L 5 AS 356/23 B ER

Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 6 AS 907/23 ER
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
L 5 AS 356/23 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

1. Die Fachgerichte dürfen wegen der Bindung an Gesetz und Recht (Art 20 Abs 3 GG) keinen höheren Regelbedarf bestimmen. Dies gilt auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. 2. Die derzeitige Regelbedarfshöhe der Regelbedarfsstufe 1 ist nicht evident unzureichend. Eine Veranlassung zur Vorlage an das BVerfG besteht nicht.

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung höherer Leistungen für den Regelbedarf im Zeitraum von November 2023 bis April 2024 streitig.

Der am .....1960 geborene Antragsteller und Beschwerdeführer (nachfolgend: Antragsteller) bezieht eine Unfallrente. Aufstockend erhält er seit mehreren Jahren vom Antragsgegner und Beschwerdegegner (nachfolgend: Antragsgegner) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Er bewohnt eine Wohnung zur Miete. Die Gesamtaufwendungen betrugen zuletzt 456,96 €/Monat. Der Antragsgegner berücksichtigt fortlaufend die tatsächlichen Kosten sowie einen Mehrbedarf für die dezentrale Warmwassererzeugung.

Zum 1. Mai 2023 beantragte der Antragsteller die Weitergewährung der Leistungen. Der Antragsgegner bewilligte ihm mit Bescheid vom 31. März 2023 für den Zeitraum vom 1. Mai 2023 bis 30. April 2024 unter Anrechnung der Unfallrente Bürgergeld i.H.v. 666,77 €/Monat, wogegen der Kläger am 13. April 2023 Widerspruch einlegte. Ihm stehe auch ein Mehrbedarf wegen Behinderung zu. Mit Änderungsbescheid vom 22. Mai 2023 bewilligte der Antragsgegner ab dem 1. Juli 2023 Leistungen i.H.v. 647,21 €/Monat. Hierbei berücksichtigte er die Erhöhung der Unfallrente auf 353,30 €/Monat, welche er nach Abzug der Versicherungspauschale (30 €) auf den Regelbedarf für Alleinstehende (502 €) anrechnete. Den Widerspruch wies der Antragsgegner als unbegründet zurück (Widerspruchsbescheid vom 10. Juli 2023). Der Antragsteller erhob am 19. Juli 2023 Klage (S 6 AS 604/23).

Mit Schreiben vom 17. Oktober 2023 beantragte der Antragsteller die Erhöhung des Regelbedarfs zum 1. November 2023. Ein menschenwürdiges Existenzminimum sei mit dem heutigen Regelsatz nicht mehr gewährleistet. Die Anhebung zum 1. Januar 2024 um 61 € werde auch vom Paritätischen Wohlfahrtsverband als zu niedrig betrachtet, welcher einen Regelsatz von 813 €/Monat fordere.

Diesen Antrag lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 20. Oktober 2023 ab. Die i.S.v. § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zur Überprüfung gestellten Bescheide vom 31. März und 22. Mai 2023 seien nicht zu beanstanden. Bei deren Erlass sei das Recht richtig angewandt sowie vom zutreffenden Sachverhalt ausgegangen worden. Mit seinem Widerspruch vom 26. Oktober 2023 monierte der Antragsteller die fehlende Begründung der Verwaltungsentscheidung i.S.v. § 35 SGB X.

Am 1. November 2023 hat der Antragsteller beim Sozialgericht Magdeburg (SG) im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Ihm stehe ein höherer Regelsatz zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zu. Durch die Inflation könne der Bedarf nicht mehr abgedeckt werden. Eine armutsbedingte Mangelernährung habe gesundheitliche Belastungen zur Folge.

Der Antragsgegner hat auf die gesetzlichen Bestimmungen verwiesen. Der Regelbedarf werde zudem ab dem 1. Januar 2024 erneut steigen.

Mit Beschluss vom 20. November 2023 hat das SG den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Die Höhe des gewährten Regelbedarfs sei verfassungsgemäß. Dem pauschalen Vorbringen des Antragstellers sei schon nicht zu entnehmen, inwiefern allein durch die Inflation ein menschenwürdiges Existenzminimum nicht mehr möglich sein solle. Zudem sei eine besondere Eilbedürftigkeit nicht erkennbar. Zum 1. Januar 2024 sei eine weitere Erhöhung des Regelbedarfs vorgesehen.

Gegen den ihm am 23. November 2023 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 27. November 2023 Beschwerde beim Landessozialgericht (LSG) Sachsen-Anhalt eingelegt. Sowohl Anordnungsanspruch als auch -grund lägen vor. Sein Existenzminimum sei nicht mehr garantiert. Die armutsbedingte Mangelernährung ergebe sich daraus, dass der Regelsatz lediglich 1,93 € pro Mahlzeit vorsehe.

Der Antragsteller beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Magdeburg vom 20. November 2023 aufzuheben und den Antragsgegner zu verpflichten, ihm ab dem 1. November 2023 einen Regelsatz für ein menschenwürdiges Existenzminimum im Sinne des Grundgesetzes zu bewilligen.

Der Antragsgegner beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Er verweist auf die zeitnahe Reaktion des Gesetzgebers durch Erhöhung des Regelbedarfs von 449 € auf 502 € für das Jahr 2023. Diese Erhöhung gehe sogar prozentual über die Inflationsrate im Jahr 2023 hinaus. Zudem trage der Antragsteller lediglich pauschal vor, Bedarfe nicht mehr decken zu können.

Die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte des Antragsgegners (ab dem Weiterbewilligungsantrag zum November 2022) haben vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

II.

1.

Die Beschwerde ist statthaft (§ 172 Sozialgerichtsgesetz [SGG]), form- und fristgerecht eingelegt worden (§ 173 SGG) und auch im Übrigen zulässig.

Ausgehend von dem ursprünglich geäußerten Begehren, einen monatlichen Regelbedarf von 813 € anstatt 502 € (November und Dezember 2023) bzw. 563 € (ab Januar 2024) zugrunde zu legen, wird der Wert i.H.v. 750 € gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG überschritten. Der Antragsteller hat sein Begehren im gerichtlichen Verfahren nicht anderweitig beziffert.

Im Hinblick auf die anhängige Klage zu den Bewilligungsbescheiden für den Zeitraum von Mai 2023 bis April 2024 ist keine Bestandskraft bei den Leistungen nach §§ 20, 21 SGB II eingetreten. Bei dem dort im Streit stehenden Mehrbedarf für Menschen mit Behinderungen handelt es sich gerade um keinen abtrennbaren Streitgegenstand (vgl. u.a. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 14. Februar 2013, B 14 AS 48/12 R, juris, Rn. 9).

2.

Die Beschwerde ist jedoch unbegründet. Das SG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht abgelehnt.

Das Gericht kann nach § 86b Abs. 2 SGG eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung einer Regelungsanordnung ist gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes (die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile) und eines Anordnungsanspruchs (die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Hauptsache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs).

Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft gemacht, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen überwiegend wahrscheinlich sind (zum Prüfungsmaßstab vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 86b Rn. 41 f.).

a.

Der Antragsteller hat schon keinen Anordnungsanspruch auf weitere Leistungen für den Zeitraum ab November 2023 glaubhaft gemacht.

aa.

Zwar ist der Antragsteller leistungsberechtigt i.S.v. § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Ausschlussgründe bestehen nicht. Er hat auch einen Anspruch auf Gewährung von Bürgergeld gemäß § 19 Abs. 1 SGB II (in der ab dem 1. Januar 2023 geltenden Fassung). Sein (derzeitiger) Gesamtbedarf ergibt sich aus dem Regelbedarf für Alleinstehende (Regelbedarfsstufe 1, § 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II), dem Mehrbedarf für dezentrale Warmwassererzeugung (§ 21 Abs. 7 SGB II) und den tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung (§ 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II).

Den in anderen gerichtlichen Verfahren ausdrücklich begehrten Mehrbedarf für erwerbsfähige Leistungsberechtigte mit Behinderungen nach § 21 Abs. 4 SGB II könnte der Antragsteller auch hier nicht durchsetzen. Insoweit wird auf die Ausführungen des Senats im Beschluss vom 28. Dezember 2022 (L 5 AS 549/22 B ER, L 5 AS 567/22 B ER) verwiesen.

Der Antragsteller ist auch hilfebedürftig, weil er seinen Bedarf nur teilweise mit Einkommen decken kann (vgl. § 9 Abs. 1 SGB II). Einsetzbares Vermögen ist nicht vorhanden. Sein monatlicher Bezug aus der Unfallrente, bereinigt um die Versicherungspauschale i.H.v. 30 €/Monat, ist vorliegend auf den Regelbedarf anzurechnen (vgl. § 19 Abs. 3 Satz 2 SGB II). Der vom Antragsgegner ermittelten Rentenhöhe (353,30 €) ist der Antragsteller im Verfahren nicht entgegengetreten.

bb.

Der vom Antragsgegner der Leistungsberechnung zugrunde gelegte Regelbedarf i.H.v. 502 €/Monat entspricht den gesetzlichen Vorschriften. Die Umsetzung der geregelten Erhöhung ab dem 1. Januar 2024 auf 563 €/Monat hat der Antragsgegner bereits angekündigt.

Gemäß § 20 Abs. 1a Satz 1 SGB II wird der Regelbedarf i.H.d. jeweiligen Regelbedarfsstufe entsprechend § 28 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) i.V.m. dem Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz und den §§ 28a und 40 SGB XII i.V.m. der für das jeweilige Jahr geltenden Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung (RBSFV) anerkannt. Das Verfahren für die Ermittlung der Regelbedarfe und deren Fortschreibungen hat der Gesetzgeber geregelt (vgl. §§ 28, 28a SGB XII).

Wegen der Bindung der Gerichte an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz [GG]) kann der Senat keinen vorläufigen höheren Regelbedarf bestimmen. Diese Gesetzesbindung und das Normverwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG gelten grundsätzlich auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. Eine Erweiterung des Rechtskreises des Rechtsschutzsuchenden ohne gesetzliche Grundlage ist jedenfalls nicht zulässig (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. November 2005, 1 BvR 1178/05, juris Rn. 11; Burkiczak in: jurisPK-SGG, 2. Auflage, Stand: 20. November 2023, § 86b Rn. 88). Auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten kann das Fachgericht keine Leistungen zusprechen, die den gesetzlichen Regelungen widersprechen (Burkiczak, a.a.O., Rn. 92 f., mwN).

b.

Zu einer Aussetzung des Rechtsstreits und Vorlage an das BVerfG sieht sich der Senat nicht veranlasst. Eine solche erfolgt grundsätzlich nicht im einstweiligen Rechtsschutzverfahren (zu Vorlagepflichten im Eilverfahren vgl. Burkiczak, a.a.O., Rn. 86 ff., mwN; siehe auch B. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 41 Rn. 24).

Es besteht auch keine Überzeugung davon, dass die Regelbedarfshöhe der Regelbedarfsstufe 1 zur Gewährleistung des Existenzminimums des Antragstellers evident unzureichend ist. Evident unzureichend sind Sozialleistungen nur, wenn offensichtlich ist, dass sie in der Gesamtsumme keinesfalls sicherstellen können, Hilfebedürftigen in Deutschland ein Leben zu ermöglichen, das physisch, sozial und kulturell als menschenwürdig anzusehen ist (BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014, 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13, juris Rn. 81).

Unter diesem Prüfungsmaßstab lässt sich auch aus dem vom Antragsteller auf eine Einzelposition bezogenen Betrag für eine Mahlzeit (1,93 €) eine Verfassungswidrigkeit nicht begründen.

Auf die Preisentwicklung bei den regelbedarfsrelevanten Positionen hatte der Gesetzgeber zum einen durch die Einmalzahlung im Juli 2022 (200 €, § 73 SGB II, vgl. dazu BT-Drucksache 20/1768, S. 27) und zum anderen durch die Erhöhung um 11,75 Prozent von 449 € auf (gerundet) 502 € reagiert (vgl. BT-Drucksache 20/3873, S. 3). Zum 1. Januar 2024 werden die Regelbedarfe um 12 Prozent angehoben. Bei der jährlichen Fortschreibung wird durch die Neufassung des § 28a SGB XII auch die Entwicklung mit den aktuell verfügbaren Daten zur Veränderungsrate des regelbedarfsrelevanten Preisindex zusätzlich berücksichtigt (BT-Drucksache, a.a.O., S. 109). Diese Anpassung soll gerade gewährleisten, dass nicht über einen längeren Zeitraum zu niedrige Regelbedarfe zugrunde gelegt werden.

Dass der Gesetzgeber bestimmte Verbrauchsbereiche als nicht oder als nur teilweise regelbedarfsrelevant einordnet, obliegt seinem Gestaltungsspielraum (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014, a.a.O., juris Rn. 109 ff.). Die vom Antragsteller in Bezug genommene Alternativberechnung des Paritätischen Wohlfahrtsverbands mit einem empfohlenen Regelbedarf von 813 € beinhaltet aber u.a. solche Positionen.

3.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Der Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
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