II. Diese Spezialvorschrift verweise auch – wie die Regelungen des §§ 102 ff SGB X – auf ein geschlossenes System, das abschließend alle Ausgleichsansprüche erfasse und bestimme. Der Kläger ändere indes seine mit der Klageschrift erhobene Klage. Es sei übersehen worden, dass die Spezialvorschrift des § 44a Abs. 3 Satz 2 SGB II einen Erstattungsanspruch erst ab dem Tag des Widerspruchs gegen die Feststellung des Klägers über die (nicht vorliegende) Erwerbsfähigkeit des Leistungsberechtigten normiere; das sei der 21.02.2019 gewesen. Mit dem folgenden geänderten Antrag vermindere er seinen Anspruch auf Erstattung auf den Zeitraum ab 21.02.2019.

 

Der Kläger beantragt,

 

der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 2.368,22 € zu leisten.

 

Der Beklagte beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Der Beklagte hält an seiner Rechtsauffassung fest. Die Rechtsbeziehungen zwischen unterschiedlichen Sozialleistungsträgern in einem gegliederten Sozialleistungssystem würden es nach der Rechtsprechung des BSG im Rahmen der §§ 102 ff SGB X erfordern, dass jeder Leistungsträger die Regelungsbefugnis des zuständigen Trägers respektiere und seinen eigenen Entscheidungen zugrunde lege. Dies spiegele sich im Prinzip der gegenseitigen Rücksichtnahme wider (§ 86 SGB X). Der Kläger habe es im vorliegenden Fall versäumt, den vorrangigen Rentenanspruch des Leistungsberechtigten zu realisieren. Der Kläger habe Hinweise gehabt, dass beim PH Wartezeiten vorhanden gewesen seien. Es habe damit zumindest die Pflicht bestanden, dem PH nahezulegen, sich (auch) von dem Rentenversicherungsträger beraten zu lassen. Tue ein Sozialhilfeträger dies nicht, komme eine Amtshaftung gem. § 839 Abs. 1 S. 1 BGB iVm Art. 34 S. 1 GG in Betracht (zum Vorstehenden BGH 2. 8. 2018 - III ZR 466/16). Nach Ablauf der gesetzten Frist hätte der Kläger selbst den entsprechenden formlosen Rentenantrag bei der DRV stellen müssen (§ 5 Abs. 3 SGB II). Dies habe er versäumt. Das BSG habe in seiner Entscheidung vom 13.09.1984 - 4 RJ 37/83 geurteilt, dass ein Versicherungsträger dann erneut in eine Sachprüfung einzutreten habe, wenn ein anderer Leistungsträger bei streitiger Leistungsgewährung dies in Ausfüllung des § 86 SGB X verlange. Seine frühere Entscheidung müsse er ändern, soweit sie sich als offensichtlich fehlerhaft erweise (vgl. Blüggel in Schütze, SGB X, 9. Auflage 2020). Dem in Anspruch nehmenden Leistungsträger sei es aufgrund der Pflicht zur engen Zusammenarbeit nach § 86 SGB X dann versagt, auf der getroffenen Entscheidung zu beharren, wenn sich diese als offensichtlich fehlerhaft erweise und sich dies zum Nachteil des anderen Leistungsträgers auswirke. Hierbei sei zu prüfen, ob die getroffene Entscheidung objektiv unter Berücksichtigung der verfügbaren Entscheidungsgrundlagen dem materiellen Recht deutlich widerspreche (vgl. BSG, SozR 3-1300, § 86 Nr. 3; BSG, SozR 1300, § 103 Nr. 2 und 3; BSG, SozR 3-1300, § 103 Nr. 4). Offensichtlich sei eine Fehlerhaftigkeit in der Regel dann, wenn sie sozusagen „auf der Hand" liege, die Rechtsanwendung des die Leistung bewilligenden oder versagenden Leistungsträgers aufgrund der gegebenen Sach- und Rechtslage mithin offenkundig nicht vertretbar sei. Im vorliegenden Streitfall habe der Kläger offenkundig fehlerhaft gehandelt, in dem er den vorrangigen Leistungsanspruch gegenüber dem Träger der Rentenversicherung nicht realisiert habe.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte sowie auf die Verwaltungsakten des Klägers und des Beklagten Bezug genommen.

 

 

Entscheidungsgründe

 

I. Die als echte Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG) statthafte Klage ist auch im Übrigen zulässig. Sie ist auch begründet, denn der Kläger hat nach § 44a Abs. 3 SGB II iVm § 103 SGB X gegen den Beklagten einen Anspruch auf Kostenerstattung.

 

1. Gemäß § 44a Abs. 1 SGB II stellt die Agentur für Arbeit fest, ob die oder der Arbeitsuchende erwerbsfähig ist. Der Entscheidung können widersprechen:

 

(1.) der kommunale Träger,

(2.) ein anderer Träger, der bei voller Erwerbsminderung zuständig wäre, oder

(3.) die Krankenkasse, die bei Erwerbsfähigkeit Leistungen der Krankenversicherung zu erbringen hätte.

 

Der Widerspruch ist zu begründen. Im Widerspruchsfall entscheidet die Agentur für Arbeit, nachdem sie eine gutachterliche Stellungnahme eingeholt hat. Die gutachterliche Stellungnahme erstellt der nach § 109a Absatz 4 des Sechsten Buches zuständige Träger der Rentenversicherung. Die Agentur für Arbeit ist bei der Entscheidung über den Widerspruch an die gutachterliche Stellungnahme nach Satz 5 gebunden. Bis zu der Entscheidung über den Widerspruch erbringen die Agentur für Arbeit und der kommunale Träger bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende.

 

Entscheidet die Agentur für Arbeit, dass ein Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht besteht, stehen ihr und dem kommunalen Träger Erstattungsansprüche nach § 103 des Zehnten Buches zu, wenn der oder dem Leistungsberechtigten eine andere Sozialleistung zuerkannt wird. § 103 Absatz 3 des Zehnten Buches gilt mit der Maßgabe, dass Zeitpunkt der Kenntnisnahme der Leistungsverpflichtung des Trägers der Sozialhilfe, der Kriegsopferfürsorge und der Jugendhilfe der Tag des Widerspruchs gegen die Feststellung der Agentur für Arbeit ist.

(§ 44a Abs. 3 SGB II).

 

Hat ein Leistungsträger Sozialleistungen erbracht und ist der Anspruch auf diese nachträglich ganz oder teilweise entfallen, ist gemäß § 103 Abs. 1 SGB X der für die entsprechende Leistung zuständige Leistungsträger erstattungspflichtig, soweit dieser nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat.

 

Der Umfang des Erstattungsanspruchs richtet sich nach den für den zuständigen Leistungsträger geltenden Rechtsvorschriften (§ 103 Abs. 2 SGB X).

 

Die Absätze 1 und 2 gelten gegenüber den Trägern der Eingliederungshilfe, der Sozialhilfe, der Kriegsopferfürsorge und der Jugendhilfe nur von dem Zeitpunkt ab, von dem ihnen bekannt war, dass die Voraussetzungen für ihre Leistungspflicht vorlagen

(§ 103 Abs. 3 SGB X).

 

2. Der Kläger hat gegen den Beklagte nach Maßgabe des § 44a SGB II iVm § 103 SGB X den geltend gemachten Erstattungsanspruch. Bei den genannten Regelungen handelt es sich um ein abgeschlossenes System. Eines Rückgriffs auf die Vorschrift des § 86 SGB X bedarf es deswegen nicht. Das erkennende Gericht schließt sich insoweit der Rechtsprechung des BSG in seiner Entscheidung vom 28.03.2000, Az: B 8 KN 3/98 an, in welchem unter Hinweis auf die Gesetzesbegründung (BT-Drucks 9/95, S. 24 vor §§ 108 ff des Entwurfs) ausgeführt wurde, dass es sich bei den §§ 102 ff SGB X um ein geschlossenes Regelungssystem handelt, das abschließend sämtliche Ausgleichsansprüche umfasst (BSG, Urteil vom 28. März 2000 – B 8 KN 3/98 U R –, BSGE 86, 78-86, SozR 3-1300 § 111 Nr 8, SozR 3-1300 § 86 Nr 4, SozR 3-1720 § 17 Nr 2, Rn. 22). Auch wenn dem Beklagten darin zuzustimmen ist, dass der dieser Entscheidung zu Grunde liegende Sachverhalt ein gänzlich anderer ist, als der im hiesigen Rechtsstreit zu entscheidende, so kommt doch dieser Entscheidung, was die Anwendbarkeit der Vorschriften der §§ 102 ff SGB X anbelangt, eine ratio decidendi zu. Die Kammer vermag nicht, über den in diesen Vorschriften zu Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers hinwegzugehen. Insbesondere ergibt sich auch nicht aus § 86 SGB X eine hiervon abweichende Entscheidung. Der Beklagte hat selbst in seinem Schriftsatz vom 31.03.2022 detailliert dargelegt, dass sowohl in Rechtsprechung als auch in Literatur die herrschende Meinung dahingeht, dass grundsätzlich eine von einem Leistungsträger getroffene Entscheidung zum Zwecke der Erstattung nicht noch einmal überprüft werden soll. Vielmehr soll der nachrangige Leistungsträger die Entscheidung hinnehmen. Soweit der Beklagte dann die Vorschrift des § 86 SGB X heranzieht, um bei offensichtlicher Fehlerhaftigkeit ein Festhalten an dem geltend gemachten Erstattungsanspruch zu negieren, kann sich die Kammer zumindest im hier zu Grunde liegenden Sachverhalt dieser Ansicht nicht anschließen. Letztlich kann es also im zu beurteilenden Fall dahingestellt bleiben, ob § 86 SGB X trotz des geschlossenen Systems der §§ 102 ff. SGB X eine Rücksichtnahmepflicht des erstattungsberechtigten Leistungsträgers begründet.

 

Eine Offensichtlichkeit der Fehlerhaftigkeit ist nämlich im vorliegenden Fall nicht gegeben. Entgegen der Ansicht des Beklagten liegt kein Verstoß des Klägers gegen den Grundsatz der gegenseitigen Rücksichtnahme gemäß § 86 SGB X im Hinblick auf die Vorschrift des § 5 Abs. 3 SGB II vor. Auch nicht im Hinblick auf die Tatsache, dass sich der Erstattungsanspruch grundsätzlich nach den Regelungen des zur Erstattung herangezogenen Leistungsträgers richtet. 

 

a. Gemäß § 103 Abs. 2 SGB X richtet sich der Umfang des Erstattungsanspruchs nach den für den zuständigen Leistungsträger geltenden Rechtsvorschriften. Das Abstellen auf die Rechtsvorschriften des letztendlich zuständigen Leistungsträgers erklärt sich daraus, dass dem zuständigen Träger keine höheren Aufwendungen entstehen sollen als ihm bei unmittelbarer Leistungsgewährung entstanden wären, da lediglich der Zustand wiederhergestellt werden soll, der bestünde, wenn die Leistungsgewährung von Anfang an in der richtigen Zuordnung des Leistungsrechts erfolgt wäre (Prange in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., § 103 SGB X (Stand: 25.08.2022), Rn. 52; vgl. auch BSG v. 22.05.1985 - 1 RA 45/84 - juris Rn. 25 - BSGE 58, 128BSG v. 29.11.1985 - 4a RJ 84/84 - juris Rn. 17 - SozR 1300 § 103 Nr. 5; vgl. auch Przetak, Erstattungsansprüche im Sozialrecht, Diss., 1990, S. 131. ).

 

Nach §§ 19 Abs. 2, 41 Abs. 1 SGB XII ist Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel dieses Buches Personen zu leisten, die die Altersgrenze nach § 41 Absatz 2 erreicht haben oder das 18. Lebensjahr vollendet haben und dauerhaft voll erwerbsgemindert sind, sofern sie ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus ihrem Einkommen und Vermögen, bestreiten können. Der Einsatz des Einkommens richtet sich nach den §§ 43 Abs. 1 iVm §§ 82 bis 84 SGB XII. Danach gehören zum Einkommen alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert. Hierzu gehören auch Erwerbsminderungsrenten nach den Vorschriften des § 43 SGB VI. Nach dem sowohl im SGB II als auch im SGB XII geltenden Zuflussprinzip, kann ein Zufluss aber nur dann als Einkommen berücksichtigt werden, wenn er gegenwärtig zur Deckung des Bedarfs eingesetzt werden kann (vgl. Schmidt in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 82 SGB XII (Stand: 01.02.2020), Rn. 38). Fließt ein Einkommen (hier der nur vermutete Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung im Zeitraum vom 01.02.2019 — 31.10.2019) tatsächlich gar nicht zu, weil ein Anspruch erst ab 01.11.2019 besteht, dann darf der Träger der Grundsicherung nach dem SGB XII ein solches Einkommen auch nicht berücksichtigen.

 

b. Die Kürzung des geltend gemachten Erstattungsanspruchs um die fiktive Rente des PH ergibt sich auch nicht aus der Vorschrift des § 5 Abs. 3 SGB II.

 

Stellen Leistungsberechtigte trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag auf Leistungen eines anderen Trägers nicht, können die Leistungsträger nach diesem Buch den Antrag stellen sowie Rechtsbehelfe und Rechtsmittel einlegen (§ 5 Abs. 3 SGB II).

 

Aus § 5 Abs. 3 SGB II ist eine Pflicht zur Antragstellung durch den Kläger nicht zu entnehmen. Vielmehr handelt es sich um eine Ermessensvorschrift. Der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende kann – wenn der Hilfesuchende der Aufforderung zur Antragstellung nicht nachkommt – sein Ermessen dahingehend ausüben, den erforderlichen Antrag nunmehr selbst zu stellen (G. Becker in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 5 (Stand: 19.01.2023), Rn. 104). Eine Ermessensentscheidung ist rechtswidrig bei Ermessensnichtgebrauch, Ermessensunterschreitung, Ermessensüberschreitung und Ermessensfehlgebrauch. Das Gericht darf bei Ermessensüberprüfung nicht sein eigenes Ermessen an die Stelle des Verwaltungsermessens setzen. Bei der Überprüfung der Ermessensentscheidung findet nur eine Rechtskontrolle, keine Zweckmäßigkeitsüberprüfung statt. Das Gericht überprüft lediglich, ob einer der aufgeführten Ermessensfehler vorliegt (vgl. hierzu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 54 Rdnr. 27ff mwN).

 

Ermessensfehler kann die Kammer nicht feststellen. Insbesondere liegt keine Ermessensunterschreitung, keine Ermessensüberschreitung und auch kein Ermessensfehlgebrauch vor. Ein Ermessensnichtgebrauch ist ebenfalls nicht ersichtlich. Den vorliegenden Verwaltungsakten des Klägers und des Beklagten lässt sich entnehmen, dass der Kläger Ermessenserwägungen durchgeführt hat und seine Entscheidung, einen formlosen Rentenantrag bei der DRV anstelle des PH nicht zu stellen mit einer entsprechenden Begründung versehen hat. Der PH war nach Aktenlage bereits seit 15 Jahren arbeitslos. Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II bezog er seit dem 01.05.2018. Der Kläger gelangte im Rahmen einer überschlägigen Prüfung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des § 43 SGB VI zu dem Ergebnis, dass die rentenrechtliche Wartezeit offensichtlich nicht erfüllt ist. Deswegen ist die Entscheidung des Klägers im Zusammenhang mit § 5 Abs. 3 SGB II rechtlich nicht zu beanstanden. Überdies ist zu beachten, dass eine Rente wegen Erwerbsminderung neben versicherungsrechtlichen Voraussetzungen auch das Vorliegen der persönlichen Voraussetzungen, nämlich das Vorliegen der Erwerbsminderung aus medizinischen Gründen, bedingt. Die Entscheidung, ob die persönlichen Voraussetzungen erfüllt sind, obliegt aber nach dem klaren Willen des Gesetzgebers der Rentenversicherung. Der Kläger hat die Feststellung der Erwerbsfähigkeit gemäß § 44a SGB II eingeleitet und war aufgrund § 44a Abs. 1 S.7 SGB II verpflichtet solange zu leisten bis eine Entscheidung über den Widerspruch möglich war. Dies war erst möglich nach der verbindlichen Feststellung der Deutschen Rentenversicherung. Insofern ist dem Kläger kein fehlerhaftes Verhalten vorzuwerfen. Ein Fall einer Ermessensreduzierung auf Null ist vor diesem Hintergrund nicht ersichtlich.

Nach alledem war der Klage stattzugeben.

II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.

III. Die Berufung ist gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen.

IV. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 52 Abs. 3 GKG.

Rechtskraft
Aus
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