L 37 SF 83/22 EK R

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungsklage bei überlanger Verfahrensdauer
Abteilung
37
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 37 SF 83/22 EK R
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
B 10 ÜG 5/23 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1.    Etwaige in der Zeit zwischen März und Mai 2020 aufgetretene Phasen der gerichtlichen Inaktivität stellen regelmäßig keine dem Staat zuzurechnenden Verzögerungszeiten dar (Anschluss an BFH, Urteil vom 27.10.2021 – X K 5/20 – juris, Rn. 34 ff.). Für diesen Zeitraum ist regelmäßig davon auszuge-hen, dass Verzögerungen der Corona-Pandemie geschuldet sind, ohne dass sich dies unmittelbar den Akten entnehmen lassen muss. Dies gilt gleicher-maßen für Verzögerungen, die im Sitzungsbetrieb aufgetreten sind, wie für solche im allgemeinen Geschäftsablauf. 

2.    Für Phasen der gerichtlichen Inaktivität ab Juni 2020 kann sich der Beklagte nicht mehr darauf berufen, dass diese auf Ursachen beruhen, die er weder beeinflussen kann noch sonst zu verantworten hat. 


 

Die Klage wird abgewiesen.

 

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

 

Die Revision wird zugelassen.

 

 

Tatbestand

 

Die Klägerin begehrt Entschädigung wegen überlanger Dauer des vor dem Sozialgericht (SG) B unter dem Aktenzeichen S 19 R 3491/16 geführten Klageverfahrens.

 

Dem Ausgangsverfahren lag folgender Sacherhalt zugrunde:

 

Am 27.12.2016 erhob die Klägerin, bereits seinerzeit vertreten durch ihre jetzige Prozessbevollmächtigte, vor dem SG B Klage gegen den zuständigen Rentenversicherungsträger (RV-Träger). Sie begehrte (neben der Aufhebung des angefochtenen Ablehnungsbescheids und des entsprechenden Widerspruchsbescheids) in erster Linie die Verurteilung des RV-Trägers zur Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI). Das SG bestätigte den Eingang der Klage noch im selben Monat und forderte den RV-Träger unter Hinweis auf den von der Klägerin gestellten Antrag auf Akteneinsicht zur Übersendung der Verwaltungsvorgänge binnen 3 Wochen auf. Die Verwaltungsakten gingen am 11.01.2017 beim SG ein und wurden von der hierüber am 23.01.2017 informierten Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 23.02.2017 auf der Geschäftsstelle der 19. Kammer abgeholt. Einen Tag später reichte die Prozessbevollmächtigte einen von der Klägerin ausgefüllten Fragebogen mit Angaben zu den behandelnden Ärzten ein.

 

Am 06.03.2017 erinnerte das SG die Prozessbevollmächtigte der Klägerin an die ausstehende Klagebegründung, worauf diese wenige Tage später die Verwaltungsvorgänge zurückreichte und ankündigte, dass eine Klagebegründung nach Rücksprache mit den behandelnden Ärzten der Klägerin erfolgen werde (Schriftsatz vom 08.03.2017). Das SG forderte seinerseits am 21.03.2017 u. a. Befundberichte von den behandelnden Ärzten an, die dann Ende April 2017 vollständig vorlagen. Am 02.05.2017 übersandte das SG den Beteiligten des Ausgangsverfahrens die Befundberichte zur Stellungnahme binnen 3 Wochen. Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin bat daraufhin mit einem am 24.05.2017 beim SG eingegangenen Schriftsatz zunächst um Fristverlängerung bis Ende Juni 2017. Sodann legte sie am 22.06.2017 einen vorläufigen Kurzarztbrief über eine 2 Tage zuvor abgeschlossene tagesklinische Behandlung der Klägerin vor und kündigte an, in „ca. 4 Wochen“ einen ausführlichen Bericht hierüber einzureichen. Bereits einen Tag zuvor war die Stellungnahme des RV-Trägers eingetroffen. Am 27. bzw. 28.06.2017 leitete das SG die wechselseitigen Schriftsätze an die jeweilige Gegenseite zur Kenntnisnahme weiter und setzte sich eine Wiedervorlagefrist von 2 Monaten.

 

Am 28.08.2017 erinnerte das SG die Prozessbevollmächtigte der Klägerin an die Übersendung des angekündigten Berichts über die tagesklinische Behandlung. Am 28.09.2017 reichte diese den vom 12.07.2017 datierenden Bericht zusammen mit weiteren medizinischen Unterlagen ein. Am 09.10.2017 leitete das SG sämtliche Unterlagen an den RV-Träger zur Stellungnahme binnen 3 Wochen weiter. Außerdem forderte es von einem Krankenhaus den Abschlussbericht über die dort von August bis September 2017 erfolgte stationäre Behandlung der Klägerin an. Mit einem am 17.10.2017 beim SG eingegangenen Schriftsatz vom 13.10.2017 bat der RV-Träger um „großzügige Fristverlängerung“ und wies zugleich darauf hin, dass er für die erbetene Stellungnahme seine Verwaltungsakten benötige, worauf das SG diese am Folgetag übersandte und sich eine Wiedervorlagefrist von 2 Monaten setzte.

 

Am 27.12.2017 erinnerte das SG das Krankenhaus an die Übersendung des Abschlussberichts; dieser wurde schließlich von der Prozessbevollmächtigten der Klägerin zusammen mit einem ärztlichen Attest am 10.01.2018 übersandt und vom SG wenige Tage später dem RV-Träger zur Stellungnahme zugeleitet. Am 16. und 24.01.2018 gingen Stellungnahmen des RV-Trägers zu übersandten medizinischen Unterlagen ein und wurden jeweils zur Kenntnisnahme an die Prozessbevollmächtigte der Klägerin weitergeleitet. 

 

Mit Beweisanordnung vom 12.02.2018 gab das SG ein medizinisches Sachverständigengutachten über die Klägerin bei dem Allgemeinmediziner Dr. S in Auftrag. Das Gutachten wurde – nach Untersuchung der Klägerin Ende März 2018 – unter dem 19.04.2018 erstellt und ging 4 Tage später bei Gericht ein. Es wurde den Beteiligten des Ausgangsverfahrens noch im selben Monat zur Stellungnahme binnen 3 Wochen übermittelt. Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin äußerte sich mit einem am 25.05.2018 eingegangenen Schriftsatz, der 4 Tage später vom SG an den RV-Träger zur Kenntnisnahme weitergeleitet wurde, zu dem Gutachten. Die Stellungnahme des RV-Trägers zu dem Gutachten traf am 12.06.2018 bei Gericht ein.

 

Ebenfalls noch im Juni 2018 gab das SG ein weiteres Sachverständigengutachten in Auftrag, diesmal bei dem Psychiater Dr. M (Beweisanordnung vom 13.06.2018, abgesandt am 15.06.2018). Für die Erstellung des Gutachtens setzte es dem Sachverständigen eine Frist von 3 Monaten und notierte eine Wiedervorlage-Frist von 4 Monaten. Am 28.09.2018 informierte die Prozessbevollmächtigte der Klägerin das SG darüber, dass die Klägerin vom Sachverständigen bislang nicht zur Untersuchung eingeladen worden sei. Am 04.10.2018 teilte sie mit, dass nunmehr ein Termin für die Begutachtung vereinbart worden sei. Eine Verfügung des Kammervorsitzenden vom 01.10.2018 (betrifft: Sachstandsanfrage beim Sachverständigen) wurde daraufhin nicht mehr ausgeführt. Das Gutachten des Sachverständigen Dr. M (vom 20.10.2018) ging sodann am 26.10.2018 bei Gericht ein und wurde den Beteiligten des Ausgangsverfahrens 5 Tage später zur Stellungnahme binnen 3 Wochen bzw. zur Kenntnisnahme zugeleitet. Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin bat mit einem am 20.11.2018 eingegangenen Schriftsatz um Verlängerung der für die erbetene Stellungname eingeräumten Frist bis Mitte Dezember 2018.

 

Am 14.12.2018 stellte die Prozessbevollmächtigte der Klägerin unter Bezugnahme auf § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens bei einer namentlich benannten Ärztin. Die Ärztin wurde vom SG Anfang Januar 2019 angeschrieben und u. a. um Mitteilung gebeten, wie hoch die voraussichtlichen Kosten für die beabsichtigte Begutachtung sein würden. Nachdem die Ärztin mitgeteilt hatte, dass sie nicht mehr als Sachverständige tätig sei, benannte die Prozessbevollmächtigte der Klägerin am 18.01.2019 einen neuen Arzt – Dr. B –, der sodann 10 Tage später vom SG wiederum mit der Bitte um Mitteilung der voraussichtlichen Begutachtungskosten angeschrieben wurde. Die Antwort von Dr. B ging am 08.02.2019 bei Gericht ein. Auf Verfügung des Kammervorsitzenden vom 12.02.2019 wurde am 26.02.2019 ein Kassenzeichen angelegt; sodann wurde am 07.03.2019 ein Kostenvorschuss für das nach § 109 SGG zu erstellende Gutachten von der Klägerin angefordert. Der Kostenvorschuss ging am 20.03.2019 bei der Landeshauptkasse B ein.

 

Bereits am 14.03.2019 hatte die Prozessbevollmächtigte der Klägerin weitere medizinische Unterlagen eingereicht, die das SG wenige Tage später zur Kenntnisnahme an den RV-Träger weitergeleitet hatte. Ende April 2019 ordnete das SG die Beweiserhebung nach § 109 SGG durch Einholung eines Sachverständigengutachtens bei Dr. B an. Das sodann unter dem 30.06.2019 erstellte Gutachten traf eine Woche später beim SG ein und wurde den Beteiligten des Ausgangsverfahrens jeweils zur Stellungnahme übersandt. Ende Juli 2019 lagen dem SG die Äußerungen der Beteiligten zu dem Gutachten vor.

 

Am 08.08.2019 schrieb das SG den Sachverständigen Dr. M an und bat ihn, sich mit dem Gutachten von Dr. B auseinanderzusetzen. Nachdem das SG den Sachverständigen am 19.09.2019 sowie erneut am 31.10.2019 und 10.12.2019 an die erbetene Stellungnahme erinnert hatte, ging diese schließlich am 11.12.2019 bei Gericht ein und wurde den Beteiligten des Ausgangsverfahrens rund 1 Woche später zur Stellungnahme binnen 3 Wochen übermittelt. Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin, die bereits am 29.11.2019 eine erste Verzögerungsrüge erhoben hatte, äußerte mit Schriftsatz vom 23.12.2019, dass der Sachverständige die klägerische Auffassung bestätige. Es bedürfe daher keiner weiteren Stellungnahmen.

 

Mit einem am 17.01.2020 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz unterbreitete der RV-Träger der Klägerin zur Beendigung des Verfahrens einen Vergleichsvorschlag, welcher die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung ab Juli 2019 vorsah. Nachdem das SG diesen Vergleichsvorschlag 10 Tage später an die Prozessbevollmächtigte der Klägerin weitergeleitet hatte, kam es im Februar 2020 zu wechselseitigen Äußerungen zum Zeitpunkt des Leistungsfalls. Schließlich teilte die Prozessbevollmächtigte der Klägerin am 03.03.2020 mit, dass es bei der Ablehnung des Vergleichsvorschlags bleibe.

 

Wenige Tage später bat das SG die Beteiligten des Ausgangsverfahrens um Mitteilung, ob Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil gemäß § 124 Abs. 2 SGG bestehe. Die entsprechenden Einverständniserklärungen wurden Mitte März 2020 von beiden Seiten erteilt, worauf der Kammervorsitzende den Vorgang am 17.03.2020 in das Entscheidungsfach verfügte.

 

Am 13.05.2020 wurde die Einverständniserklärung des RV-Trägers aufgrund einer (weiteren) Verfügung des Kammervorsitzenden vom 17.03.2020 an die Prozessbevollmächtigte der Klägerin abgesandt. Am 09.06.2020 bat diese um Sachstandsmitteilung. Ferner gab sie an, dass ihr nicht bekannt sei, ob das Gericht beim RV-Träger ebenfalls bezüglich des Einverständnisses mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung angefragt habe. Daraufhin wurde die entsprechende Einverständniserklärung des RV-Trägers 10 Tage später (erneut) an die Prozessbevollmächtigte der Klägerin abgesandt, verbunden mit dem Hinweis, dass ein konkreter Entscheidungstermin noch nicht benannt werden könne.

 

Am 13.07.2020 erhob die Prozessbevollmächtigte der Klägerin erneut Verzögerungsrüge (Schriftsatz vom selben Tag).

 

Am 02.10.2020 übersandte die Prozessbevollmächtigte der Klägerin Krankenhausberichte, die das SG dem RV-Träger rund 1 Woche später zur Stellungnahme zuleitete. Die erbetene Stellungnahme des RV-Trägers (vom 19.10.2020), in der dieser mitteilte, dass sich keine Änderung zur bisherigen Einschätzung ergebe, traf am 21.10.2020 ein und wurde vom SG wenige Tage später an die Prozessbevollmächtigte der Klägerin zur Kenntnisnahme weitergeleitet.

 

Weitere Verzögerungsrügen der Prozessbevollmächtigten der Klägerin folgten am 18.01.2021 und 14.07.2021.

 

Ende August 2021 hörte das SG die Beteiligten des Ausgangsverfahrens zum Erlass eines Gerichtsbescheids an und räumte ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme binnen 3 Wochen ein. Die Äußerungen der Beteiligten hierzu trafen am 31.08.2021 bzw. 07.09.2021 ein.

 

Mit Gerichtsbescheid vom 06.10.2021, beiden Beteiligten des Ausgangsverfahrens zugestellt am 07.10.2021, gab das SG der Klage in vollem Umfang statt. Berufung wurde nicht eingelegt. 

 

Mit Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 22.10.2021 wandte sich die Klägerin an den Beklagten und forderte diesen zur Zahlung einer Entschädigung wegen überlanger Dauer des Ausgangsverfahrens in Höhe von 1.200,- € auf. Der Beklagte teilte daraufhin mit, dass dem Begehren der Klägerin nicht entsprochen werden könne (Schreiben des Präsidenten des SG B vom 10.11.2021). Zur Begründung führte er u. a. an, dass die gerichtliche Inaktivität von April bis einschließlich Mai 2020 sowie von Januar bis einschließlich Februar 2021 dem Land Berlin infolge der durch die Corona-Pandemie bedingten Einschränkungen nicht zuzurechnen sei.

 

Am 09.05.2022 – einem Montag – hat die Klägerin ihre Entschädigungsklage beim Landessozialgericht (LSG) eingereicht, gerichtet auf die Zahlung einer Entschädigung in Höhe von 1.200,- € nebst Zinsen seit Rechtshängigkeit. Die Klage ist dem Beklagten am 20.06.2022 zugestellt worden.

 

Die Klägerin trägt zur Begründung der Klage vor: Jedenfalls im Dezember 2019 sei klar gewesen, dass beide Sachverständige die Klägerin als erwerbsunfähig einschätzten. Zu diesem Zeitpunkt sei das Verfahren bereits 3 Jahre alt gewesen – ein Grund, zügig einen Termin anzuberaumen. Es sei überflüssig gewesen, weitere Fristen für Stellungnahmen zu setzen. Dies habe ihre Prozessbevollmächtigte bereits mit Schriftsatz vom 23.12.2019 explizit geäußert. Was das Verfahren bis Dezember 2019 anbelange, seien überwiegend Anträge oder Unterlagen durch ihre Prozessbevollmächtigte übermittelt worden, ohne erkennbare eigene Maßnahmen des Ausgangsgerichts im Sinne von § 106 SGG. Vorbereitungs- und Bedenkzeit habe es in den ersten 3 Jahren genügend gegeben; die Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 1 Jahr sei damit jedenfalls längst abgegolten gewesen. Das SG habe viele Stellungnahmen angefordert, also Schiebeverfügungen getätigt, die das Verfahren hinausgezögert hätten. Dass es pandemiebedingte Einschränkungen gegeben habe, werde bestritten. Es habe gar keine mündliche Verhandlung stattgefunden. Alles sei schriftlich erfolgt. Die Einverständniserklärungen zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung seien noch vor der ersten Corona-Welle erteilt worden.

 

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, ihr wegen unangemessener Dauer des vor dem Sozialgericht B unter dem Aktenzeichen S 19 R 3491/16 geführten Verfahrens eine Entschädigung in Höhe von 1.200,- € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

 

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

 

Er führt aus, dass das Ausgangsverfahren bis März 2020 durchgehend bearbeitet worden sei. Die ohne Zweifel lange Dauer des Verfahrens finde ihren Grund in den aufwändigen medizinischen Ermittlungen, die zur Aufklärung des Sachverhalts durchgeführt worden seien. Erstmals in den pandemiebelasteten Monaten ab April 2020 sei keine Bearbeitung erfolgt, nachdem das Verfahren am 17.03.2020 in das schriftliche Entscheidungsfach verfügt worden sei. Insgesamt seien 15 Monate der gerichtlichen Inaktivität festzustellen, und zwar von April 2020 bis Juli 2021 mit Ausnahme des Oktober 2020. Hiervon in Abzug zu bringen sei die dem Gericht regelmäßig zuzubilligende Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 12 Monaten. Zudem sei die gerichtliche Inaktivität in den Monaten April und Mai 2020 sowie Januar und Februar 2021 dem Land Berlin aufgrund der pandemiebedingten Einschränkungen nicht zuzurechnen, sodass kein entschädigungsrelevanter Zeitraum verbleibe. Bei der Corona-Pandemie und den zur Eindämmung getroffenen Schutzmaßnahmen handle es sich nicht um ein spezifisch die Justiz betreffendes Problem. Von einem Organisationsverschulden dergestalt, dass die Justizbehörden im Hinblick auf eine – weder in ihrem Eintritt noch in ihren Wirkungen vorhersehbare – pandemische Lage Vorsorge für die Aufrechterhaltung einer stets uneingeschränkten Rechtspflege hätten treffen müssen, könne nicht ausgegangen werden. Aufgrund der am SG B getroffenen Schutzmaßnahmen sei der Gerichtsbetrieb ab März 2020 sowie Januar 2021 auf das Notwendigste beschränkt gewesen. In den folgenden Wochen seien aufgrund dringlicher Aufforderung der Gerichtsverwaltung lediglich eilige Rechtssachen zur Entscheidung gelangt. Ob das Ausgangsverfahren hätte „besser“ geführt werden können, sei nicht Gegenstand des Entschädigungsverfahrens. Dieses eröffne keine Superrevisionsinstanz, um das Handeln des Ausgangsgerichts einer rechtlichen Vollkontrolle zu unterziehen.

 

Die Beteiligten haben sich unter dem 20.10.2022 (Beklagter) bzw. dem 24.10.2022 (Klägerin) mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie den weiteren Inhalt der Gerichtsakte und der Akten des Ausgangsverfahrens verwiesen, die dem Senat vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

 

Entscheidungsgründe

 

Der Senat konnte über die Entschädigungsklage gemäß § 201 Abs. 2 Satz 1 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) i. V. m. §§ 202 Satz 2, 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, nachdem die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erteilt haben.

 

Die Entschädigungsklage hat keinen Erfolg.

 

A. Die Entschädigungsklage ist als allgemeine Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere hat die Klägerin die Klagefrist des § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG gewahrt. Danach muss die Klage spätestens 6 Monate nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung, die das Verfahren beendet, oder einer anderen Erledigung des Verfahrens erhoben werden. Der das Ausgangsverfahren beendende Gerichtsbescheid des SG vom 06.10.2021 wurde am 07.10.2021 zugestellt. Die einmonatige Berufungsfrist des § 151 Abs. 1 SGG (i. V. m. § 105 Abs. 2 Satz 1 SGG) endete mit Ablauf des 07.11.2021 (§ 64 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 SGG); der Gerichtsbescheid erwuchs damit in Rechtskraft. Die Entschädigungsklage wurde am Montag, 09.05.2022, und damit am letzten Tag vor Ablauf der Klagefrist (§ 64 Abs. 1, Abs. 3 SGG) erhoben. Für die Einhaltung der Klagefrist nach § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG kommt es allein auf den Eingang der Klage beim Entschädigungsgericht an. Unerheblich für die Einhaltung der Klagefrist ist dagegen der Eintritt der Rechtshängigkeit (BSG, Urteil vom 17.12.2020 – B 10 ÜG 1/19 R – juris Rn. 16), die gemäß § 94 Satz 2 SGG erst mit der Zustellung der Klage beim Beklagten beginnt.

 

B. Die Entschädigungsklage ist jedoch unbegründet. Die Klägerin hat gegen den Beklagten keinen Anspruch auf Entschädigung.

 

Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, wird gemäß § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Hierfür kann Entschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalls Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist (§ 198 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 4 SGG). Eine Entschädigung erhält ein Verfahrensbeteiligter gemäß § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG nur dann, wenn er bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat (Verzögerungsrüge). Die Verzögerungsrüge kann gemäß § 198 Abs. 3 Satz 2 GVG erst erhoben werden, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen wird.

 

I. Die Klägerin hat die Dauer des Verfahrens im Sinne von § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG ordnungsgemäß gerügt. Jedenfalls zum Zeitpunkt ihrer zuletzt erhobenen Verzögerungsrüge, d. h. im Juli 2021, lag eine Rügesituation nach § 198 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 GVG vor. Die Gerichtsakte lag zu diesem Zeitpunkt bereits seit 16 Monaten nahezu ohne Unterbrechung im Entscheidungsfach; lediglich im Oktober 2020 war noch einmal ein Schriftwechsel zwischen den Beteiligten erfolgt. Unabhängig davon, ob tatsächlich in allen Monaten ab März 2020 von einer dem Beklagten anzulastenden Verzögerung auszugehen ist (dazu näher unten), bestand im Juli 2021 jedenfalls durchaus Anlass zur Besorgnis, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit zum Abschluss gebracht wird.

 

II. Ein Entschädigungsanspruch scheitert jedoch daran, dass die Dauer des Ausgangsverfahrens nicht unangemessen war.

 

Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens sowie nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter.

 

1. Den Ausgangspunkt der Angemessenheitsprüfung bildet die in § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG definierte Gesamtdauer des Gerichtsverfahrens von seiner Einleitung bis zu seinem rechtskräftigen Abschluss. Das streitgegenständliche Ausgangsverfahren wurde mit Erhebung der Klage am 27.12.2016 eingeleitet und fand seinen Abschluss mit der Zustellung des Gerichtsbescheids am 07.10.2021. Es erstreckte sich mithin über 4 Jahre und rund 10 Monate.

 

2. Das Ausgangsverfahren wies eine überdurchschnittliche Bedeutung und zugleich eine überdurchschnittliche Schwierigkeit und Komplexität auf.

 

Die Bedeutung des Verfahrens ergibt sich zum einen aus der allgemeinen Tragweite der Entscheidung für die materiellen und ideellen Interessen der Beteiligten, zum anderen maßgeblich aus dem Interesse der Betroffenen gerade an einer raschen Entscheidung (BSG, Urteil vom 24.03.2022 – B 10 ÜG 2/20 R – juris Rn. 23). Die Klage im Ausgangsverfahren zielte auf die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung ab. Da es sich hierbei um eine Entgeltersatzleistung handelt, die monatlich über einen längeren Zeitraum – potentiell bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze – zu zahlen ist, wirkte sich die im Ausgangsverfahren zu treffende Entscheidung durchaus gewichtig auf die materiellen Belange der Klägerin aus. Auch bestand ein besonderes Interesse der Klägerin an einer stringenten Führung und raschen Erledigung des Ausgangsverfahrens, denn durch Zeitablauf konnte sich ihre Beweisposition verschlechtern. Erfahrungsgemäß lassen sich medizinische Sachverhalte umso schwerer aufklären, je weiter sie in der Vergangenheit liegen. Bei einer solchen Sachlage ist dem Ausgangsverfahren eine überdurchschnittliche Bedeutung beizumessen. Das Verfahren war wegen der umfangreichen medizinischen Ermittlungen, die durchzuführen waren, überdurchschnittlich schwierig und komplex. 

 

3. Über die in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ausdrücklich genannten Kriterien hinaus hängt die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer wesentlich davon ab, ob dem Staat zurechenbare Verhaltensweisen des Gerichts zur Überlänge des Verfahrens geführt haben. Maßgeblich sind Verzögerungen, also sachlich nicht gerechtfertigte Zeiten des Verfahrens, insbesondere aufgrund von Untätigkeit des Gerichts (ständige Rechtsprechung, siehe z. B. BSG, Urteile vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R und B 10 ÜG 12/13 R – Rn. 34 bzw. Rn. 41, vom 12.02.2015 – B 10 ÜG 7/14 R – Rn. 35 und vom 07.09.2017 – B 10 ÜG 1/16 R – Rn. 38, jeweils zitiert nach juris). Für die Beurteilung, ob eine überlange Verfahrensdauer vorliegt, sind daher aktive und inaktive Zeiten der Bearbeitung gegenüberzustellen, wobei kleinste relevante Zeiteinheit zur Berechnung der Überlänge stets der Monat im Sinne des Kalendermonats ist (BSG, Urteile vom 12.02.2015 – B 10 ÜG 11/13 R – Rn. 34 und vom 07.09.2017 – B 10 ÜG 3/16 R – Rn. 24, jeweils zitiert nach juris).

 

a) Mit Blick auf den Ablauf des streitgegenständlichen Ausgangsverfahrens ist festzustellen, dass dieses in der Zeit von Dezember 2016 (Klageeingang) bis März 2020 (Verfügung des Vorgangs in das Entscheidungsfach) keinerlei Verzögerungszeiten aufweist. Das Verfahren wurde in dieser Zeit vom SG engmaschig bearbeitet bzw. durch diverse Schriftsätze der Beteiligten unterhalten. Das SG hat zur Aufklärung des medizinischen Sachverhalts aufwändige Ermittlungen durchgeführt. Es hat u. a. Befundberichte von den behandelnden Ärzten eingeholt und 3 Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben, zuletzt aufgrund des Antrags der Klägerin nach § 109 SGG. Die pauschale Behauptung der Klägerin, wonach „eigene Maßnahmen“ des Ausgangsgerichts im Sinne von § 106 SGG nicht erkennbar seien, ist nicht ansatzweise nachvollziehbar.

 

Eine Verfahrensverzögerung ist insbesondere nicht im Monat Juli 2017 festzustellen. Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin hatte am 22.06.2017 angekündigt, in „ca. 4 Wochen“ einen ausführlichen Bericht über eine 2 Tage zuvor abgeschlossene tagesklinische Behandlung der Klägerin vorzulegen. Mit Blick auf den zu erwartenden Eingang dieses Berichts durfte das SG im Juli 2017 von weiteren Bearbeitungsschritten absehen, zumal sich das Klageverfahren zu diesem Zeitpunkt in einem recht jungen Stadium befand und dementsprechend – über die Grundpflicht zur stringenten Verfahrensgestaltung hinaus – noch keine gesteigerte Pflicht bestand, Beschleunigungsmaßnahmen zu ergreifen (vgl. zur Steigerung der Prozessförderungspflicht bei zunehmender Verfahrensdauer BSG, Urteile vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R und B 10 ÜG 12/13 R – Rn. 37 bzw. Rn. 44, jeweils zitiert nach juris). Dass das SG die Prozessbevollmächtigte der Klägerin erst im August 2017 an die Übersendung des angekündigten Berichts erinnert hat, ist nicht zu beanstanden.

 

Ebenso wenig ist der November 2017 als Verzögerungsmonat zu werten. Das SG hatte dem RV-Träger am 09.10.2017 mehrere von der Prozessbevollmächtigten der Klägerin eingereichte medizinische Unterlagen zur Stellungnahme weitergeleitet und darüber hinaus von einem Krankenhaus den Abschlussbericht über die dort von August bis September 2017 erfolgte stationäre Behandlung angefordert. Der RV-Träger hatte wenige Tage später um „großzügige Fristverlängerung“ gebeten und zugleich darauf hingewiesen, dass er für die erbetene Stellungnahme seine Verwaltungsakten benötige, worauf das SG diese noch im Oktober 2017 an den RV-Träger übersandte. Es unterlag ohne weiteres dem prozessualen Gestaltungsermessen des SG, im November 2017 mit Blick auf die anstehende Stellungnahme des RV-Trägers, der ersichtlich seinen medizinischen Dienst einzuschalten beabsichtigte, und den zu erwartenden Eingang des Krankenhaus-Abschlussberichts von weiteren Verfahrensförderungsschritten abzusehen.

 

Soweit die Klägerin vorträgt, dass bereits im bzw. ab Dezember 2019 zügig ein Termin hätte anberaumt werden müssen und weitere Stellungnahmen überflüssig gewesen seien, übersieht sie, dass das Entschädigungsverfahren keine weitere Instanz eröffnet, um das Handeln des Ausgangsgerichts einer rechtlichen Vollkontrolle zu unterziehen. Bei der Beurteilung der Prozessleitung des Ausgangsgerichts hat das Entschädigungsgericht vielmehr die materiell-rechtlichen Annahmen, die das Ausgangsgericht seiner Verfahrensleitung und -gestaltung zugrunde legt, nicht infrage zu stellen, soweit sie nicht geradezu willkürlich erscheinen. Zudem räumt die Prozessordnung dem Ausgangsgericht ein weites Ermessen bei seiner Entscheidung darüber ein, wie es das Verfahren gestaltet und leitet. Die richtige Ausübung dieses Ermessens ist vom Entschädigungsgericht allein unter dem Gesichtspunkt zu prüfen, ob das Ausgangsgericht bei seiner Prozessleitung Bedeutung und Tragweite des Menschenrechts aus Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bzw. des Grundrechts aus Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) in der konkreten prozessualen Situation hinreichend beachtet und fehlerfrei gegen das Ziel einer möglichst richtigen Entscheidung abgewogen hat (BSG, Urteil vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R – juris Rn. 36).

 

Ausgehend von diesem Prüfungsmaßstab ist es in keiner Weise zu beanstanden, dass das SG den Beteiligten des Ausgangsverfahrens die am 11.12.2019 bei Gericht eingegangenen Darlegungen des Sachverständigen Dr. M zunächst zur Stellungnahme übermittelt und auch in den Monaten Januar und Februar 2020 wechselseitige Schriftsätze zur Äußerung durch die jeweilige Gegenseite weitergeleitet hat. Es war auch in dieser Phase des Verfahrens keineswegs eindeutig, ab welchem Zeitpunkt von einem Eintritt des Leistungsfalls der vollen Erwerbsminderung auszugehen war. Der vom RV-Träger unterbreitete, Mitte Januar 2020 bei Gericht eingegangene Vergleichsvorschlag bot Anlass zu der Annahme, dass das Verfahren ggf. auch ohne mündliche Verhandlung bzw. ohne eine streitige Entscheidung einer Erledigung zugeführt werden könnte. Erst aufgrund der Mitteilung der Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 03.03.2020 stand fest, dass die Vergleichsbemühungen gescheitert waren.

 

b) In den Monaten April und Mai 2020 liegt ebenfalls keine dem Staat zurechenbare Verzögerung vor. Hierbei kommt es nicht darauf an, inwieweit das Verfahren in dieser Phase tatsächlich gefördert wurde.

 

Nachdem der Kammervorsitzende den Vorgang am 17.03.2020 in das Entscheidungsfach verfügt hatte, war das SG im April 2020 gänzlich inaktiv. Was den Monat Mai 2020 angeht, kann offen bleiben, ob von einer Aktivitätszeit auszugehen ist. Hierauf kommt es im Ergebnis nicht an. Ein Verfahrensstillstand in der ersten Phase der Corona-Pandemie stellt nach Auffassung des Senats nämlich ohnehin keine dem staatlichen Verantwortungs- und Einflussbereich zuzuordnende Verzögerung dar.

 

Bereits aus § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ergibt sich, dass für die Beurteilung der Verfahrensdauer u.a. das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter in den Blick zu nehmen ist. Anerkannt ist darüber hinaus, dass eine Verlängerung der Verfahrensdauer, die – über das Verhalten der Verfahrensbeteiligten oder Dritter hinaus – auf anderen Ursachen beruht, die das Gericht weder beeinflussen kann noch sonst zu verantworten hat, keine Entschädigungspflicht auslöst. Außerhalb des staatlichen Verantwortungs- und Einflussbereichs liegende Faktoren sind mithin entschädigungsrechtlich irrelevant (vgl. BSG, Urteil vom 24.03.2022 – B 10 ÜG 2/20 R – juris Rn. 42). Mit dem Bundesfinanzhof (BFH, Urteil vom 27.10.2021 – X K 5/20 – juris Rn. 34 ff.) und dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (Urteil vom 29.06.2021 – OVG 3 A 21/20 – nicht veröffentlicht) geht der Senat davon aus, dass zu Beginn der Corona-Pandemie eingetretene Verzögerungen wertungsmäßig außerhalb des staatlichen Verantwortungs- und Einflussbereichs lagen.

 

Am 11. März 2020 wurde der weltweite Ausbruch der durch das neue Coronavirus SARS-CoV-2 ausgelösten Erkrankung COVID-19 von der Weltgesundheitsorganisation zur Pandemie erklärt. Es handelte sich insoweit um ein außergewöhnliches und in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland beispielloses Ereignis. Angesichts der Gefahr der Ansteckung mit dem Coronavirus, der Erkrankung vieler Personen, der Überlastung der gesundheitlichen Einrichtungen bei der Behandlung schwerwiegender Fälle und schlimmstenfalls des Todes von Menschen (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG vom 10.04.2020 – 1 BvQ 31/20 – juris Rn. 13) haben der Bund und die Länder ab März 2020 durch Verordnungen Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus und zum Schutz der Bevölkerung ergriffen. In den Gerichten kam es in diesem Zusammenhang zur Einrichtung eines Notbetriebs und – jedenfalls auf entsprechende dringende Empfehlungen der Gerichtsleitungen hin – vorübergehend zur (weitgehenden) Einstellung des Sitzungsbetriebs, bis Hygiene- und Schutzkonzepte erstellt und die zur möglichst weitgehenden Vermeidung von Infektionen erforderlichen Maßnahmen umgesetzt waren. Namentlich gehörten hierzu – zur Gewährleistung erforderlicher Mindestabstände und ausreichender Belüftung sowie im Interesse der Vermeidung des Zusammentreffens vieler Personen – räumliche und teils bauliche Anpassungen (z.B. Ausstattung mit Trennwänden) sowohl in den Sitzungssälen als auch in den Geschäftsstellen, bevor der reguläre Betrieb stufenweise wieder aufgenommen werden konnte. Auch wenn die konkreten Maßnahmen letztlich durch die Gerichtsleitungen angeordnet wurden, sind sie wertungsmäßig nicht dem Beklagten anzulasten. Vielmehr stellen sich die – unvorhersehbar erforderlich werdenden – pandemiebedingten Schutzmaßnahmen als unbeeinflussbares Ereignis dar (so auch BFH, Urteil vom 27.10.2021 – X K 5/20 – juris Rn. 44 ff.). Dem Beklagten kann gerade kein Organisationsverschulden dahin vorgeworfen werden, dass er es versäumt hätte, die Gerichte so auszustatten, dass diese auch im Falle einer pandemischen Lage, die weder in ihrem Eintritt noch in ihren Wirkungen, geschweige denn im Hinblick auf die nach dem jeweiligen Stand der Wissenschaft gebotenen Gegenmaßnahmen vorhersehbar war, stets eine uneingeschränkte Rechtspflege sicherstellen können. Dabei ist auch zu beachten, dass staatlichen Stellen bei der Erfüllung ihrer Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein erheblicher Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zukommt (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG vom 19.05.2020 – 2 BvR 483/20 – juris Rn. 8). Eine Bewertung derartiger Schutzmaßnahmen als mögliche Ursache für eine unangemessene Dauer des Verfahrens i.S.d. § 198 GVG verbietet sich dem Entschädigungssenat. Ebenso scheidet eine an den konkreten Verhältnissen beim jeweiligen Gericht orientierte ex-post-Betrachtung aus, ob die ergriffenen Maßnahmen angemessen waren (vgl. BFH, Urteil vom 27.10.2021 – X K 5/20 – juris, Rn. 49 f.). Dass das SG B bei der gebotenen ex-ante-Betrachtung den ihm zustehenden Spielraum bei der Einschätzung der Gefahrenlage und der Gestaltung der als notwendig erachteten Maßnahmen überschritten hätte, als es den Schutz von Leib und Leben vorübergehend vor das Gebot des zügigen Rechtsschutzes gestellt hat, vermag der Senat nicht zu erkennen.

 

Da es indes dem Gericht und damit dem Staat auch obliegt, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um Verzögerungen auf ein Maß zu reduzieren, das dem Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit ausreichend Rechnung trägt (vgl. BSG, Urteil vom 24.03.2022 – B 10 ÜG 2/20 R – juris Rn. 43), kann dies selbstverständlich nur für eine Übergangszeit gelten. Der Senat sieht es insoweit regelmäßig als angemessen an, den Gerichten für die Dauer der ersten Corona-Welle eine dreimonatige Frist einzuräumen, um die im Interesse des Gesundheitsschutzes der Gerichtsangehörigen, aller übrigen Verfahrensbeteiligten und auch Besucherinnen und Besuchern gebotenen Maßnahmen umzusetzen. Er geht daher regelmäßig davon aus, dass etwaige zwischen März und Mai 2020 aufgetretene Verzögerungen, sei es im Sitzungsbetrieb, sei es im allgemeinen Geschäftsablauf, der Corona-Pandemie geschuldet sind, selbst wenn sich dies nicht unmittelbar den Akten entnehmen lässt, und dem Beklagten nicht anzulasten sind (so für den Sitzungsbetrieb auch BFH, Urteil vom 27.10.2021 – X K 5/20 – juris Rn. 53 f.; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29.06.2021 – OVG 3 A 21/20 – nicht veröffentlicht, vgl. auch Urteile des Senats vom 20.01.2023 – L 37 SF 298/21 EK AS – sowie – L 37 SF 71/22 EK SO – jeweils zur Veröffentlichung vorgesehen).

 

Dass vorliegend anderes zu gelten hätte, vermag der Senat auch unter Berücksichtigung des Streitgegenstands im Ausgangsverfahren sowie der seinerzeitigen Dauer des Verfahrens nicht zu erkennen. Das Ausgangsverfahren war ab Mitte März 2020 reif für eine Entscheidung. Diese sollte nach damaliger Planung des Kammervorsitzenden durch Urteil – wenn auch ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) – ergehen und erforderte somit die Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter im Rahmen des Sitzungsbetriebs (vgl. § 12 Abs. 1 SGG). Erst später gelangte der Kammervorsitzende zu der Einschätzung, dass die Sache durch Gerichtsbescheid (§ 105 Abs. 1 SGG) entschieden werden kann.

 

c) Der Monat Juni 2020 fällt zwar nach dem zuvor Gesagten aus entschädigungsrechtlicher Sicht nicht in die gesondert zu beurteilende erste Phase der Corona-Pandemie; gleichwohl ist er nicht als Verzögerungsmonat zu werten, da das SG das Verfahren in dieser Zeit (wieder) aktiv bearbeitet hat, und zwar dadurch, dass es der Prozessbevollmächtigten der Klägerin auf Nachfrage (erneut) die Einverständniserklärung des RV-Trägers zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil übermittelt hat. Hierin ist durchaus ein relevanter Verfahrensförderungsschritt zu sehen, der über die bloße – nicht als aktive Verfahrensgestaltung anzusehende – Beantwortung einer Sachstandsanfrage (vgl. hierzu LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 06.11.2020 – L 37 SF 276/19 EK AL – juris Rn. 35) hinausgeht. Die Beteiligten haben ein erhebliches Interesse daran zu erfahren, ob die jeweils andere Seite eine Einverständniserklärung nach § 124 Abs. 2 SGG erteilt hat und somit die Voraussetzungen für eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gegeben sind. Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin hatte durch ihre Anfrage vom 09.06.2020 zu erkennen gegeben, dass ihr – aus welchen Gründen auch immer – die Einverständniserklärung des RV-Trägers noch nicht vorliegt. Schon zur Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG) war das SG gehalten, ihr diese zu übermitteln und damit den Weg für eine Entscheidung nach § 124 Abs. 2 SGG zu ebnen.

 

d) Von Juli bis September 2020 (3 Kalendermonate) ist demgegenüber erstmals eine dem Beklagten zurechenbare Verzögerung eingetreten. Das Ausgangsverfahren wurde in dieser Phase nicht gefördert.

 

e) Im Oktober 2020 ist das Ausgangsverfahren dann wieder aktiv bearbeitet worden. Am 02.10.2020 trafen die von der klägerischen Seite übersandten Krankenhausberichte beim SG ein und wurden zur Stellungnahme an den RV-Träger weitergeleitet. Die Stellungnahme des RV-Trägers vom 19.10.2020 erreichte das SG am 21.10.2020 und wurde – ebenfalls noch im Oktober 2020 – zur Kenntnisnahme an die Prozessbevollmächtigte der Klägerin übermittelt.

 

f) Der Folgemonat – November 2020 (1 Kalendermonat) – ist dagegen wieder als Inaktivitätszeit zu werten. Zwar ist anerkannt, dass die Übersendung eines Schriftsatzes (hier: der Stellungnahme des RV-Trägers vom 19.10.2020) an die Beteiligten zur Kenntnis stets die Möglichkeit zur Stellungnahme eröffnet. Die Entscheidung des Ausgangsgerichts, im Hinblick auf eine mögliche Stellungnahme zunächst keine weiteren Maßnahmen zur Verfahrensförderung zu ergreifen, unterliegt grundsätzlich noch seiner Entscheidungsprärogative bei der Verfahrensführung (BSG, Urteile vom 07.09.2017 – B 10 ÜG 1/16 R – Rn. 43 und 24.03.2022 – B 10 ÜG 2/20 R – Rn. 30, jeweils zitiert nach juris). Dies gilt jedoch nicht ausnahmslos und vor allem nicht in der vorliegenden Konstellation, in der ausgeschlossen werden konnte, dass eine Äußerung der Klägerin bzw. ihrer Prozessbevollmächtigten erfolgen würde. Die Stellungnahme des RV-Trägers vom 19.10.2020 erschöpfte sich in dem Hinweis, dass sich keine Änderung zur bisherigen Einschätzung ergebe. Hierauf konnte keine sinnvolle inhaltliche Erwiderung mehr erfolgen. Es ist auch nicht ersichtlich, dass das SG eine Reaktion der klägerischen Seite in Betracht gezogen und im Hinblick darauf zugewartet haben könnte.

 

g) Von Dezember 2020 bis Juli 2021 (8 Kalendermonate) setzte sich der Verfahrensstillstand fort. Dieser Zeitraum ist vollständig als dem Staat zurechenbare Verzögerung zu werten. Dies gilt – anders als der Beklagte meint – insbesondere auch für die Monate Januar und Februar 2021. Die Aufrechterhaltung des Sitzungsbetriebs sowie des allgemeinen Geschäftsablaufs in dieser Zeit trotz weiterhin geltender Einschränkungen infolge der Corona-Pandemie ist dem Verantwortungs- und Einflussbereich des Staates zuzuordnen. Wie bereits oben ausgeführt, oblag es den Gerichten und damit dem Staat, geeignete Maßnahmen (z. B. Umbau von Sitzungssälen, Anordnung einer Maskenpflicht, Aufstellen von Desinfektionsmittelspendern) zu ergreifen, um die Gewährung von Rechtsschutz in angemessener Zeit sicherzustellen.

 

h) Nach Juli 2021 ist es bis zum Abschluss des Verfahrens im Oktober 2021 zu keinerlei Verzögerungen mehr gekommen.

 

Ende August 2021 hörte das SG die Beteiligten des Ausgangsverfahrens zum Erlass eines Gerichtsbescheids an und räumte ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme binnen 3 Wochen ein. Im September 2021 durfte das SG mit Blick auf eine mögliche Reaktion auf diese Anhörung von weiteren Verfahrensförderungsschritten absehen. Der RV-Träger hatte sich diesbezüglich zwar bereits am 31.08.2021 geäußert. Es war aber nicht auszuschließen, dass auch von klägerischer Seite noch eine Stellungnahme erfolgen würde. Tatsächlich traf diese am 07.09.2021 auch ein. Im Oktober 2021 erging der das Verfahren beendende Gerichtsbescheid.

 

Mithin ist es im Ausgangsverfahren zu dem staatlichen Verantwortungsbereich zuzuordnenden Verzögerungen im Umfang von insgesamt 12 Kalendermonaten gekommen.

 

4. Dies bedeutet indes nicht, dass in entsprechendem Umfang von einer unangemessenen Verfahrensdauer auszugehen ist. Denn erst die wertende Gesamtbetrachtung und Abwägung aller Einzelfallumstände ergibt, ob die Verfahrensdauer die äußerste Grenze des Angemessenen deutlich überschritten und deshalb das Recht auf Rechtsschutz in angemessener Zeit verletzt hat (BSG, Urteil vom 07.09.2017 – B 10 ÜG 1/16 R – juris Rn. 33). Dabei ist zu beachten, dass den Gerichten – vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalls – eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit von bis zu 12 Monaten je Instanz zuzubilligen ist, die für sich genommen noch nicht zu einer unangemessenen Verfahrensdauer führt und nicht durch konkrete Verfahrensförderungsschritte begründet und gerechtfertigt werden muss (ständige Rechtsprechung, siehe jüngst etwa BSG, Urteile vom 24.03.2022 – B 10 ÜG 2/20 R und B 10 ÜG 4/21 R – Rn. 32 ff. bzw. Rn. 21, jeweils zitiert nach juris). Insofern geht auch der Vortrag der Klägerin, es habe in den ersten 3 Jahren des Ausgangsverfahrens bereits genügend Vorbereitungs- und Bedenkzeit gegeben, an der Sache vorbei. Denn wie bereits oben dargelegt, war die Verfahrensgestaltung in dieser Zeit – und sogar noch darüber hinaus – durchweg durch konkrete Verfahrensförderungsschritte unterlegt.

 

Im vorliegenden Fall besteht zur Überzeugung des Senats kein Anlass, von der im Regelfall anzusetzenden Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 12 Monaten abzuweichen. Somit ist eine entschädigungspflichtige Verzögerung nicht eingetreten.

 

C. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183 Satz 6, 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

 

D. Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG i. V. m. § 202 Satz 2 SGG und § 201 Abs. 2 Satz 3 GVG).

 

 

 

 

Rechtskraft
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