L 14 AS 870/23 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
14
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 31 AS 498/23 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 14 AS 870/23 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

Unabhängig vom Institut der temporären Bedarfsgemeinschaft besteht bei Hilfebedürftigkeit ein Leistungsanspruch in der Bedarfsgemeinschaft für die hälftige Aufenthaltszeit, wenn unter 25jährige Erwachsene vor Erreichen der Volljährigkeit mit einem Elternteil und einem minderjährigen Geschwisterkind in temporärer Bedarfsgemeinschaft gelebt haben, wegen des Wechselmodells die Bestimmung eines Aufenthaltsschwerpunktes bei Vater oder Mutter ausscheidet und sich der oder die volljährig Gewordene entscheidet, weiterhin im Wechselmodell bei den Eltern zu leben. Der Anspruch des oder der volljährig Gewordenen stellt sich in solchen Fällen mit Erreichen der Volljährigkeit nicht als Leistung zur Ausübung des Umgangsrechts, sondern als Leistung zur eigenen Existenzsicherung dar. 

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 24. August 2023 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin für die Zeit vom 1. Juli 2023 bis 31. Dezember 2023 monatlich 201,00 Euro vorläufig zu bewilligen und auszuzahlen. Im Übrigen werden der Antrag der Antragstellerin abgelehnt und die Beschwerde des Antragsgegners zurückgewiesen.

 

Der Antragsgegner hat der Antragstellerin auch für das Beschwerdeverfahren die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

 

Gründe
 

I.

 

Die Beteiligten streiten um den Leistungsanspruch der Antragstellerin, die auch nach Erreichen der Volljährigkeit im wöchentlichen Wechsel bei ihrem Vater lebt.

 

Die im März 2005 geborene Antragstellerin und ihr im Januar 2008 geborener Bruder leben seit der Trennung ihrer Eltern vor mehreren Jahren im wöchentlichen Wechsel bei ihrer Mutter und bei ihrem Vater, die in getrennten Haushalten in Potsdam leben. Die Antragstellerin ist polizeilich mit Hauptwohnung bei ihrer Mutter gemeldet. Die Mutter geht einer Beschäftigung als Kindergärtnerin nach und bezieht bedarfsdeckendes Einkommen. Der Vater ist selbständiger Künstler, der Gewinn aus seiner Tätigkeit genügt nicht, um den eigenen Bedarf und den seiner Kinder während ihrer Aufenthaltszeiten zu decken, er bezieht seit Längerem Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom Antragsgegner. Die Antragstellerin besucht derzeit die 11. Klasse und beabsichtigt, im übernächsten Jahr das Abitur abzulegen.

 

Die Antragstellerin hatte vor Erreichen der Volljährigkeit gemeinsam mit ihrem Vater und ihrem Bruder Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II vom Antragsgegner bezogen. Mit Bescheid vom 3. Januar 2023 hatte der Antragsgegner vorläufig Bürgergeld bewilligt, einen Leistungsanspruch der Antragstellerin jedoch nur bis zum Tag vor ihrem 18. Geburtstag berücksichtigt. Der hiergegen erhobene Widerspruch war erfolglos geblieben, der Antragsgegner hatte ihn mit der Begründung zurückgewiesen, nur ein minderjähriges Kind getrennt lebender hilfebedürftiger Eltern könne dauerhaft beiden elterlichen Haushalten zugeordnet werden. Für die Anwendung des Instituts der temporären Bedarfsgemeinschaft bestehe mit dem Eintritt der Volljährigkeit und dem Ende des Sorge- und Umgangsrechts keine Notwendigkeit mehr. Das Sozialgericht Potsdam hatte sodann den Antragsgegner auf einen Antrag der Antragstellerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin über den 18. Geburtstag hinaus im Einzelnen bezifferte Leistungen nach dem SGB II vorläufig zu zahlen (Beschluss vom 27. April 2023 – S 31 AS 197/23 ER), da die Bedarfsgemeinschaft weiter bestehe und die Antragstellerin hilfebedürftig sei. Auf die Beschwerde des Antragsgegners hatte des Landessozialgericht Berlin-Brandenburg die Entscheidung geändert und den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz insgesamt abgelehnt (Beschluss vom 20. Juli 2023 – L 31 AS 527/23 B ER). Zur Begründung hatte der 31. Senat ausgeführt, die Antragstellerin besuche eine allgemeinbildende Schule, wofür nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) grundsätzlich Ausbildungsförderung geleistet werden könne, so dass ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II naheliege. Eine temporäre Bedarfsgemeinschaft nach dem Erreichen der Volljährigkeit könne nicht angenommen werden. Ferner ergebe sich aus § 36 SGB II, dass auf die Umstände am Ort des gewöhnlichen Aufenthalts abzustellen sei, was der Ort der Hauptwohnung bei ihrer Mutter sei. Daher könne dahingestellt bleiben, ob die Antragstellerin nach § 2 SGB II verpflichtet sei, zur Vermeidung von Hilfebedürftigkeit bei ihrer Mutter zu wohnen.

 

Am 30. Mai 2023 beantragte der Vater der Antragstellerin für sich und seine beiden Kinder die Weiterbewilligung von Bürgergeld. Er gab an, für die Wohnung monatlich 1.086,58 Euro bruttowarm aufwenden zu müssen und Kindergeld für seinen Sohn von 250 Euro monatlich zu erhalten. Der Antragsgegner bewilligte dem Vater und dem Bruder der Antragstellerin von Juli bis Dezember 2023 daraufhin vorläufig monatlich 1.400,70 Euro unter Berücksichtigung einer temporären Bedarfsgemeinschaft zwischen Vater und Sohn, der vollen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung sowie einem anrechenbaren Einkommen aus selbständiger Tätigkeit des Vaters von monatlich 178,00 Euro (aus 322,50 Euro prognostizierter Gewinn abzgl. 144,50 Euro Freibetrag). Hiergegen erhob die Antragstellerin am 24. Juni 2023 mit der Begründung Widerspruch, dass über ihren Leistungsanspruch zu Unrecht nicht oder konkludent ablehnend entscheiden worden sei. Hilfsweise erinnerte sie an die Bearbeitung ihres Antrags, hilfsweise stellte sie einen eigenen Antrag. Mit Widerspruch vom 14. Juli 2023 verwarf der Antragsgegner den Widerspruch als unzulässig, da eine Sachentscheidung zu Leistungen für die Antragstellerin nicht getroffen worden sei, da eine solche von der Antragstellerin auch nicht beantragt worden sei. Hierzu ist vor dem Sozialgericht Potsdam ein Hauptsacheverfahren anhängig.

 

Am 28. Juni 2023 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Potsdam einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt und beantragt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Regelungsanordnung zu verpflichten, ihr, der Antragstellerin vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II vom 1. Juli 2023 bis 31. Dezember 2023, längstens bis zur endgültigen Entscheidung in der Hauptsache zu gewähren.

 

Zur Begründung hat die Antragstellerin auf das Eilverfahren zum Vorstreitzeitraum Bezug genommen. Der Entscheidung des 31. Senats sei nicht zu folgen. Sie sei nicht vom Leistungsanspruch nach dem SGB II ausgeschlossen und habe bei der Mutter als auch beim Vater ihren gewöhnlichen Aufenthalt mit gleichen Aufenthaltszeiten, so dass selbst nach den Bestimmungen der §§ 21, 22 Bundesmeldegesetz die Hauptwohnung nicht ermittelt werden könne. Der Antragsgegner hat auf die Ausführungen der LSG-Entscheidung für den vorangegangenen Zeitraum verwiesen.

 

Mit Beschluss vom 24. August 2023 hat das Sozialgericht Potsdam den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig im Zeitraum vom 1. Juli bis 31. Dezember 2023 längstens bis zur endgültigen Entscheidung in der Hauptsache, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II unter Berücksichtigung des hälftigen Regelbedarfs von monatlich 210 Euro zu gewähren. Zur Begründung hat es auf den Beschluss vom 25. April 2023 Bezug genommen und ergänzend ausgeführt, dass die Antragstellerin nach § 7 Abs. 6 Nr. 1 SGB II nicht vom Leistungsbezug ausgeschlossen sei und nach den Ermittlungen der Kammer die Wohnung der Mutter gerade nicht der Lebensmittelpunkt der Antragstellerin sei. Die Antragstellerin sei nicht verpflichtet, zur Vermeidung der Hilfebedürftigkeit bei der Mutter zu wohnen, zumal auch nicht ersichtlich sei, dass – trotz fehlender Antragstellung der Mutter – dies die Hilfebedürftigkeit der Antragstellerin tatsächlich verringern würde.

 

Gegen die dem Antragsgegner am 29. August 2023 zugestellte Entscheidung hat dieser am 1. September 2023 Beschwerde erhoben. Er hat die Ansicht vertreten, dass kein Leistungsanspruch in temporärer Bedarfsgemeinschaft bestehe und hat auf die Entscheidung des 31. Senats Bezug genommen. Ein Erfolg der Beschwerde müsse sich bereits daraus ergeben, dass das Sozialgericht Leistungen für die Vergangenheit zugesprochen habe und ein Eilbedürfnis fehle.

 

Der Antragsgegner beantragt,

 

den Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 24. August 2023 aufzuheben   und den Antrag abzulehnen.

 

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,

 

die Beschwerde zurückzuweisen.

 

Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend. Auf Aufforderung des Senats zur Glaubhaftmachung der Hilfebedürftigkeit hat die Antragstellerin mit Erklärung vom 29. September 2023 an Eides statt versichert, dass im Mai und ab Juni 2023 in der Wohnung des Vaters durchgehend neben ihm nur ihr Bruder und sie gemeinsam jede zweite Woche gewohnt hätten, das für sie von der Mutter bezogene Kindergeld nicht an sie ausgezahlt oder weitergeleitet werde, sie wegen der engen Beziehung zu ihrer Mutter bislang keine Versuche unternommen habe, Unterhaltszahlungen von ihrer Mutter zu erhalten, sie nicht wisse, ob ein Unterhaltsanspruch gegen ihre Mutter bestünde, sie keine Leistungen von dritter Seite erhalte; laufende Kosten jeweils von ihren Eltern während der Aufenthaltszeiten getragen würden und sie nicht über eigene Konten oder Depots verfüge.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie den des Verwaltungsvorganges der Antragsgegnerin und die beigezogenen Gerichtsakten zum Verfahren S 31 AS 197/23 ER = L 31 AS 527/23 B ER.

 

II.

 

 

Die zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist statthaft (§ 172 Abs. 1, § 173 Sozialgerichtsgesetz – SGG). Unter Berücksichtigung des anrechenbaren Einkommens des Vaters auf den monatlichen Bedarf der Antragstellerin (Regelbedarf zzgl. anteilige Unterkunftskosten) verbleibt für den Zeitraum von Juli bis Dezember 2023 insgesamt ein Betrag oberhalb der Beschwerdegrenze.

 

Die Beschwerde ist nur in geringem Umfang begründet. Das Sozialgericht hat dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Ergebnis zu Recht stattgegeben. Die Voraussetzungen für die von der Antragstellerin begehrte Regelungsanordnung liegen vor. Die Antragstellerin hat nach summarischer Prüfung Anspruch auf vorläufige Zahlung von Bürgergeld, jedoch lediglich unter Berücksichtigung eines monatlich hälftigen Bedarfs nach der Regelbedarfsstufe 3 in Höhe von 201 Euro.

 

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies ist der Fall, wenn das Bestehen eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrunds nach summarischer Prüfung überwiegend wahrscheinlich ist. Dazu sind gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) sowohl der geltend gemachte materielle Rechtsanspruch, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird (Anordnungsanspruch), als auch das Vorliegen eines Grundes, aus dem die Anordnung so dringlich ist, dass dieser Anspruch vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache geregelt werden muss (Anordnungsgrund), glaubhaft zu machen. Ein Anordnungsanspruch im Sinne des § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG ist nur gegeben, wenn nach summarischer Prüfung eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass den Antragstellern ein Rechtsanspruch auf die begehrten Leistungen zusteht und sie deshalb im Hauptsacheverfahren mit ihrem Begehren Erfolg haben werden. Ein Anordnungsgrund im Sinne der Eilbedürftigkeit einer gerichtlichen Regelung liegt vor, wenn sich aus den glaubhaft gemachten Tatsachen ergibt, dass es die individuelle Interessenlage der betroffenen Antragsteller unzumutbar erscheinen lässt, sie zur Durchsetzung ihrer Ansprüche auf eine Entscheidung in der Hauptsache zu verweisen. Ob die Anordnung derart dringlich ist, beurteilt sich insbesondere danach, ob sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen, ebenso schwerwiegenden Gründen nötig erscheint. Dazu müssen Tatsachen vorliegen bzw. glaubhaft gemacht sein, die darauf schließen lassen, dass der Eintritt des wesentlichen Nachteils im Sinne einer konkreten und objektiven Gefahr unmittelbar bevorsteht (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 86b Rn. 27 f.). Dabei ist eine Tatsache dann als glaubhaft gemacht anzusehen, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist (vgl. § 294 ZPO). Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung in der jeweiligen Instanz; im Beschwerdeverfahren kommt es demnach auf den Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung an.

 

1.

Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Sie hat unter Berücksichtigung von bereits durch Zahlung an ihren Vater gedeckten Bedarfen gegen den Antragsgegner einen Anspruch auf vorläufige Bewilligung von Bürgergeld in Höhe von 201,00 Euro.

 

a.         Der Antragsgegner ist der örtlich zuständige Leistungsträger. Nach § 36 Abs. 1 SGB II ist der Leistungsträger zuständig, in dessen Gebiet die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Den gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt, § 30 Abs. 3 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I). Vorliegend ist ein gewöhnlicher Aufenthalt der erwerbsfähigen Antragstellerin weder eindeutig in der Wohnung der Mutter noch in der Wohnung des Vaters festzustellen, da sie beide Wohnung seit Jahren gleichermaßen bewohnt. Daher kann auch kein Schwerpunkt des tatsächlichen Aufenthalts bestimmt werden. Nach § 36 Abs. 1 Satz 4 SGB II gilt daher: Kann ein gewöhnlicher Aufenthaltsort nicht festgestellt werden, so ist der Träger nach diesem Buch örtlich zuständig, in dessen Bereich sich die oder der erwerbsfähige Leistungsberechtigte tatsächlich aufhält. Dies ist in der Zeit des Aufenthaltes der Antragstellerin beim Vater der Antragsgegner. Eine Konkurrenz zu einem weiteren Leistungsträger nach dem SGB II besteht im Übrigen auch nicht, da für etwaige Leistungen an die Bedarfsgemeinschaft der Mutter ebenfalls der Antragsgegner örtlich zuständig wäre.

 

b.         Die Antragstellerin hat die Leistungen beim Antragsgegner auch beantragt, § 37 Abs. 1 SGB II. Der Antragsgegner geht zwar zutreffend davon aus, dass der Vater der Antragstellerin mit Erreichen der Volljährigkeit nicht mehr gemäß § 38 Abs. 2 SGB II berechtigt war, seine Tochter bei der Antragstellung zu vertreten. Finden die Grundsätze der umgangsrechtlich begründeten Bedarfsgemeinschaft mit Erreichen der Volljährigkeit des Kindes keine Anwendung mehr (dazu sogleich), endet auch die gesetzlich normierte Antragsbefugnis des umgangsberechtigten Elternteils (hierzu Eicher/Luik/Harich/Silbermann, 5. Aufl. 2021, SGB II § 38 Rn. 37 m.w.N.). Spätestens mit dem Widerspruchsschreiben vom 24. Juni 2023 hat die Antragstellerin jedoch einen eigenen Antrag gestellt. Insoweit kann dahingestellt bleiben, ob der Antragstellung durch den Vater eine Vollmacht der Antragstellerin zugrunde gelegen hat.

 

c.         Die Antragstellerin ist dem Grunde nach leistungsberechtigt. Sie hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht, ist erwerbsfähig, hilfebedürftig und hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland, § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II.

 

Sie ist gemäß § 9 Abs. 1 SGB II hilfebedürftig, da sie ihren Lebensunterhalt nicht aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen erhält. Sie hat glaubhaft gemacht, dass das für sie von der Mutter bezogene Kindergeld nicht an sie ausgezahlt oder weitergeleitet wird, sie keine Unterhaltszahlungen von der Mutter und keine Leistungen Dritter erhält. Ob ggf. ein Unterhaltsanspruch gegen die Mutter besteht, kann dahinstehen, da sie einen solchen derzeit nicht durchsetzt, insoweit stehen zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes keine bereiten Mittel nicht zur Verfügung. Die etwaige Möglichkeit der Durchsetzung eines Unterhaltsanspruchs kann dem Begehren der Antragstellerin nicht entgegen gehalten werden. Es ist unsicher, ob ein Unterhaltsanspruch besteht und ob er sich unmittelbar realisieren lassen würde. Zudem würde ein solcher im Falle einer Leistungserbringung nach § 33 Abs. 1 Satz 1, 4 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2 Buchst b) SGB II auf den Antragsgegner übergehen.

 

d.         Die Antragstellerin ist nicht von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Ein Ausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II wegen eines etwaigen Anspruchs auf Ausbildungsförderung liegt nicht vor, da diese Vorschrift nach § 7 Abs. 6 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 2 Abs. 1a BAföG keine Anwendung findet. Ausbildungsförderung kann von der Antragstellerin nicht beansprucht werden, da sie bei den Eltern bzw. jeweils einem Elternteil wohnt. Andere Ausschlussgründe sind weder vorgetragen noch ersichtlich.

 

e.         Die Antragstellerin ist Mitglied der Bedarfsgemeinschaft mit ihrem Vater und ihrem minderjährigen Bruder.

 

Zutreffend führt der Antragsgegner an, dass die Grundsätze der temporären Bedarfsgemeinschaft mit Erreichen der Volljährigkeit keine Anwendung mehr finden. Der Begriff wurde aus Anlass einer Entscheidung über die Kosten des Umgangsrechts eines geschiedenen Elternteils entwickelt und aus der besonderen Förderungspflicht des Staates zur Gewährleistung des Umgangsrechts abgeleitet (BSG, Urteil vom 7. November 2006 – B 7b AS 14/06 R; hierzu Eicher/Luik/Harich/G. Becker, 5. Aufl. 2021, SGB II § 7 Rn. 126; Münder/Geiger, SGB II § 7 Rn. 108 ff.). Ansprüche in Zusammenhang mit der Ausübung des Umgangsrechts bei minderjährigen Kindern werden danach tageweise begründet, auch wenn nur minimale Anwesenheitszeiten vorliegen. Nach ständiger Rechtsprechung ist die Anwendung des Instituts der temporären Bedarfsgemeinschaft auf die Zeit bis zum Erreichen der Volljährigkeit beschränkt (so ausdrücklich BSG, Urteil vom 27. Januar 2021 – B 14 AS 35/19 R –, Rn. 17, zur Anwendung des Kopfteilprinzips bei Unterkunftskosten; ebenso Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24. November 2011 – L 7 AS 1656/11 B ER). Daraus folgt, dass die Vertretungsfiktion nach § 38 Abs. 2 SGB II endet und Ansprüche in Zusammenhang mit dem Umgangsrecht (z.B. Fahrtkosten) nicht geltend gemacht werden können.

 

Nach Überzeugung des Senats besteht unabhängig vom Institut der temporären Bedarfsgemeinschaft jedoch jedenfalls dann ein Leistungsanspruch junger Erwachsener bei Hilfebedürftigkeit, wenn – wie hier – diese zuvor mit einem Elternteil und einem minderjährigen Geschwisterkind in temporärer Bedarfsgemeinschaft gelebt haben, die Aufenthaltszeiten in den getrennten Haushalten der beiden Eltern derart gleich sind, dass die Bestimmung eines Aufenthaltsschwerpunktes ausscheidet, und sich die oder der volljährig Gewordene entscheidet, weiterhin gemeinsam mit dem Geschwisterkind im Wechselmodell, d.h. mit gleichen Aufenthaltszeiten, bei Mutter und Vater zu leben. Auf die Grundsätze der temporären Bedarfsgemeinschaft kommt es bei dieser Konstellation nicht an (so auch SG Reutlingen, Urteil vom 27. Februar 2017 – S 7 AS 1594/16 –, juris). Der Anspruch der oder des volljährig Gewordenen stellt sich in solchen Fällen mit Erreichen der Volljährigkeit nicht als Leistung zur Ausübung des Umgangsrechts, sondern als Leistung zur eigenen Existenzsicherung dar.

 

Das folgt zum einen bereits aus dem klaren Wortlaut des § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II, der auch 18- bis 24-Jährige der Bedarfsgemeinschaft zuordnet. Danach gehören zur Bedarfsgemeinschaft die dem Haushalt angehörenden unverheirateten Kinder der Leistungsberechtigten, wenn sie das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, soweit sie die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen beschaffen können. Der Wortlaut des § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II stellt nicht auf ein dauerhaftes oder ausschließliches Zusammenleben im Haushalt ab. Während § 7 Abs. 3 Nr. 2 SGB II von den im „Haushalt lebenden“ Kindern und Nr. 3 Buchstabe c vom Zusammenleben „in einem gemeinsamen Haushalt“ spricht, verwendet § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II die Formulierung „die dem Haushalt angehörenden“ Kinder. Schon dies spricht dafür, dass diese Regelung in Nr. 4 kein dauerhaftes Leben im Haushalt erfordert (hierzu Eicher/Luik/Harich/G. Becker, 5. Aufl. 2021, SGB II § 7 Rn. 126). Für den Senat bestehen keine Zweifel, dass die Antragstellerin als leibliches Kind auch mit Erreichen der Volljährigkeit tatsächlich weiter dem Haushalt ihres Vaters angehört, gerade weil die Aufenthaltszeiten in den Haushalten der Eltern derart gleich sind, dass die Bestimmung eines Aufenthaltsschwerpunktes ausscheidet. Die 18jährige Antragstellerin kann ihren Bedarf während der Aufenthaltszeit beim Vater nicht selbst decken.

 

Gegen den Fortfall der Anspruchsberechtigung nach dem SGB II und gegen einen Verweis auf den Aufenthalt in der mütterlichen Wohnung spricht zum anderen der verfassungsmäßige besondere Schutz der Familie aus Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz. Die Anordnung des besonderen Schutzes der staatlichen Ordnung bindet die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung. Es ist Aufgabe des Staates, die Familie zu fördern und vor Beeinträchtigungen durch Dritte zu bewahren (BeckOK GG/Uhle, 56. Ed. 15.8.2023, GG Art. 6 Rn. 20 m.w.N.). Unzweifelhaft bildet die Antragstellerin als Schülerin eine Familie mit ihrem Vater und ihrem Bruder. Einer Auslegung des SGB II dahingehend, dass eine 18-Jährige Schülerin zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit i.S. v. § 2 Abs. 1 SGB II gänzlich auf das weitere Zusammenleben mit ihrem Vater und zweiwöchentlich mit ihrem minderjährigen Bruder verzichten müsste, steht der genannte verfassungsmäßige besondere Schutz der Familie entgegen.

 

Für die Entscheidung zur Fortsetzung des langjährig gelebten Wechselmodells liegen nachvollziehbare Gründe vor. Insoweit scheidet die Annahme aus, die Antragstellerin könnte durch diese Entscheidung vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen herbeigeführt haben. Selbst wenn dem so wäre, wäre der Antragsgegner zur Leistung verpflichtet und auf die Geltendmachung eines Ersatzanspruches nach § 34 Abs. 1 SGB II zu verweisen.

 

Sofern es sich bei dem Zusammenleben im Wechselmodell zwischen Vater, Bruder und Antragstellerin nicht um eine Bedarfsgemeinschaft handeln sollte, dürfte eine Haushaltsgemeinschaft vorliegen, § 9 Abs. 5 SGB II. Dies hätte jedoch einen höheren Regelbedarfsanspruch der Antragstellerin zur Folge, den die Antragstellerin nach Auslegung ihres Begehrens (§ 123 SGG) vorliegend aber nicht geltend macht.

 

f.          Die Beschwerde hat Erfolg, soweit das Sozialgericht den Bedarf nach der für Minderjährige geltenden Regelbedarfsstufe 4 bemessen hat. Denn der Anspruch der Antragstellerin auf den hälftigen Regelbedarf bemisst sich nach § 20 Abs. 2 Nr. 2 SGB II nach der Regelbedarfsstufe 3, die sich seit 1. Januar 2023 auf monatlich 402 Euro beläuft. Ein Fall des Umzuges eines unter 25-Jährigen ohne vorherige Zustimmung nach § 20 Abs. 3 SGB II liegt nicht vor.

 

2.
Ein Eilbedürfnis folgt aus dem Umstand, dass um existenzsichernde Leistungen gestritten wird.

 

3.
Ohne Erfolg rügt der Antragsgegner die vorläufige Bewilligung von Bürgergeld für die Vergangenheit. Es ist nicht zu beanstanden, dass das Sozialgericht auf den Antrag vom 28. Juni 2023 Leistungen ab 1. Juli 2023 zugesprochen hat. Damit ist der Grundsatz nicht verletzt, dass im einstweiligen Rechtsschutz regelmäßig eine Leistungsbewilligung für die Zeit vor Antragstellung nicht in Betracht kommt.

 

Nach der Rechtsprechung des Senats kommt schließlich eine Teilaufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung wegen des bis zur Entscheidung des Senats verstrichenen Zeit nicht in Betracht.

 

4.
Zur Vermeidung weiterer Streitigkeiten hat der Senat den Tenor geändert. Hintergrund ist, dass das Sozialgericht eine Grundentscheidung entsprechend § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG getroffen hat, welche den Antragsgegner gegenüber der Antragstellerin zur vorläufigen Leistungsgewährung verpflichtet hat, während die Bewilligungsentscheidung gegenüber den weiteren Familienmitgliedern nicht Gegenstand des Eilverfahrens war. Daraus folgen Umsetzungsschwierigkeiten, zum einen mit Blick auf die Anrechnung des Erwerbseinkommens des Vaters, welches bereits bei ihm und dem Sohn voll angerechnet worden ist, und zum anderen mit Blick auf die Kosten für Unterkunft und Heizung, die vom Antragsgegner bis Oktober 2023 bereits vollständig an den Vater auszahlt und für die Zeit bis Dezember 2023 Vater und Bruder der Antragstellerin vollständig bewilligt worden sind. In der Änderung des Tenors liegt jedoch keine Begünstigung der Antragstellerin, da ihr individueller Leistungsanspruch in der angenommenen Bedarfsgemeinschaft unter Berücksichtigung von einem Drittel der Kosten für Unterkunft und Heizung sowie unter Anrechnung eines Teilbetrages des väterlichen Erwerbseinkommens höher liegt als die vom Sozialgericht zugesprochenen 210 Euro monatlich. Es entspricht jedoch nicht dem Begehren der Antragstellerin (§ 123 SGG), vorläufig höhere Leistungen zur erstreiten als der Bedarfsgemeinschaft insgesamt zustehen. Nach Auslegung ihres Antragsbegehrens strebt sie im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes lediglich die Schließung der Bedarfslücke in der Gesamtbewilligung an, die sich vorliegend auf die Hälfte des Regelbedarfs für unter 25-Jährige beziffert.

 

 

5.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens. Da im Wesentlichen um die Anspruchsberechtigung dem Grunde nach gestritten wurde, hat der Senat einen sich etwaig aus der Änderung des Tenors ergebenden wirtschaftlichen Vorteil unbeachtet gelassen.

 

6.

Diese Entscheidung kann gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden.

 

 

 

 

 

Rechtskraft
Aus
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