L 4 KR 354/23 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4.
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 7 KR 169/23 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 4 KR 354/23 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

Zu den Voraussetzungen für eine Versorgung mit LDL-Apherese (Blutwäsche) bei isolierter LP(a)-Erhöhung - Vorliegen einer progredienten kardiovaskuläre Erkrankung

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 11. September 2023 wird zurückgewiesen.

Auch für das Beschwerdeverfahren sind keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.


Gründe

Die zulässige, insbesondere nach §§ 172 Abs. 1, 173 Satz 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und form- und fristgerechte Beschwerde des Antragstellers vom 17. Oktober 2023 gegen den seiner Prozessbevollmächtigten am 4. Oktober 2023 zugestellten Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 11. September 2023 ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht das Begehren des Antragstellers, vorläufig mit Leistungen der LDL-Apherese versorgt zu werden, abgelehnt. 

Bezüglich der Rechtsgrundlagen für die begehrte Eilentscheidung des Senats und die hierbei möglichen Prüfungsmaßstäbe (Anordnungsanspruch und -grund bzw. Folgenabwägung) verweist er gemäß § 142 Abs. 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf die zutreffende Darstellung des Sozialgerichts in der angefochtenen Entscheidung. 

Es fehlt jedenfalls derzeit an einem Anordnungsanspruch. 

Der Antragsteller hat nicht glaubhaft gemacht, dass er die Voraussetzungen für ei-ne LDL-Apherese bei isolierter Lp(a)-Erhöhung gemäß § 3 Abs. 2 der Anlage I Nr. 1 der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zu Untersuchungs- und Behandlungsmethoden der vertragsärztlichen Versorgung (Richtlinie Methoden vertragsärztliche Versorgung - RL MVV) oder für eine Notstandsleistung nach § 2 Abs. 1a Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) erfüllt.

1. Nach § 3 Abs. 2 Anlage I Nr. 1 RL MVV können LDL-Apheresen bei einer isolierten LP(a)-Erhöhung nur durchgeführt werden bei Patienten mit isolierter Lp(a)-erhöhung über 60 mg/dl und LDL-Cholesterin im Normbereich sowie gleichzeitig klinisch und durch bildgebende Verfahren dokumentierter progredienter kardiovaskulärer Erkrankung (koronare Herzerkrankung, periphere arterielle Verschlusskrankheit oder zerebrovaskuläre Erkrankungen). Während der Antragsteller mit ei-nem Lp(a)-Wert von 321 nmol/l und einem LDL-Wert von 55 mg/dl die erstgenannten Voraussetzungen von § 3 Abs. 2 Anlage 1 Nr. 1 RL MVV unstreitig erfüllt, fehlt es an der hiernach zusätzlich erforderlichen Progredienz seiner kardiovaskulären Erkrankung. 

Der Begriff „progredient“ ist im Ergebnis seiner wörtlichen Auslegung im Sinne von fortschreitend (und nicht von fortgeschritten) zu verstehen (Landessozialgericht [LSG] Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 3. Dezember 2018 – L 5 KR 677/18 B ER – Rn. 9, bestätigt durch Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Nichtannahmebe-schluss vom 22. Mai 2020 – 1 BvR 410/19 –; jeweils juris). Denn seinem Wortsinn nach bedeutet der auf die Partizipialform des lateinischen Verbs „progredi“ zurück-gehende Begriff „progredient“ sich in einem bestimmten Verhältnis allmählich steigernd, entwickelnd (= progressiv, vgl. www.duden.de/rechtschreibung). Dass der Gemeinsame Bundesausschuss den Begriff entsprechend seinem natürlichen Wortsinn verstanden haben wollte, bestätigt die historische Auslegung: Nach den tragenden Gründen zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) vom 19. Juni 2008 (https://www.g-ba.de/downloads/40-268-652/2008-06-19-RMvV-Apherese_TrG.pdf) zur Apherese bei isolierter Lp(a)-Erhöhung soll die Versorgung mit der Therapie davon abhängig sein, dass „… es (…) mit dem Einsatz der etablier-ten Behandlungsmethoden nicht gelungen (ist), die Progression der Erkrankung zu stoppen“ (GBA, a. a. O., S. 5). Nach den Vorstellungen des Richtliniengebers soll die Versorgung mit Leistungen der LDL-Apherese also nur bei einer fortschreiten-den Erkrankung möglich sein. Hintergrund dieser engen Voraussetzungen ist, dass sich nach Auswertung der wissenschaftlichen Studienlage für den GBA kein Nutzenbeleg für die Apheresebehandlung bei isolierter Erhöhung des Lp(a) ergab. Nur bei strikter Einhaltung der von ihm aufgestellten Voraussetzungen ging der GBA von einem Überwiegen des Nutzens der Therapie gegenüber dem zu erwartenden Schadenspotential aus (GBA, a. a. O.).

Gemessen an dem diesem Merkmal hiernach zukommenden Bedeutungsgehalt ist eine klinisch und durch bildgebende Befunde belegte Progredienz der kardiovaskulären Erkrankung des Antragstellers nicht glaubhaft gemacht. Hinweise auf eine Progredienz ergeben sich insbesondere nicht aus der Begründung des Facharztes für Innere Medizin und Nephrologie Dr. R für die Einleitung einer Lipid-Apherese vom 5. März 2023 und seiner ergänzenden Stellungnahme vom 21. Juni 2023. Die Notwendigkeit einer LDL-Apherese soll sich hiernach wegen „des Ausmaßes der Befunde“, welches eine weitere Progression befürchten lasse, und wegen seiner Einschätzung, dass das Lp(a) die Ursache der koronaren Herzkrankheit (KHK) und der „deutlichen Progredienz“ gewesen sei, ergeben. Soweit Dr. R mit seinen Ausführungen möglicherweise an den „Standard der Therapeutischen Apherese“ der Deutschen Gesellschaft für Nephrologie anknüpft, welche die Versorgung mit Leistungen der LDL-Apherese bei isolierter Lp(a)-Erhöhung unter Verzicht auf die Voraussetzung der Progredienz bereits dann empfiehlt, wenn zum Zeitpunkt der Erstvorstellung des Patienten bereits ein fortgeschrittenes Stadium der atheroskleroti-schen Erkrankung vorliegt, deren Progress vital gefährdend ist (vgl. https://www.dgfn.eu/apherese-standard.html, S. 29), lässt sich ein Versorgungsanspruch des Antragstellers hiermit gerade nicht begründen. Nach den tragenden Gründen des Beschlusses des GBA vom 19. Juni 2008 (GBA, a. a. O., S. 5) sollte die Versorgung mit Leistungen der LDL-Apherese bei isolierter Lp(a)-Erhöhung we-gen des fehlenden wissenschaftlichen Nachweises eines überwiegenden Nutzens bewusst nur unter den strikten Voraussetzungen von § 3 Abs. 2 Anlage 1 Nr. 1 RL MVV erfolgen dürfen. Soweit die von Dr. R zitierten ärztlichen Leitlinien von den Vorgaben der RL MVV abweichen, ist dies ohne Bedeutung, da ihnen – im Gegen-satz zu den Richtlinien des GBA (vgl. § 91 Abs. 6 SGB V) – keine rechtlich binden-de Wirkung zukommt.

Dass diese Voraussetzungen mangels Nachweises einer klinisch und durch bild-gebende Befunde belegten Progredienz der kardiovaskulären Erkrankung des Antragstellers derzeit nicht erfüllt sind, ergibt sich aus der während des erstinstanzlichen Verfahrens erstellten Stellungnahme der Qualitätssicherungskommission Dia-lyse/Apherese der Kassenärztlichen Vereinigung Brandenburg (Apheresekommission) vom 31. August 2023, wonach ihr keinerlei Befunde vorlagen, welche eine seit 2019 eingetretene Progredienz der Erkrankung belegen könnten. Aus dem von der Apheresekommission ausgewerteten Befund einer im März 2023 durchgeführten Duplexsonografie der Halsgefäße ergab sich vielmehr, dass arteriosklerotische Veränderungen der Gefäße vollständig ausgeschlossen werden konnten. „Die Höhe des Lp(a)-Blutspiegels allein reicht nicht aus, um die Indikation zur Lp(a)-Apherese stellen zu können, da er keinen sicheren Krankheitswert besitzt“ (Tragende Gründe des GBA, zitiert nach LSG Nordrhein-Westfalen, a.a.O. Rn. 17; ebenso LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29. Januar 2021 – L 11 KR 865/20 B ER –, Rn. 37, juris).

Nur vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass im Rückgriff auf einen von der Apheresekommission ermittelten Befund keine Aussage zur umstrittenen Rechtsfrage liegt, ob eine Krankenkasse an ein Votum dieser Kommission gebunden ist.
2. Ein Anspruch auf Versorgung mit Leistungen der LDL-Apherese ergibt sich auch nicht aus § 2 Abs. 1a SGB V. Hiernach können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungs-mäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine von Absatz 1 Satz 3 abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Zutreffend hat das Sozialgericht ausgeführt, dass eine hiernach erforderliche notstandsähnliche Situation bei dem Antragsteller nicht vorliegt. Ungeachtet eines abstrakten Risikos kann auch nach den Stellung-nahmen des behandelnden Arztes Dr. R nicht von einer bereits jetzt lebensbedrohlichen Erkrankung ausgegangen werden.

3. Gleichzeitig ist damit auch ein Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht. Es bedeutet für den Antragsteller keine unzumutbare Härte, die endgültige Klärung im Hauptsacheverfahren abzuwarten.

Unabhängig hiervon hat der Antragsteller auch nicht glaubhaft gemacht, dass er nicht zumindest vorübergehend aufgrund seines Einkommens oder Vermögens in der Lage ist, die Kosten für die begehrte Apherese selbst zu tragen. Ausführungen hierzu waren schon deshalb geboten, weil die Antragsgegnerin dies im Laufe des Verfahrens beanstandet hat (Schriftsatz vom 7. Juli 2023).   

4. Aus diesem Grund führt auch eine Folgenabwägung nicht zu einem für den Antragsteller günstigeren Ergebnis.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht an-gefochten werden (§ 177 SGG).

Rechtskraft
Aus
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