L 22 R 428/23 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
22
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 13 R 17/23 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 22 R 428/23 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
  1. § 51 Abs. 2 SGB I regelt nicht einen Beibringungsgrundsatz, sondern eine Obliegenheit im Sinne einer verstärkten Mitwirkungspflicht beim Nachweis der eigenen Hilfebedürftigkeit.
  2. Sind Umstände im Rahmen eines auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung betriebenen Verfahrens nicht im Sinne der Glaubhaftmachung überwiegend wahrscheinlich, ergeben sich insofern keine erheblichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides.
  3. Zum gerichtlichen Ermessen bei Entscheidung über eine Folgenbeseitigung nach § 86b Abs. 1 Satz 2 SGG, wenn die Voraussetzungen für eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung vorliegen.
  4. Hat sich das Sozialgericht mit einem Streitgegenstand, für den der Sozialrechtsweg nicht eröffnet ist (hier Schadensersatzforderung aus Amtshaftung), weder hinsichtlich der Sachentscheidungsvoraussetzungen noch inhaltlich beschäftigt und daher auch nicht stillschweigend die Zuständigkeit für das Landessozialgericht bindend angenommen, muss dieses den Rechtsstreit insofern an das zuständige Gericht des zutreffenden Rechtsweges verweisen.

 

 

  1. Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 13. Juli 2023 wird zurückgewiesen.

 

  1. Kosten sind nicht zu erstatten.

 

  1. Soweit der Antragsteller Schadensersatz geltend macht, ist der Rechtsweg zu den Sozialgerichten unzulässig. Der Rechtsstreit wird insofern an das zuständige

 

Landgericht Bochum,

Josef-Neuberger-Str. 1, 44787 Bochum,

 

verwiesen.

 

Gründe:

 

I.

 

Der Antragsteller begehrt im Wege des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes die Einstellung der Verrechnung und die Auszahlung des vollständigen Rentenbetrages sowie Schadensersatz.

 

Der 1956 geborene Antragsteller bezieht von der Antragsgegnerin mit Bescheid vom 15. November 2018 ab Juni 2017 Altersrente für schwerbehinderte Menschen. Den Nachzahlungsanspruch kehrte die Antragsgegnerin teilweise (10.149,83 Euro) an das Jobcenter für dessen Leistungen von Mai 2017 bis einschließlich Dezember 2018 aus und behielt die verbleibenden Teile i.H.v. 1.397,58 Euro ein. Für die Zeit vom Dezember 2007 bis März 2009 bestanden für die freiwillige Kranken- und Pflegeversicherung des Antragstellers Beitragsforderungen i.H.v. 4.779,15 Euro (bestandskräftiger, öffentlich zugestellter Bescheid vom 18.05.2010, der weitergehende Beitragsforderungen bis Mai 2010 feststellte) und Säumniszuschläge bis Mai 2010, festgestellt durch Bescheid vom 18. Mai 2010 in Höhe von 3.385,50 Euro. Wegen einer Gesetzesänderung (§ 256a Abs. 3 SGB V) erließ die Beigeladene vier Fünftel der bis zum 31. Juli 2013 angefallenen Säumniszuschläge. Die Beigeladene richtete an die Antragsgegnerin das Verrechnungsersuchen vom 27.11.2018 über die offenen Beitragsschulden und Säumniszuschläge bis Oktober 2016 i.H.v. 4.589,50 Euro. Aus der Rentennachzahlung verrechnete die Antragsgegnerin nach Anhörung des Antragstellers (Schreiben vom 29.05.2019)  den Betrag von 1.383,78 Euro. Gegen die Ansprüche auf monatliche Auszahlung der Rente nahm die Antragsgegnerin eine Verrechnung zugunsten der Beigeladenen vor. Den Verrechnungen legte die Antragsgegnerin Beitragsrückstände der Beigeladenen und der Pflegeversicherung von 4.779,15 Euro und Säumniszuschläge bis Oktober 2016 i.H.v. 4.589,50 Euro zugrunde. Die Verrechnung ist seit November 2022 abgeschlossen und der Antragsteller erhält die Rente seitdem in ungekürztem Umfang. Das Hauptsacheverfahren zur Anfechtung der Verrechnung wird am Sozialgericht Berlin zum Aktenzeichen S 13 R 1760/22 geführt.

 

Am 3. Januar 2023 beantragte der Antragsteller beim Sozialgericht Berlin eine einstweilige Anordnung. Die Rentenzahlungen seien Lohnersatzleistungen seiner bereits eingezahlten Versicherungsbeiträge und würden einer besonderen Sorgfaltspflicht unterliegen. Die Versorgung der Rentner und ihrer Familien sei immer vorrangig zu betrachten. Die Antragsgegnerin habe die Sorgfaltspflicht verletzt durch Nichtigkeit des Verwaltungsaktes nach § 44 VwVfG. Es seien Schäden an der Gesundheit des Antragstellers und ein Unterhaltsrückstand eingetreten, was jeweils sofort zu entschädigen sei. Die Entschädigung sei auf 250.000 Euro festzulegen. Von den verbliebenen 325 Euro könne er weder den Unterhalt noch die Schulgebühren für die Swiss International Schule von Berlin bezahlen. Seine Kinder würden auf 30.000 Euro Unterhalt warten. Der Zahlungsverzug bestehe seit Mai 2017.

 

Die Antragsgegnerin meint, seit 2005 gelte für die bei Aufrechnungen bzw. Verrechnungen zu berücksichtigende Sozialhilfebedürftigkeit der Beibringungsgrundsatz und der Antragsteller habe eine Sozialhilfebedürftigkeit nicht nachgewiesen. Sofern der Antragsteller für den Verrechnungszeitraum durch eine Bescheinigung die Hilfebedürftigkeit nachweise, würde sie die Rücknahme des Bescheides vom 1. Juli 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Juli 2020und die Verrechnung mit Bescheid vom 6. August 2020 prüfen.

 

Das Sozialgericht Berlin hat den Antrag durch Beschluss vom 13. Juli 2023 abgelehnt. Der Antragsteller habe keine wesentlichen Nachteile im Sinne des § 86b Abs. 2 SGG glaubhaft gemacht, die ihm ohne den Erlass der einstweiligen Anordnung entstehen würden. Da die Rente inzwischen wieder ausgezahlt werde, gehe es nur um den Anspruch auf Rückzahlung des verrechneten Teils des Rentenanspruchs. Es sei dem Antragsteller zuzumuten, die Entscheidung der Hauptsache abzuwarten.

 

Gegen den ihm am 18. Juli 2023 zugestellten Beschluss wendet sich der Antragsteller mit seiner am 24. Juli 2023 eingelegten Beschwerde. Eine Pfändung der Rente bei ihm als Rentner mit schulpflichtigen Kindern sei selbst in der BRD nicht möglich und stelle, weil das Kriegsrecht aktiv sei und nur die Haager Landkriegsordnung gelte, ein Kriegsverbrechen dar. Die Reduzierung der Rente habe schwere gesundheitliche Auswirkungen gehabt. Eine Herzoperation 2022 habe er nur mit Glück überlebt. Seine Frau könne die Kosten nicht mehr tragen.

 

Der Antragsteller als lebendig beseelter Mensch hat die Präsidentin des Landessozialgerichts um Amtshilfe gebeten.

 

Der Senat entnimmt dem Vorbringen des Antragstellers den Antrag,

 

den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 13. Juli 2023 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung der Klage S 13 R 1760/22 anzuordnen sowie der Antragsgegnerin aufzuerlegen, die seit Mai 2017 einbehaltenen Rentenbeträge auszuzahlen und dem Antragsteller Schadensersatz von 250.000,00 Euro zu zahlen.

 

Die Antragsgegnerin beantragt sinngemäß,

 

die Beschwerde zurückzuweisen.

 

Sie verweist auf das Vorbringen in 1. Instanz und die ihr von der Beigeladenen übersandten Dokumente. Der Antragsteller habe mit Schreiben vom 12. März und 12. Juni 2019 mitgeteilt, dass er keine Grundsicherungsleistungen bezogen habe.

 

Der Senat hat mit Beschluss vom 5. September 2023 die Beigeladene als weitere Beteiligte des Verfahrens einbezogen.

 

Die Beigeladene hat gegenüber der Antragsgegnerin geäußert, dass ein Beitragsbescheid ein so genannter Verwaltungsakt sei, der nach § 43 VwVfG solange wirksam bleibe, soweit er nicht erledigt sei. Säumniszuschläge entstünden kraft Gesetzes. Bescheide über deren Erhebung würden nicht erlassen. Die nach § 256a Abs. 3 SGB V erlassenen Säumniszuschläge hätten einen Umfang von 10.764,00 Euro. Auch darüber sei kein Verwaltungsakt erlassen worden.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der vorliegenden Gerichtsakte.

 

 

II.

 

Die Beschwerde ist hinsichtlich der Verrechnung zulässig, jedoch nicht begründet. Soweit der Antragsteller die Schadensersatzforderung mit der Beschwerde weiterverfolgt, fehlt es sowohl an einer vorausgehenden Entscheidung des Sozialgerichts, als auch der Rechtswegeröffnung zu den Sozialgerichten. Insofern war die Sache nach Anhörung der Beteiligten an das zuständige Gericht zu verweisen.

 

Das Rechtsschutzgesuch des Antragstellers hinsichtlich der Verrechnung ist nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 SGG zu beurteilen. Hiernach kann das Gericht auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Ein solcher Fall ist hier gegeben. Die Antragsgegnerin hat die Verrechnung mit Beitrags- und Säumnisforderungen durch Verwaltungsakt, hier durch den Bescheid vom 1. Juli 2019, vorgenommen. Dies ist auch die für die Verrechnung gemäß § 52 SGB I richtige Handlungsform (BSG Großer Senat, Beschluss vom 31.08.2011, GS 2/10), so dass es sich bei den im Hauptsacheverfahren angefochtenen Bescheiden nicht nur um so genannte „formelle Verwaltungsakte“ bzw. „Schein-Verwaltungsakte“ handelt und hier nur eine Regelungsanordnung in Betracht käme, wie es das Sozialgericht angenommen hat.

 

Da es sich bei der Verrechnung um die Herabsetzung/Auszahlung einer laufenden Leistung handelt, hat die Anfechtungsklage gegen die oben genannten Bescheide gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 3 SGG keine aufschiebende Wirkung. Dies gilt auch hinsichtlich des einbehaltenen Nachzahlungsbetrages.

 

Im vorliegenden Fall ist die Verrechnung jedoch bereits abgeschlossen, weshalb eine Entscheidung nach § 86a Abs. 1 Satz 2 SGG in Betracht kommt. Nach dieser Vorschrift kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen, wenn der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen oder befolgt worden ist. § 86b Abs. 1 S. 2 SGG ist als Ermessensentscheidung des Gerichts ausgestaltet. Es handelt sich dabei um eine Annexentscheidung zur Entscheidung über die aufschiebende Wirkung (Wahrendorf in BOGK, § 86b SGG, Stand: 01.05.2023, RdNr. 142; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt: SGG, 13. Aufl. § 86b, RdNr. 10a m.w.N.).

 

Bei seiner Entscheidung hat das Gericht vom gesetzlichen Regelfall auszugehen, wonach eine aufschiebende Wirkung gerade nicht bestehen soll. Die Einwendungen gegen den angefochtenen Bescheid müssen mithin gravierend sein, es müssen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit bestehen (vgl. § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG). Es kann kein öffentliches Interesse an der Vollstreckung mutmaßlich rechtswidriger Bescheide bestehen.

 

Das vom Antragsteller behauptete Verbot von Pfändungen begründet keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes, weil es im Rahmen der von der Antragsgegnerin vorgenommenen Verrechnung nach §§ 52, 51 SGB I nicht gilt. Ein sozialstaatlicher Pfändungsschutz, der Unterhaltsforderungen Vorrang vor Steuer- und Beitragsansprüchen staatlicher Träger eingeräumt haben könnte, hat in der deutschen Rechtsgeschichte vor der Schaffung des deutschen Sozialstaates in Form der Bundesrepublik Deutschland ohnehin nicht bestanden. Nach § 52 SGB I gilt § 51 Abs. 2 SGB I. Danach kann der zuständige Leistungsträger mit Beitragsansprüchen nach diesem Gesetzbuch gegen Ansprüche auf laufende Geldleistungen bis zu deren Hälfte aufrechnen, wenn der Leistungsberechtigte nicht nachweist, dass er dadurch hilfebedürftig im Sinne der Vorschriften des Zwölften Buches über die Hilfe zum Lebensunterhalt oder der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch wird.

 

Anders als von der Antragsgegnerin behauptet regelt diese Vorschrift hinsichtlich der negativen Tatbestandsvoraussetzung der Hilfebedürftigkeit nicht den Beibringungsgrundsatz. Vielmehr trifft den Leistungsberechtigten die Obliegenheit im Sinne einer verstärkten Mitwirkungspflicht, seine Hilfebedürftigkeit nachzuweisen. Es handelt sich um eine „weitergehende Pflicht“ i.S.d. § 21 Abs. 2 S. 2 SGB X, die der Ermittlung des Sachverhalts dient und den Untersuchungsgrundsatz (§ 20 SGB X) ergänzt (Siefert in BeckOGK - Kasseler Kommentar, Stand 01.08.2022, § 51 SGB I, RdNr. 20 m.w.N., Gutzler in BOK, Stand 01.06.2023, § 51 SGB I, RdNr. 22).

 

Die tatsächlichen Umstände der wirtschaftlichen Situation des Antragstellers finden sich in dessen persönlicher Sphäre, so dass er im Rahmen dieser Obliegenheit zu seiner Hilfebedürftigkeit über pauschale Behauptungen hinaus substantiiert vortragen und Belege beibringen muss, damit sich weitergehende Anhaltspunkte auch für Amtsermittlungen ergeben könnten. Für eine Hilfebedürftigkeit ist auch nach dem Vortrag des Antragstellers nichts ersichtlich, denn er trägt selbst vor, dass seine Ehefrau bislang die Kosten getragen habe und dies nun nicht mehr könne. Über seinen eigenen Vortrag hinaus hat er keinerlei Belege für eine grundsicherungsrechtliche Hilfebedürftigkeit vorgelegt und selbst vorgetragen, Grundsicherungsleistungen nicht zu beziehen. Damit ist eine Hilfebedürftigkeit im Zeitraum der Vornahme der Verrechnung nicht einmal überwiegend wahrscheinlich. Insofern ergeben sich mithin keine erheblichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides.

 

Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verrechnungsbescheides ergeben sich hinsichtlich der verrechneten Säumniszuschläge, soweit sie den Betrag von 677,10 Euro übersteigen. Eine Erstattung der insofern verrechneten Leistungen im Rahmen der Folgenbeseitigung nach § 86b Abs. 1 Satz 2 SGG erscheint dem Senat jedoch nicht ermessensgerecht. Im Übrigen stellen sich trotz einiger rechtlicher Fehler der Beigeladenen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Verrechnung, so dass insofern schon keine Anordnung der aufschiebenden Wirkung im Raum stand.

 

Vorliegend bestand dem Grunde nach mit Beginn des Rentenanspruchs, konkret mit der Feststellung der jeweiligen monatlichen Rentenzahlungsansprüche objektiv eine Auf- bzw. Verrechnungslage (entsprechend § 387 BGB). Eine solche ist gegeben, wenn der zur Auf- bzw. Verrechnung ermächtigende Leistungsträger die ihm gebührende Geldzahlung fordern und wenn der die Auf- bzw. Verrechnung erklärende Träger die ihm obliegende Geldzahlung bewirken kann (BSG, Urteil vom 07.02.2012, B 13 R 85/09 R, RdNr. 55). Die Forderung, mit der verrechnet wird (hier: Forderung der Beigeladenen gegen den Antragsteller), muss entstanden und fällig sein; die gleichartige Forderung, gegen die (durch Einbehaltung mittels Verwaltungsakts) verrechnet werden soll (hier: Zahlungsanspruch des Antragstellers aus der Altersrente gegen die Antragsgegnerin), muss zwar nicht fällig, aber entstanden und erfüllbar sein (BSG, Urteil vom 07.02.2012, B 13 R 85/09 R, RdNr. 55 m.w.N.). Zudem müssen die Forderungen der Beigeladenen bestandskräftig geworden sein (BSG, Urteil vom 24.07.2003, B 4 RA 60/02 R, juris-RdNr. 27; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23.02.2012, L 31 R 486/10; Gutzler in BeckOK, 69. Edition, Stand: 01.06.2023, § 51 SGB I RdNr. 9 m.w.N.). Schließlich muss eine Ermächtigungserklärung vorliegen, der dem die Verrechnung erklärenden Sozialleistungsträger die Verrechnung ermöglicht (BSG, Urteil vom 24.07.2003, B 4 RA 60/02 R, juris-RdNr. 27).

 

Diese Voraussetzungen lagen hier für die Verrechnung der Beitragsforderungen und der Säumniszuschläge bis zum Betrag von 677,10 Euro vor. Die von der Verrechnungsermächtigung der Beigeladenen vom 27. November 2018 erfassten und gegen den Antragsteller geltend gemachten Ansprüche auf Erstattung von insgesamt 9.368,65 Euro waren entstanden und fällig. Sie waren von der Beigeladenen gegenüber dem Antragsteller hinsichtlich der Beitragsforderungen und der Säumniszuschläge bis zu 677,10 Euro durch den Verwaltungsakt vom 18. Mai 2010 bestandskräftig festgestellt worden (§ 77 SGG).

 

Das Schreiben der Beigeladenen vom 18. Mai 2020 stellt einen Verwaltungsakt nach § 31 SGB X dar, weil es eine sozialrechtliche Regelung im Einzelfall des Antragstellers mit Außenwirkung (dem Antragsteller gegenüber) getroffen hat. Gegenstand waren hinreichend bestimmt Beitragsforderungen der Beigeladenen und der Pflegekasse von insgesamt 5.877,15 Euro (1.117,02 Euro sowie zuvor angemahnte 4.760,13 Euro), also mehr als die zur Verrechnung gebrachten 4.779,15 Euro aus Beitragsrückständen, sowie Säumniszuschläge von 3.385,50 Euro. Da die Beigeladene von diesen Säumniszuschlägen nach § 256a SGB V vier Fünftel erließ, reduzierte sich die auf diesen Bescheid gestützte Forderung von Säumniszuschlägen auf 677,10 Euro. Dieser öffentlich zugestellte Bescheid wurde bestandskräftig, so dass die angesprochenen Forderungen zur Auf-/Verrechnung stehen konnten. Dass dieser Verwaltungsakt formell rechtswidrig war, weil er sich nach seiner Formulierung und mangels einer zwingenden Rechtsmittelbelehrung (§ 36 SGB X) nicht unmittelbar, sondern erst durch Auslegung als Verwaltungsakt zu erkennen gibt, ist unerheblich. Die formelle Rechtswidrigkeit bleibt wegen § 42 Satz 1 SGB X im vorliegenden Fall unbeachtlich, weil sie keinen Einfluss auf die Sachentscheidung gehabt haben kann. Für eine Nichtigkeit weist der Fehler nicht die erforderliche Schwere auf, da die fehlende Rechtsbehelfsbelehrung über die Verlängerung der Rechtsbehelfsfrist (auf ein Jahr) bereits gesetzlich aufgefangen wird.

 

Die Ermächtigungserklärung vom 27. November 2018 teilte hinreichend bestimmt die Forderungen der Beigeladenen und der Pflegekasse mit. Dabei durfte die Beigeladene auch für die Pflegekasse handeln. Sie gab dabei auch die Bestandskraft der Forderungen und die aus ihrer Sicht maßgeblichen bestandskräftigen Bescheide an. Dass die Bestandskraft der angegebenen Bescheide nicht die gesamte angegebene Forderung betreffen konnte, stellt einen Begründungsmangel dar, den die Antragsgegnerin (ggf. nach erforderlicher Rückfrage) im Rahmen ihrer Ermessensausübung zu bedenken hatte, lässt aber die Wirksamkeit der Ermächtigung nicht entfallen.

 

Die Zahlungsansprüche des Antragstellers aus den insoweit jeweils bindenden Rentenbescheiden waren jeweils wirksam entstanden und erfüllbar. Dies gilt insbesondere für die einbehaltene Rentennachzahlungsforderung.

 

Die Antragsgegnerin hat auch die erforderliche Ermessensausübung vorgenommen. Sie hat sich dabei insbesondere und im Rahmen ihres Ermessens zutreffend auf das Finanzierungsinteresse der Versichertengemeinschaften der Beigeladenen und der Pflegeversicherung berufen.

 

Ernsthafte Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit des Verrechnungsbescheides ergeben sich hinsichtlich der zur Verrechnung gebrachten Säumniszuschläge, soweit sie den Betrag von 677,10 Euro übersteigen. Insofern fehlt es an einem bestandskräftigen Verwaltungsakt. Zwar waren die Säumniszuschläge, wie die Beigeladene zutreffend annimmt, kraft Gesetzes entstanden. Damit sie einredefrei der Gegenforderung gegenüberstehen könnten, bedurfte es jedoch ihrer bestandskräftigen Feststellung durch einen Verwaltungsakt (BSG Urteil vom 24.07.2003, B 4 RA 60/02 R, juris-RdNr. 27; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23.02.2012, L 31 R 486/10; Gutzler in BeckOK, 69. Edition, Stand: 01.06.2023, § 51 SGB I RdNr. 9 m.w.N.). Jedenfalls für Zeiträume ab 2010 hatte die Beigeladene auch keine bestandskräftigen Bescheide im Ermächtigungsersuchen erwähnt. Insofern hätte die Antragsgegnerin zumindest nachfragen müssen, weil es nicht plausibel erscheint, dass für Zeiträume für die Zukunft bereits bestandskräftig festgestellte Forderungen im Raum stehen könnten. Dies hätte spätestens bei der Ermessensausübung berücksichtigt werden müssen. Daher kam für die Verrechnung der den Betrag von 677,10 Euro übersteigenden Säumniszuschlägen die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht.

 

Gerade für eine solche Situation räumt das Gesetz den Gerichten bei der Entscheidung über die Folgenbeseitigung nach § 86b Abs. 1 Satz 2 SGG ein Ermessen ein. Denn besteht schon kein Grund für eine aufschiebende Wirkung, kommt eine Folgenbeseitigung erst recht nicht in Betracht.

 

Der Senat übt sein Ermessen dahingehend aus, dass eine Auszahlung der verrechneten Rentenbeträge, soweit die Beigeladene Säumniszuschläge über 677,10 Euro hinaus geltend gemacht hat, bis zur Entscheidung der Hauptsache nicht zu erfolgen hat. Dabei berücksichtigt der Senat insbesondere, dass die Säumniszuschläge kraft Gesetzes entstanden sind und von der Beigeladenen rechtmäßig geltend gemacht werden können. Nach Abschluss der Verrechnung besteht mithin in der Sache ein rechtmäßiger Zustand. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass dies nicht der Fall sein könnte. Die Beigeladene hat insofern auch kein Ermessen. Es erscheint wahrscheinlich, dass die Beigeladene die Säumniszuschläge auch noch bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens bestandskräftig festsetzt. Im Rahmen der Interessenabwägung, die der Senat bei Ermessenbetätigung vorzunehmen hat, berücksichtigt er auch, dass die Verrechnung abgeschlossen ist und der Antragsteller keine gegenwärtig gravierenden Nachteile dargetan hat, die er ohne die vorläufige Auszahlung hinnehmen müsste. Die Rente wird inzwischen ungekürzt ausgezahlt. Bei den Unterhaltsforderungen hat er fortwirkende tatsächliche Nachteile für die evtl. Unterhaltsberechtigten nicht angesprochen. Denn insofern hat er lediglich ausgeführt, dass bislang seine Ehefrau entsprechende Leistungen erbracht hat. Insofern kommt es nicht darauf an, dass er weder eine Unterhaltsverpflichtung noch eine Unterhaltsberechtigung des Näheren dargelegt, geschweige denn belegt hat. Einen Zusammenhang mit gesundheitlichen Aspekten hat er lediglich vage behauptet, jedoch nicht annähernd substantiiert. Unter diesen Umständen kommt der Realisierung der rechtmäßig angefallenen Säumniszuschläge Vorrang zu.

 

 

Hinsichtlich der im Rahmen einer objektiven Häufung von Rechtsschutzbegehren erfolgten Geltendmachung von Schadensersatzforderungen scheidet eine Sachentscheidung durch die Sozialgerichtsbarkeit aus. Die Sache war insofern an das zuständige Landgericht zu verweisen.

 

Nach § 202 SGG i.V.m. § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG spricht das Gericht, wenn der zu ihm beschrittene Rechtsweg unzulässig ist, dies aus und verweist den Rechtsstreit zugleich an das zuständige Gericht des zulässigen Rechtsweges. Eine Verweisung des Rechtsstreits ist jedoch nur dann geboten und zulässig, wenn der beschrittene Rechtsweg schlechthin, d.h. für den Klageanspruch mit allen in Betracht kommenden Klagegründen, unzulässig ist (BSG, Beschluss vom 04.04.2012, B 12 SF 1/10 R, RdNr. 7 m.w.N.). Anderenfalls entscheidet das angegangene Gericht des zulässigen Rechtsweges nach § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG den Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden - also auch für ihn rechtswegfremden - rechtlichen Gesichtspunkten.

 

Die Zulässigkeit des Rechtsweges richtet sich nach dem Streitgegenstand. Dieser wird durch den geltend gemachten prozessualen Anspruch, d.h. durch den geltend gemachten Anspruch im Sinne eines bestimmten Sachverhalts bestimmt (stRspr. BSG ebd. RdNr. 8 m.w.N.). Der Streitgegenstand ist vorliegend der vom Antragsteller erhobene Anspruch auf Schadensersatz. Dafür gibt es keine sozialrechtliche Anspruchsgrundlage.

 

Für diesen Anspruch ist vielmehr der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten und dort zu den Landgerichten eröffnet (Art. 34 GG, §§ 17, 71 GVG). Die Verweisung kann durch den Senat erfolgen, weil sich das Sozialgericht mit diesem Streitgegenstand weder hinsichtlich der Sachentscheidungsvoraussetzungen noch inhaltlich beschäftigt hat. Es hat daher insbesondere nicht stillschweigend eine Entscheidung über die eigene Zuständigkeit getroffen, an die der Senat gebunden wäre. Weil der Antragsteller diesen Streitgegenstand jedoch auch vor dem Senat verfolgt hat, muss sich der Senat dazu verhalten. Allerdings kommt es nicht darauf an, dass der Senat evtl. schon wegen einer fehlenden Entscheidung der Vorinstanz nicht zu einer Sachentscheidung berufen wäre. Er hat die Sache mangels dessen Rechtswegzuständigkeit auch nicht an das Sozialgericht zurückzugeben, damit dieses eine Entscheidung nachholt. Die einzige dem Senat insofern mögliche Entscheidung ist die Verweisung an das zuständige Gericht. Weil wegen des Sitzes der Antragsgegnerin im dortigen Gerichtsbezirk das Landgericht Bochum örtlich zuständig ist, hatte die Verweisung an jenes Gericht zu erfolgen.

 

 

Die vorliegende Entscheidung muss wegen § 63 Abs. 1 Satz 1, 202 SGG, 329 Abs. 2 Satz 1 ZPO nicht zugestellt werden, weil sie keine Frist auslöst und nicht anfechtbar ist. Die Übersendung von Abschriften ist daher ausreichend. Wird zugestellt, genügt wegen §§ 202, 142 SGG, 166 ff., 329 Abs. 1 Satz 2, 317 Abs. 2 ZPO die Übersendung beglaubigter Abschriften, weil wegen § 317 Abs. 2 Satz 1 ZPO Ausfertigungen nur auf Antrag und nur in Papierform erteilt werden. Die Beglaubigung der zuzustellenden Schriftstücke wird gemäß §§ 202 SGG, 169 Abs. 2 Satz 1 ZPO von der Geschäftsstelle vorgenommen. Sofern der Antragsteller auf die Aufhebung des Gesetzes, betreffend die Beglaubigung öffentlicher Urkunden hingewiesen hat, galt dieses Gesetz ohnehin nicht für gerichtliche Entscheidungen wie Urteile und Beschlüsse. Der Beschluss des Sozialgerichts musste dagegen, weil er anfechtbar war und durch seine Zustellung die Rechtsmittelfrist auslöste, zugestellt werden. Die Übermittlung der durch die Geschäftsstelle des Sozialgerichts beglaubigten Abschrift erfüllte die Zustellungsvoraussetzungen.

 

Die Kostenentscheidung für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt die Erfolglosigkeit der Rechtsverfolgung. Die Kostenentscheidung betreffend den Schadenersatzanspruch wird durch das Gericht getroffen, an das der Rechtsstreit verwiesen wurde (§ 17b Abs. 2 GVG).
Der Beschluss kann nicht angefochten werden (§ 177 SGG).

Rechtskraft
Aus
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