S 11 U 2943/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 11 U 2943/22
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Die Interpretation eines Tondiagrammes zur Beurteilung der medizinischen Voraussetzungen für das Vorliegen einer BK nach Nummer 2301 der Anlage 1 zur BKV (Lärmschwerhörigkeit) ist ohne jegliche Kenntnisse der zugrundeliegenden Lärmexposition nicht möglich.

Lehnt die Berufsgenossenschaft die Anerkennung einer BK nach Nr. 2301 BKV der Anlage 1 der BKV allein mit der Begründung ab, die tonaudiometrischen Befunde entsprächen nicht denen eines lärmtypischen Hörschadens und hat die Berufsgenossenschaft keinerlei Kenntnisse der zugrundeliegenden Lärmexposition, so rechtfertigt dies die Zurückverweisung der Sache an die Verwaltung zur weiteren Sachverhaltsaufklärung.

Tenor:                    Der Bescheid der Beklagten vom 11.7.22 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.10.22 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, nach Durchführung weiterer Sachaufklärung neu zu entscheiden. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Gründe:

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Anerkennung von Hörstörungen als Berufskrankheit (BK) nach dem Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) i. V. m. der Berufskrankheitenverordnung (BKV) nach Nummer 2301 der Anlage 1 zur BKV (BK 2301) – Lärmschwerhörigkeit.

Der 1963 geborene Kläger ist ausgebildeter Karosserie- und Fahrzeugbauer arbeitete jedoch seit 1983 als Betriebsschlosser in einem Kieswerk. Am 8.5.2015 ging bei der Beklagten eine ärztliche Anzeige bei Verdacht auf eine Berufskrankheit des Dr. H ein. Bei dem Kläger bestehe seit vielen Jahren eine Hörminderung, 2009 habe er eine Trommelfellperforation erlitten und seit ca. 10 Jahren bestehe auch ein beidseitiger Tinnitus. Aufgrund der Lärmexposition als Kieswerkarbeiter seit 35 Jahren bestehe der Verdacht auf das Vorliegen einer BK nach Nummer 2301 BKV. Nachdem der Kläger bei den durch die Beklagte daraufhin veranlassten Ermittlungen nicht mitwirkte, erließ sie wie bereits zuvor einmal im Jahr 2013 - einen Versagungsbescheid wegen fehlender Mitwirkung.

Am 18.1.2018 äußerte Herr Dr. P gegenüber der Beklagten erneut den Verdacht auf das Vorliegen einer BK nach Ziff. 2103 BKV. Es bestehe eine zunehmende Hörminderung mit Verständnisschwierigkeiten. Eine Reaktion des Klägers auf Schreiben und Anfragen der Beklagten erfolgte auch zu diesem Zeitpunkt weiterhin nicht.

Am 10.11.2020 übersandte Dr. H abermals eine Anzeige bei Verdacht auf eine BK nach Ziff. 2301 BKV an die Beklagte. Der Kläger übersandte nach Aufforderung durch die Beklagte den ihm überlassenen Fragebogen. Die Beklagte veranlasste in der Folgezeit, den den Kläger behandelnden Hals-Nasen-Ohrenarzt Dr. P um Anfertigung eines fachärztlichen Tonaudiogrammes. Dieses ließ die Beklagte sodann beratungsärztlich durch Dr. H auswerten. Dieser erklärte am 20.5.2022, der Verlauf der Audiogramme weise nicht auf eine berufsbedingte Schwerhörigkeit hin.

Mit Schreiben vom 30.5.2022 erklärte die Beklagte, die vorgelegten Befunde ergäben

keinen begründeten Verdacht für das Vorliegen einer BK. Ein Feststellungsverfahren

werde daher nicht durchgeführt. Der Vorgang sei abgeschlossen.

 

Hiergegen erhob der Kläger am 23.6.22 Widerspruch.

Nach interner Prüfung erkannte die Beklagte, dass bisher ein rechtsmittelfähiger

Bescheid hinsichtlich der BK 2301 BKV nicht ergangen war. Mit Bescheid vom 11.7.22

lehnte es die Beklagte ab, bei dem Kläger eine BK Nr. 2301 BKV anzuerkennen. Die

Anerkennung dieser BK setze neben einer ausreichenden beruflichen Lärmexposition

das Vorliegen eines lärmtypischen Haarzellschadens des Innenohrs voraus. Dieser habe bei dem Kläger nicht nachgewiesen werden können. Die Lärmschwerhörigkeit stelle sich vielmehr als regelhaft seitengleich ausgeprägt dar und mache sich zuerst in Form einer Senke der Hörschwellenkurve bei etwa 4000 Hz bemerkbar (c5-Senke), im weiteren Verlauf steige diese Kurve zu den hohen Frequenzen hin dann wieder an. Derartige Befunde seien nicht nachgewiesen, weshalb es bereits an dem medizinischen Bild einer beruflichen Schwerhörigkeit mangele.

Hiergegen erhob der Kläger am 26.7.2022 Widerspruch. Dr. P sage genau das Gegenteil von dem, was in dem Bescheid stehe.

Nachdem auch der Gewerbearzt die Anerkennung einer BK Nr. 2301 BKV nicht zur Anerkennung vorschlug, wies die Beklagte den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 13.10.2022 zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 24.11.2022 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben. Er hat im Wesentlichen sein Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt und auf ein Attest des Dr. P verwiesen.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 11.7.22 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.10.22 zu verpflichten, festzustellen, dass bei ihm eine Berufskrankheit nach Nr. 2301 der Anlage 1 zur BKV vorliegt.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat eine weitere beratungsärztliche Stellungnahme des Dr. H vom 15.3.2023

vorgelegt. Mit Bescheinigung des behandelnden HNO-Artes Dr. P aus R werde die vorliegende Innenohrhörstörung unkritisch als Lärmbedingt gewertet, ohne dies zu begründen. Bezüglich der beiderseits zur Darstellung kommenden

Schalleitungskomponente werde ausgeführt, dass diese durch narbige Veränderungen bedingt seien. Zunächst sei auszuführen, dass narbige Veränderungen zumindest erheblich sein müssten, um eine pantonale Schalleitungsschwerhörigkeit von mindestens 10dB. teilweise 20dB zu verursachen. Abgesehen davon, dass sich der behandelnde HNO-Arzt nicht zur Genese der narbigen Trommelfelle äußere, seien solche deutlichen narbigen Veränderungen immer durch endogene, lärmunabhängige Schädigung /Erkrankung bedingt. Eine chronische Lärmexposition könne nach wissenschaftlich gefestigter Lehre keine Vernarbung des Trommelfells verursachen. Insofern bestehe zumindest eine lärmunabhängige Schädigungskomponente der vorliegenden Hörstörung. Auch die weitere „Erklärung" von Dr. P vermöge nicht zu überzeugen, indem er schreibe, dass die vorliegende Innenohrhörstörung aus HNO-Sicht durch berufsbedingten Lärmverursacht sei. Herr Dr. P liefere keine Begründung für seine These und verkenne eindeutige gesicherte Erkenntnisse zur Lärmschwerhörigkeit. Nachgefestigter und anerkannter wissenschaftlicher Lehre sei Kennzeichen einer chronischen Lärmschädigung eine Hochtonsenke bei 4.000Hz, eine s.g. c5-Senke. Eine solche komme vorliegend nicht zur Darstellung. Rechts zeige sich eine muldenförmige Innenohrhochtonschwerhörigkeit zwischen 2.000 und 3.000Hz, links ein eher senkenförmiger Abfall bei 2.000Hz. Auch die Beteiligung der tiefen und mittleren Frequenzen, zudem mit Stufenbildung bei 500/1.000Hz sei mit chronischer Lärmschädigung nicht zu erklären. Zwar könne es bei langjähriger Lärmexposition auch zu einer Mitschädigung in diesen Frequenzbereichen kommen, in solchen Fällen bestehe aber regelmäßig ein Schrägabfall der Hörschwellenkurve mit kontinuierlichem Abfall der Kurve, ohne Ausbildung von Stufen. Auch sei zu berücksichtigen, dass bedingt durch die pantonale Schalleitungsstörung von mindestens 10dB eine dauerhafte Lärmexposition von deutlich über 95dB gefordert werden müsse, um eine Schädigung der tiefen und mittleren Frequenzen zu begründen, da die Schalleitung als natürlicher Schallschutz diene. Aus dem oben Dargelegten könne nur geraten werden, an der bisherigen Entscheidung festzuhalten, Ermittlungen der beruflichen Lärmexposition seien aus beratungsfachärztlicher Sicht entbehrlich, da keine mit chronischer Lärmschädigung zu erklärende Hörschwellenkonfiguration vorliege. Die Bescheinigung des behandelnden HNO-Arztes Dr. P sei in Bezug auf die Genese der vorliegenden Hörstörung substanzlos und verkenne anerkannte wissenschaftliche Erkenntnisse zur Lärmschwerhörigkeit.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und auf die Verwaltungsakte Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

 

Die Klage ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Es liegen die Voraussetzungen für eine Entscheidung nach § 131 Abs. 5 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) vor. Darauf, ob die angefochtenen Bescheide rechtswidrig sind, kommt es dabei nicht an (wie hier auch Emmenegger, in: Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 2013, § 113 Rn. 146; a. A. Gerhardt, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 113 Rn. 51, der Rechtswidrigkeit gerade wegen mangelnder Sachverhaltsermittlung annimmt). Da über das Sachbegehren des Klägers nicht entschieden wurde, musste die Klage im Übrigen als unbegründet abgewiesen werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. Juli 1998 – 9 C 45.97, juris, Rn. 11; a. A. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. April 2012 – L 11 SB 45/11, juris, Rn. 21).

Gemäß § 131 Abs. 5 Satz 1 SGG kann das Gericht, wenn es eine weitere Sachaufklärung für erforderlich hält, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Dies gilt nach § 131 Abs. 5 Satz 2 SGG auch bei Klagen auf Verurteilung zum Erlass eines Verwaltungsaktes und bei Klagen nach § 54 Abs. 4 SGG; § 131 Abs. 3 SGG ist dabei entsprechend anzuwenden. Eine solche Entscheidung kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen (§ 131 Abs. 5 Satz 5 SGG).

Diese Voraussetzungen liegen hier vor. § 131 Abs. 5 Satz 1 SGG ist anwendbar. Zwar wurde für § 131 Abs. 5 Satz 1 SGG in der bis zum 31. März 2008 geltenden Fassung angenommen, dass die Norm nur für

Anfechtungsklagen gilt (so BSG, Urteil vom 17. April 2007 – B 5 RJ 30/05 R, juris, Rn. 8ff.; a. A. etwa LSG Sachsen, Urteil vom 4. Januar 2006 – L 6 U 150/05, juris, Rn. 4 ff.; SG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 7. März 2007 – S 26 R 289/06, juris, Rn. 15). Jedoch ist § 131 Abs. 5 Satz 1 SGG jedenfalls durch § 131 Abs. 5 Satz 2 SGG in der hier anzuwendenden, seit dem 1. Januar 2009 geltenden Fassung auch bei kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen anwendbar. Die Norm ist auch anwendbar bei kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklagen (so auch – schon zu § 131 Abs. 5 Satz 1 SGG a. F. – LSG Sachsen, Urteil vom 4. Januar 2006 – L 6 U 150/05, juris, Rn. 46), wie hier eine vorliegt. Dies gilt jedenfalls in der hier gegebenen Konstellation, in der der Kläger sein Begehren sowohl als Anfechtungs- und Verpflichtungsklage als auch als Anfechtungs- und Feststellungsklage verfolgen kann (vgl. zum Wahlrecht zwischen diesen Klagearten Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 55 Rn. 13c). Ausgehend vom Zweck des § 131 Abs. 5 Satz 1 SGG kann es für dessen Anwendbarkeit keinen Unterschied machen, welche Klageart der Kläger – im Zweifel eher zufällig – wählt. Die zugunsten des Klägers durch § 55 Abs. 1 SGG eröffnete Möglichkeit, das Bestehen einer Berufskrankheit feststellen zu lassen (vgl. BSG, Urteil vom 2. April 2009 – B 2 U 30/07 R, juris, Rn. 11), sollte nicht dem Gericht die Möglichkeit nehmen, gemäß § 131 Abs. 5 Satz 1 SGG eine Entscheidung zu Lasten des Beklagten zu treffen. Das Gericht hält weitere Sachaufklärung für erforderlich. Für die materielle Entscheidung über das Begehren des Klägers auf Anerkennung der Berufskrankheit nach Nr. 2301 BKV sind noch Ermittlungen zu den arbeitstechnischen Voraussetzungen nötig; ggf. ist sodann noch die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens erforderlich.

Die Anerkennung der geltend gemachten BK richtet sich nach den Vorschriften des Siebten Sozialgesetzbuches (SGB VII). Rechtsgrundlage für die Anerkennung der hier streitigen BK ist § 9 Abs. 1 SGB VII i.V.m. Nr. 2301 der Anlage 1 zur BKV. Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind BKen nur diejenigen Krankheiten, die durch die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats als solche bezeichnet sind (so genannte Listen-BK) und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist für die Feststellung einer Listen-BK erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) sowie, dass eine Krankheit vorliegt. Des Weiteren muss die Krankheit durch die Einwirkungen verursacht worden sein (haftungsbegründende Kausalität). Fehlt eine dieser Voraussetzungen, ist die BK nicht anzuerkennen (vgl. nur BSG, Urteil vom 6. September 2018 - Az. : B 2 U 13/17 R - Rn. 9 m.w.N. - zitiert nach juris). Dass die berufsbedingte Erkrankung ggf. den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität), ist keine Voraussetzung einer Listen-BK. Dabei müssen die "versicherte Tätigkeit", die "Verrichtung", die "Einwirkungen" und die "Krankheit" im Sinne des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen. Für die nach der Theorie   der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit.

Die BK 2301 setzt arbeitstechnische Voraussetzungen in Form einer adäquaten Lärmexposition und das typische Krankheitsbild dieser BK voraus, das heißt, eine Innenohrschwerhörigkeit bzw. einen Tinnitus, sowie dass dieses im Sinne der unfallrechtlichen Kausalitätslehre wesentlich ursächlich auf die berufliche Lärmexposition zurückzuführen ist (haftungsbegründende Kausalität). Tatsächliche Erfahrungswerte, wann eine Lärmexposition als geeignet anzusehen ist, eine Schwerhörigkeit hervorzurufen, wie sich medizinisch ein lärmtypisches Bild zeigt sowie dafür, welche weiteren Einzelheiten im Zusammenhang mit der BK 2301 bedeutsam sind, werden in der sog. Königsteiner Empfehlung (Update 2020, https://publikationen.dguv.de/widgets/pdf/download/article/2559) niedergelegt, die in regelmäßigen Abständen auch an neue Erkenntnisse angepasst wird. Außerdem hat der Verordnungsgeber ein Merkblatt zu der hier in Rede stehenden BK herausgegeben (Bekanntmachung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 01. Juli 2008 – Az. lVa4-45222.2301, GMBL. Nr. 39 vom 05. August 2008, BI. 798-800). Hiervon ausgehend sind nach den Empfehlungen für die Begutachtung der beruflichen Lärmschwerhörigkeit - Königsteiner Empfehlung – und den Darlegungen hierzu etwa in Schönberger/ Mehrtens/ Valentin, 9. Auflage 2017, S. 344 ff. und in Feldmann/Brusis, Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohrenarztes, 8. Auflage 2019, S. 281 ff - für die Anerkennung einer Lärmschwerhörigkeit folgende Kriterien zu prüfen:

1. Es muss eine adäquate Lärmexposition bei der beruflichen Tätigkeit vorgelegen haben.

2. Es muss sich um eine Innenohrschwerhörigkeit mit beidseits annähernd symmetrischem Hörverlust und typischer C5-Senke (umschriebene Hochtonsenke bei 4000 Hz, in fortgeschrittenen Stadien Steilabfall oder Übergang in einen Schrägverlauf) handeln.

3. Die Schwerhörigkeit muss sich während der Lärmarbeit entwickelt haben, sie darf nach Beendigung der Lärmexposition nur im Rahmen der altersentsprechenden Entwicklung fortgeschritten sein.

4. Das Ausmaß und die Entwicklung der Hörstörung müssen in einem adäquaten Verhältnis zur Lärmeinwirkung stehen.

 

Nachdem die Beklagte keinerlei Feststellungen zu Dauer und Umfang der Lärmexposition getroffen hat, kann zu den Ziffern 1, 3 und 4 keine Aussage getroffen werden. Soweit die Beklagte die Anerkennung der BK Nr. 2301 BKV mit der Begründung abgelehnt hat, der typische Befund für eine Lärmschwerhörigkeit entsprechend der obigen Ziff. 2 läge bei dem Kläger nicht vor, so kann dies ohne jegliche Kenntnis der Lärmexposition ebenfalls nicht schlüssig nachvollzogen werden. Hierbei ist nochmals hervorzuheben, dass Voraussetzung für die Anerkennung eines Gehörschadens im Einzelfall der ursächliche Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und einer arbeitsbedingten Lärmeinwirkung (Einwirkungskausalität) sowie der ursächliche Zusammenhang zwischen der Lärmeinwirkung und dem Gehörschaden (haftungsbegründende Kausalität) ist. In der Diskussion des Ursachenzusammenhangs ist zunächst darzulegen, in welcher Art und in welchem Ausmaß eine arbeitsbedingte Lärmeinwirkung bestand. Auf der Basis dieser Feststellung ist der Ursachenzusammenhang zwischen der arbeitsbedingten Lärmexposition sowie der Entstehung und Ausprägung des Gehörschadens darzulegen und zu diskutieren. Ein Zusammenhang zwischen der arbeitsbedingten Lärmexposition und der Schwerhörigkeit ist als wahrscheinlich anzusehen, wenn mehr Gesichtspunkte dafür als dagegen sprechen (Königsteiner Empfehlungen, S. 27 ff).

Ob mehr Gesichtspunkte für als gegen einen Zusammenhang zwischen der arbeitsbedingten Lärmexposition und der Schwerhörigkeit sprechen, kann ohne Kenntnis der arbeitsbedingten Lärmexposition nicht beurteilt werden.

 

Soweit die Beklagte auf eine fehlende Symmetrie der Hörschwellenkurven in den

Tonaudiogrammen verweist, so können Seitendifferenzen auch durch extrem einseitige Beschallung begründet sein (vgl. Merkblatt, S. 4). Ob hier eine arbeitsbedingte einseitige Beschallung stattgefunden hat, kann mit den getroffenen Feststellungen nicht beurteilt werden.

Soweit die Beklagte unter Verweis auf ihre beratungsärztliche Stellungnahme erklärt, gegen einen Ursachenzusammenhang spreche der deutliche Tieftonhörverlust, so ist diese Angabe ohne nähere Kenntnis zur Lärmexposition ebenfalls nicht aussagekräftig für die Beurteilung. Zwar sind bei einer Lärmschwerhörigkeit erst die höheren, dann die mittleren und dann eventuell die tieferen Töne beeinträchtigt (Merkblatt S. 4). Wenn aber nur ein Tonaudiogramm aus 2022 ausgewertet wird, sagt dies bei einer möglichen Lärmexposition seit 1983 nichts über einen eventuell bereits sehr fortgeschrittenen Hörverlust aus. Es ist nicht zulässig, Hörverluste im Tieftonbereich stets anderen, nicht nachweisbaren Ursachen zuzuschreiben. Sie können dann lärmbedingt sein, wenn eine jahrzehntelange Lärmexposition mit Lärmeinwirkung meist über 85 dB bzw. extrem hohen Schallpegeln gegeben war (Schönberger/ Mehrtens/ Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage S. 335). Ob dies bei dem Kläger der Fall war, kann aufgrund der fehlenden Feststellungen nicht beurteilt werden.

Soweit die Beklagte darauf verweist, dass bei dem Kläger keine reine Innenohrschwerhörigkeit vorliegt, sondern gleichzeitig auch eine Schallleitungsstörung, so kann dieser Aspekt ebenfalls die ablehnende Entscheidung der Beklagten nicht stützen. Zwar ist eine Lärmschwerhörigkeit eine Innenohrschwerhörigkeit und keine Schallleitungsstörung (Merkblatt, S. 4). Es kann allerdings auch beides nebeneinander bestehen und die Innenohrschwerhörigkeit unfallbedingt und die Schallleitungsstörung unfallunbedingt sein (kombinierte Hörstörung, sowohl die Schallleitung als auch die Schallempfindung sind hier gestört. Das heißt, dass zum einen das Außenohr und zum anderen das Innenohr geschädigt sind). Jedenfalls bei der Beurteilung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bei einer anerkannten BK nach Ziff. 2301 BKV sind Anteile derSchwerhörigkeit, die nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf eine arbeitsbedingte Lärmeinwirkung zurückgeführt werden können, herauszurechnen, wenn sie abgrenzbar sind (Königsteiner Empfehlungen, S. 28).

Soweit die Beklagte die Anerkennung der BK Nr. 2301 BKV mit der Begründung abgelehnt hat, es fehle in den Hörbefunden eine Hochtonsenke bei 4.000Hz (sog. c5- Senke), so kann dieses Argument ebenfalls nicht durchdringen. Zwar ist in den Tonaudiogrammen vom 5.5.22 und 21.7.22 eine c5-Senke tatsächlich nicht zu erkennen; denn eine Senkenbildung liegt nur dann vor, wenn die Kurve bei einer bestimmten Frequenz eine Knickbildung zeigt und die Kurve nach Erreichen des maximalen Hörverlust wieder ansteigt (Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. Oktober 2022 – L 3 U 118/16 –, Rn. 42, juris). Ein solcher Wiederanstieg ist in den vorliegenden Audiogrammen nicht ersichtlich. Allerdings ist die c5-Senke lediglich bei einer beginnenden Lärmschwerhörigkeit typisch, nicht jedoch bei einer bereits weit fortgeschrittenen. Nachdem der Kläger bereits seit 1983 als Betriebsschlosser arbeitete, ist das Vorliegen einer bereits weit fortgeschrittenen Lärmschwerhörigkeit nicht abwegig, zumal sich aus der Verwaltungsakte die Angabe entnehmen lässt, dass die Hörstörung bei dem Kläger schon seit vielen Jahren besteht. Bei einer anhaltenden Lärmimmission wird die c5-Senke tiefer und breiter und nach jahrelanger Belastung (nach ca. 15 Jahren anhaltendem Lärm) werden danach auch mittlere Frequenzbereiche von der Schädigung betroffen, so dass Hörverluste auch bei 3 und 2 kHz bis hin zu 1000 Hz auftreten können. Die Hochtonsenke bleibt in diesen Fällen oft, aber nicht immer, noch lange zumindest andeutungsweise erkennbar. Der Verlauf nach mehreren Jahrzehnten kann sogar soweit gehen, dass in fortgeschrittenen Stadien einer Lärmschwerhörigkeit ein Steilabfall oder ein Übergang in einen Schrägverlauf im Bereich der mittleren Frequenzen zu verzeichnen ist (Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. Oktober 2022 – L 3 U 118/16 –, Rn. 38, juris). Jedenfalls den zuletzt angefertigten Tonaudiogrammen vom 21.7.22 kann ein dahingehender Steilabfall nach Ansicht des Gerichts zumindest ansatzweiseentnommen werden; die von Dr. H erwähnte (gering ausgeprägte) Stufenbildung kann ggf. auch auf eine fehlerhafte Messung zurückgeführt werden (Königsteiner Empfehlungen, S. 26).

Auch die Ausprägung des Hörverlustes sagt ohne Kenntnis der Lärmexposition nichts über den Kausalzusammenhang aus. Der statistische Mittelwert des Hörverlustes bei 4000 Hz liegt zwar bei 60dB. Aber auch ein Hörverlust von 90 dB ist möglich, wenn hierfür eine Erklärung durch außergewöhnliche Arbeitsplatzverhältnisse vorliegt (Schönberger/ Mehrtens/ Valentin, S. 334).

Ob sich die Hörstörung während der Lärmexposition entwickelt hat, kann vorliegend ebenfalls nicht beurteilt werden, nachdem die Beklagte lediglich Tonaudiogramme aus dem Jahr 2022 ausgewertet hat und unbekannt ist, wann die Lärmexposition überhaupt begonnen hat. Eine zweifelsfreie Beurteilung der Hörbefunde ist somit bei Fehlen aller Angaben zur Lärmexposition und Lärmeinwirkung nicht möglich. Allgemein ist für die medizinische Auswertung von Tonaudiogrammen notwendig, die zugrundeliegende Lärmexposition zu ermitteln. Für die Beurteilung des Ursachenzusammenhangs ist nämlich zu prüfen, ob das Ausmaß und die Entwicklung der Hörstörung im adäquaten Verhältnis zur Lärmeinwirkung stehen (Empfehlung für die Begutachtung der Lärmschwerhörigkeit (BK-Nr. 2301) – Königsteiner Empfehlung, dort auf S. 28).

Die noch erforderlichen Ermittlungen sind nach ihrer Art erheblich. Regelmäßig ist bereits die Einholung eines Sachverständigengutachtens erheblich (so auch LSG Sachsen, Urteil vom 4. Januar 2006 – L 6 U 150/05, juris, Rn. 75 f.; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. April 2012 – L 13 SB 10/12, juris, Rn. 26; wohl auch SG Berlin, Gerichtsbescheid vom 1. Februar 2011 – S 30 R 4456/10, juris, Rn. 35; a. A. etwa LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. April 2012 – L 11 SB 45/11, juris, Rn. 27; Gerhardt, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 113 Rn. 48; Keller, in Meyer- Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 131 Rn. 19 m.w.N.), da die Einholung erhebliche Kosten und zeitlichen Aufwand verursacht.

Ermittlungen zu den arbeitstechnischen Voraussetzungen können die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung aufgrund der technischen Kenntnisse ihres Präventionsdienstes besser und rascher durchführen als das Gericht (BSG, Urteil vom 17. April 2007 – B 5 RJ 30/05 R, juris, Rn. 20).

Die Aufhebung der angegriffenen Bescheide ohne Entscheidung in der Sache selbst ist auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich. Unabhängig davon, ob dem Gericht bereits durch die Formulierung „kann“ in § 131 Abs. 5 Satz 1 SGG Ermessen eingeräumt ist (so LSG Sachsen, Urteil vom 4. Januar 2006 – L 6 U 150/05, juris, Rn. 54; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. April 2012 – L 11 SB 45/11, juris, Rn. 22, und wohl auch Hintz/Lowe, SGG, 2012, § 131 Rn. 50) oder ob es sich dabei um ein Kompetenz-Kann handelt (so Keller, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 131 Rn. 18b), verlangt jedenfalls der Sache nach die Berücksichtigung der Belange der Beteiligten eine Ermessensausübung des Gerichts (vgl. Gerhardt, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 113 Rn. 49). Hierbei ist insbesondere das Interesse des Klägers an einer raschen Entscheidung über sein materielles Begehren zu berücksichtigen (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. April 2012 – L 13 SB 10/12, juris, Rn. 28). Dass dieses Interesse indes nicht absolut ist, folgt schon aus der Regelung des § 131 Abs. 5 Satz 1 SGG selbst. Sie liefe leer, wenn stets die schnelle gerichtliche Entscheidung in der Sache Priorität genießen würde. Im Übrigen ist mit der Zurückverweisung an die Verwaltung auch nicht zwingend eine Verfahrensverzögerung verbunden. Da das Ergebnis der weiteren Sachverhaltsaufklärung offen ist, ist die Möglichkeit, dass das neu eröffnete Verwaltungsverfahren zu Gunsten des Klägers endet, genauso wahrscheinlich wie die Möglichkeit eines für ihn negativen Ausganges. Aber selbst im letzteren Fall ist eine insgesamt längere Verfahrensdauer durch ein erneutes gerichtliches Verfahren nicht zwangsläufig, weil Umstände und Ergebnis der Sachverhaltsermittlung durch die Beklagte auch auf Seiten des Klägers zur Akzeptanz einer negativen Entscheidung führen könnte. Belange des Klägers stehen der Zurückverweisung an die Beklagte also letztlich nicht entgegen.

Bei der Abwägung der Belange insbesondere der Beklagten, die kein Interesse hat, die Aufwand und Kosten verursachende Sachverhaltsermittlung durchzuführen, ist auch der Zweck der Regelung des § 131 Abs. 5 Satz 1 SGG zu berücksichtigen. Nach dem Willen des Gesetzgebers soll die Regelung dem Gericht zeit- und kostenintensive Ermittlungen ersparen, die eigentlich der Behörde obliegen, weil nach Beobachtungen der Praxis die erforderliche Sachverhaltsaufklärung von den Verwaltungsbehörden zum Teil unterlassen werde, was zu einer sachwidrigen Aufwandsverlagerung auf die Gerichte geführt habe (so Begründung des Gesetzentwurfes auf BT-Drucks. 15/1508, S. 29). Da es sich vorliegend um die Konstellation handelt, die der Gesetzgeber im Blick hatte, ist dies im Rahmen der Ermessensausübung als Gesichtspunkt für die Zurückverweisung zu berücksichtigen.

Vor diesem Hintergrund sprach aus Sicht der Kammer mehr für eine Entscheidung nach § 131 Abs. 5 Satz 1 SGG als für eine Fortführung des gerichtlichen Verfahrens und weitere Sachverhaltsermittlung durch das Gericht.

Die Frist des § 131 Abs. 5 Satz 5 SGG ist gewahrt. Die Akten der Beklagten sind beim Gericht am 2.12.2022 eingegangen. Bis zur Entscheidung des Gerichts am 28.4.23 sind damit nur fünf Monate vergangen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG. Zwar hat der Kläger mit seinem Klagebegehren in der Sache nicht obsiegt, sondern lediglich die Zurückverweisung an die Beklagte erreicht; da dieser Umstand aber von der Beklagten zu vertreten ist, ist die Kammer nunmehr der Auffassung, dass dies bei der Kostenentscheidung nicht zu Lasten des Klägers gehen darf. Die Beklagte hat daher die Kosten des Klägers dem Grunde nach vollständig zu tragen (ebenso SG Berlin, Gerichtsbescheid vom 1. Februar 2011 – S 30 R 4456/10, juris, Rn. 43; Gerhardt, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 113 Rn. 51).

Rechtskraft
Aus
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