L 15 BL 5/22

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 20 BL 20/20
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 BL 5/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Verhaltensbeobachtungen im Rahmen der Blindheitsbegutachtung sind in der Regel nicht geeignet, mit der rechtlich erforderlichen Zuverlässigkeit Blindheit nachzuweisen bzw. zwischen einer hochgradigen Sehbehinderung und einer Blindheit im Sinne des BayBlindG zu differenzieren (vgl. die Urteile des Senats vom 16.09.2015 L 15 BL 2/13 und 27.09.2016 L 15 BL 11/15). Sie ermöglichen grundsätzlich (nur) einen aufschlussreichen ergänzenden Blick auf die Gesamtsituation des sehbehinderten Menschen hinsichtlich seines Sehvermögens.
2. Für die hochgradige Sehbehinderung im Sinne von Art. 1 Abs. 3 BayBlindG besteht kein abgesenkter Beweismaßstab.
3. Die Voraussetzungen von Art. 1 Abs. 3 BayBlindG sind nicht bereits dadurch erfüllt, dass zugunsten des sehbehinderten Menschen im Verfahren nach dem SGB IX ein Einzel-GdB von 100 oder die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen H wegen schwerer Störungen seines Sehvermögens festgestellt worden sind. Eine Bindungswirkung besteht nicht; vgl. das Urteil des Senats vom 20.12.2018 L 15 BL 6/17.

 

I. Auf die Berufung des Beklagten wird der Gerichtsbescheid des SG Augsburg vom 02.02.2022 insoweit aufgehoben, als darin der Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 13.05.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.09.2020 verurteilt worden ist, dem Kläger vor Juli 2021 Blindengeld zu gewähren; die Klage wird insoweit abgewiesen.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

II. Der Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten für das erstinstanzliche Verfahren und das Berufungsverfahren in Höhe von 8/10 zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.


T a t b e s t a n d :

Zwischen den Beteiligten ist der Anspruch des Klägers und Berufungsbeklagten (im Folgenden: Kläger) auf Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz (BayBlindG) streitig.

Der 1974 geborene Kläger beantragte am 06.09.2019 beim Beklagten und Berufungskläger (im Folgenden: Beklagter) die Gewährung von Blindengeld für hochgradig sehbehinderte Menschen unter Verweis auf den bereits seit Oktober 2017 festgestellten Grad der Behinderung (GdB) für seine Sehbehinderung. In dem beigefügten ärztlichen Bericht des Augenarztes K vom 04.09.2019 wurden als Visusbefunde rechts und links 1/32 angegeben. Diese Befunde wurden auch in dem vom Beklagten eingeholten Befundbericht vom 27.09.2019 bestätigt; als augenärztliche Diagnose wurden rechts und links Retinitis pigmentosa gestellt. Das Gesichtsfeld sei bis 0 Grad eingeschränkt.

Im Auftrag des Beklagten erstellte P (L-Universität M) am 05.04.2020 ein augenfachärztliches Gutachten aufgrund Untersuchung vom 11.02.2020. In dem Gutachten berichtete der Sachverständige, dass der Kläger bei der Untersuchung sehr gut orientiert gewesen sei und sich gut zurechtgefunden habe; er bewege sich völlig frei im Raum, halte Blickkontakt und greife die Hand zum Gruß. Der vom Kläger angegebene Visus liege bei 0,02 für die Ferne. Im Gesichtsfeld bestehe eine konzentrische Einengung auf 5 Grad bei verbliebenen Restinseln auf beiden Augen. Die Fixation sei als schlecht und die Angaben seien als unsicher zu bewerten. Der Kläger habe angegeben, dass das Lesen im Wesentlichen nur noch mit einem Handyscanvergrößerungsgerät möglich sei. Nach Angaben des Klägers sei vor allem das zentrale Sehen nicht mehr möglich; er müsse daher immer exzentrisch fixieren. Die aktuellen Beschwerden bestünden in einer zunehmenden Sehminderung im Zentrum, Nachtblindheit und Störung des Farbensehens. Bis 2004 sei der Kläger berufstätig gewesen (Verkaufsleiter im Bereich Logistik). Seitdem beziehe er Erwerbsunfähigkeitsrente. Im Haushalt finde er sich noch gut eigenständig zurecht und er sei auch noch gut mobil, komme ohne Hilfsmittel wie Gehstock, Blindenhund oder Begleitpersonen zurecht. P hat die Diagnosen retinale Dystrophie, Rucknystagmus und Cataracta incipiens (hintere Schalentrübung) gestellt. Blindheit sei wegen Diskrepanzen zwischen den Angaben des Klägers und den objektiven Befunden (vgl. u.a. die geschilderte Verhaltensbeobachtung) nicht nachgewiesen.

Mit Bescheid vom 13.05.2020 lehnte der Beklagte den Blindengeldantrag ab, da Blindheit nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachgewiesen habe werden können, weil weder die Angaben zur Sehschärfe noch die zum Gesichtsfeld durch die objektivierten Verfahren und die Verhaltensbeobachtung gestützt hätten werden können. Es bestünden erhebliche Zweifel am Vorliegen von Blindheit bzw. einer hochgradigen Sehbehinderung.

Über seine Bevollmächtigten erhob der Kläger am 04.06.2020 Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid. Zur Begründung wurde vorgetragen, dass aus dem Gutachten von P beidseits ein Visus von 0,02 mit bester Korrektur für die Ferne hervorgehe und dass die Gesichtsfelduntersuchung nach Goldmann auf beiden Augen massive Einschränkungen ergeben habe. Nach dem Gutachten sei der Kläger blind im Sinne des BayBlindG. Im Hinblick auf die Verhaltensbeobachtungen wurde angemerkt, dass der Kläger nicht plötzlich erblindet sei, sondern bereits einige Jahre mit dieser Augenerkrankung lebe und ausreichend Zeit gehabt habe, sich an die für ihn neue Situation zu gewöhnen. Dadurch habe er auch gelernt, den noch vorhandenen Sehrest gewinnbringend einzusetzen. Mit einem Visus von 0,02 sei sowohl eine grobe Orientierung im Raum als auch das Erkennen von Objekten noch möglich. Bei der Begrüßung könne es da durchaus vorkommen, dass der Betroffene die Hand in Richtung des Untersuchers strecke, da er diesen noch schemenhaft wahrnehmen könne. Bereits vor Erhebung des Widerspruchs hatte der Kläger im Übrigen darauf hingewiesen, keine Beweispflicht zu haben, da er vom Beklagten einen Ausweis mit einem festgestellten GdB von 100 bekommen habe. Er sei hochgradig sehbehindert.

In der versorgungsmedizinischen Stellungnahme des Beklagten (P1) vom 03.08.2020 wurde festgestellt, dass bei einer Sehschärfe von nur 1/50 eine problemlose Orientierung in fremden Räumen nicht mehr möglich sei. Bei einer zusätzlichen Gesichtsfeldeinschränkung auf 5 Grad Abstand vom Zentrum, wie sie der Kläger bei P angegeben habe, sei eine selbständige Orientierung in er Umgebung völlig ausgeschlossen und zwar unabhängig davon, ob die Erblindung allmählich oder plötzlich eingetreten sei. Weiter würden sich eine Sehschärfe von 1/50 und ein zentraler Gesichtsfeldrest widersprechen; angesichts der schlechten Sehschärfe wäre vielmehr, so P1, ein Zentralskotom zu erwarten. Nicht plausibel sei des Weiteren, dass bei der Gesichtsfeldprüfung am Bjerrumschirm der Stimulus zwar aus 0,5 m Entfernung, jedoch nicht im Abstand von 2 m gesehen worden sei. Dass das Ganzfeld-ERG bereits im Jahr 2017 erloschen gewesen sein solle, worauf ebenfalls in der Widerspruchsbegründung abgestellt worden war, sei kein Beleg für eine Erblindung zum jetzigen Zeitpunkt. Bei der Retinopathia pigmentosa zeige das ERG Funktionsstörungen des Stäbchensystems bereits sehr früh und noch vor Auftreten erster Fundusveränderungen oder Gesichtsfeldeinschränkungen an. Zu den VECP solle die Augenklinik nochmals befragt werden.

In dessen Folge korrigierte P am 25.08.2020 sein Gutachten vom 05.04.2020, indem er als Untersuchungsbefund der Muster-VECP rechts und links feststellte: "auslösbare Potentiale mit verlängerten Latenzen und reduzierten Amplituden mit starken Schwankungen zwischen den Untersuchungen"; zuvor hatte es dort "gut reproduzierbare Potentiale mit reduzierten Amplituden" geheißen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 25.09.2020 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Blindheit oder hochgradige Sehbehinderung seien nicht nachgewiesen. Bei der augenärztlichen Begutachtung am 11.02.2020 seien Unstimmigkeiten zwischen den Angaben des Klägers bei der Gesichtsfeldprüfung und den objektiven Befunden sowie dem beobachteten Orientierungsverhalten aufgefallen. Die angegebene Sehschärfe von 0,02 widerspreche sich mit einem zentralen Gesichtsfeldrest. Eine Bindungswirkung bzgl. des Einzel-GdB von 100 für die Sehbehinderung des Klägers bestehe nicht; hierzu wurde auf das Urteil des Senats vom 20.12.2018 (L 15 BL 6/17) verwiesen.

Am 07.10.2020 hat der Kläger hiergegen Klage zum Sozialgericht (SG) Augsburg erhoben und zur Begründung hervorgehoben, dass das vom Beklagten eingeholte Gutachten von P korrigiert habe werden müssen. Subjektive Eindrücke des Gutachters seien nicht dazu geeignet, als Beweis für die Ablehnung von Blindheit anerkannt zu werden. Abgesehen von den Untersuchungen im Muster-VECP zeigten sich im Augenhintergrund beim Kläger beidseits eine klinisch flache und stumpfe Makula mit Pigmentepit-helverschiebungen sowie Knochenbälkchen in der mittleren Peripherie der Netzhaut. Aus diesem morphologischen Befund, so die Klagebegründung, sei der Schluss zu ziehen, dass sowohl eine erhebliche Herabsetzung der zentralen Sehschärfe als auch erhebliche Gesichtsfeldeinschränkungen vorliegen würden. Im Ergebnis seien damit die subjektiven Angaben des Klägers durch den morphologischen Befund erklärt.

In dem vom SG eingeholten Befundbericht des behandelnden Augenarztes N vom 11.11.2020 hat dieser u.a. mitgeteilt, dass bei der Gesichtsfelduntersuchung wegen sehr schlechter Fixation das Ergebnis (automatisiertes 30-Grad-Gesichtsfeld) nur eingeschränkt beurteilbar sei. Es zeigten sich auf beiden Augen ausgeprägte Defekte in allen Quadranten bis ins Zentrum reichend.
Im Verlauf des Verfahrens hat die Klägerseite sodann den ärztlichen Bericht des Universitätsklinikums T vom 25.08.2017 vorgelegt, in dem hinsichtlich des Ganzfeld-ERG für rechts und links skotopisch und photopisch keine ableitbaren Antworten mitgeteilt worden waren.

Sodann hat das SG Beweis erhoben durch ein Gutachten des Augenarztes K1 vom 30.09.2021, das auf der Untersuchung des Klägers vom 08.07.2021 basiert. In dem Gutachten ist u.a. berichtet worden, dass der Kläger über eine weitere Sehverschlechterung seit der letzten Begutachtung (bei P) geklagt habe. Besonders im zentralen Gesichtsfeldbereich hätten die Ausfälle zugenommen und er würde ständig ein Flimmern wahrnehmen. Große Schwierigkeiten habe er bei wechselndem und schlechtem Licht. Er sei extrem blendungsempfindlich und könne auch keine Farben mehr unterscheiden. Bei Dunkelheit sehe er praktisch nichts mehr. Eine gewisse Orientierung ermögliche ihm das untere Gesichtsfeld. Er könne einen bekannten Weg noch alleine nach Hause gehen. Entlang des Weges stehende Fahrräder oder Hunde würde er aber dabei nicht mehr erkennen können. Der Facharzt K1 hat einen unsicheren Gang des Klägers beschrieben. Ein im Untersuchungsraum stehender schwarzer Untersuchungshocker sei aber erkannt und umgangen worden. Auf Anweisung habe sich der Kläger ohne weitere Hilfe auf den Untersuchungsstuhl gesetzt und nach der Armlehne gegriffen. Beim Wechsel der Untersuchungsräume sei der Kläger dem Untersucher (im gut beleuchteten Flur) hinterhergegangen, habe sich aber bei gedimmten Lichtverhältnissen im Untersuchungsraum nicht mehr orientieren können und Hilfe gebraucht.

Als Visuswerte (mit Korrektur) hat der Gutachter rechts, links und beidäugig 1/100 erhoben. Die Untersuchung des Gesichtsfelds mit dem Goldmannperimeter (Marke III/4) habe sich aufgrund der Fixationsprobleme trotz guter und motivierter Mitarbeit erschwert gestaltet. Die Ergebnisse seien nicht immer reproduzierbar gewesen. Rechts oben und links unten hätten sich jeweils schmale sichelförmige Restinseln im unteren Gesichtsfeldanteil und ein zentrales Skotom ergeben.

Aufgrund der fortgeschrittenen Netzhauterkrankung sei der Kläger in seinem Sehvermögen funktionell massiv beeinträchtigt. Hinweise auf Simulation oder Aggravation hätten sich zu keiner Zeit ergeben, so der Sachverständige. Aufgrund der vorgenannten funktionellen Einschränkungen des Sehvermögens gelte der Kläger vom Gesetz her als blind. Die Sehschärfe betrage an beiden Augen und auch beidäugig weniger als 1/50 ab dem Zeitpunkt der Begutachtungsuntersuchung am 08.07.2021. Der genaue Zeitpunkt der Sehverschlechterung, die nun zu einer Erblindung im Sinne des Gesetzes geführt habe, lasse sich, so der Facharzt K1, anhand der vorliegenden Unterlagen weder exakt bestimmen noch abschätzen. Die Befunde, die mit den subjektiven Angaben im Einklang stünden, würden sich definitiv nicht mehr bessern; eine weitere Verschlechterung sei anzunehmen. Die Befundverschlechterung - insbesondere der Visusabfall - im Vergleich zum Vorgutachten sei durch die fortschreitenden degenerativen Veränderungen der Netzhaut mit entsprechendem Untergang der Photorezeptoren zu erklären.
Eine Begutachtung auf einem anderen Fachgebiet sei nicht erforderlich.

Auf das Gutachten hin hat der Kläger über seine Bevollmächtigte am 01.11.2021 darauf hingewiesen, dass das Klagebegehren des Klägers gestützt werde, spätestens ab Zeitpunkt der Begutachtung am 08.07.2021 sei von Blindheit im Sinne des BayBlindG auszugehen.
Hingegen hat der Beklagte am 14.12.2021 mit Blick auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme vom 25.11.2021 weiterhin die Klageabweisung beantragt. In der Stellungnahme ist auf die Verhaltensschilderungen durch den Gutachter verwiesen worden. Des Weiteren zeige sich ein Unterschied im Gesichtsfeld; so habe sich ein deutlich besseres Gesichtsfeld links im Vergleich zur Begutachtung von P gezeigt. Leider seien keine VECP durchgeführt worden. Blindheit müsse jedoch nachgewiesen sein. Vorliegend gebe es begründete Zweifel (Verhaltensbeobachtung, Diskrepanz des Gesichtsfelds), so dass eine Abhilfe nicht vorgeschlagen werden könne.

Auf den Hinweis des SG haben die Beteiligten am 20.01. und 27.01.2022 mitgeteilt, dass Einverständnis mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid bestehe.

Mit Gerichtsbescheid vom 02.02.2022 hat das SG den Bescheid des Beklagten vom 13.05.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.09.2020 aufgehoben und den Beklagten verurteilt, dem Kläger ab Februar 2020 Blindengeld für blinde Menschen in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Im Übrigen hat das SG die Klage abgewiesen.
Unter Zugrundelegung der Gutachten von P und des Facharztes K1 sei davon auszugehen, dass bereits seit dem ersteren Gutachten im Februar 2020 faktische Blindheit bestehe und dass sich der Befund bis zum Gutachten des Facharztes K1 weiter verschlechtert habe. P habe Visuswerte von nur 0,02 erhoben; die objektiven Befunde (Muster-VECP und OCT) zeigten im Übrigen, dass eine massive Einschränkung der Sehfähigkeit vorhanden sei. Die Einwände von P im Rahmen der Untersuchungssituation seien dabei nicht tragfähig, dem Kläger fehlerhafte Angaben zu unterstellen. Mit dem vorhandenen Restvisus und dem Restgesichtsfeld sei es nicht abwegig, so das SG, dass der Kläger - der an einer fortschreitenden Augenerkrankung leide, an deren Verschlechterung er sich mit der Zeit anpassen habe können - sich noch einigermaßen sicher unter bestimmten Lichtverhältnissen bewegen könne. Auch die Probleme bei der Gesichtsfeldmessung seien nicht mit fehlerhaften Angaben des Klägers zu erklären, sondern mit Problemen bei der Fixation durch zentrale Gesichtsfeldausfälle und die Einschränkung des Gesichtsfelds. Diese Fixationsprobleme im Rahmen einer fortgeschrittenen Retinitis-pigmentosa-Erkrankung seien der erkennenden Kammer aus einer Vielzahl vergleichbarer Fälle und vergleichbaren Gutachten bekannt; sie würden regelmäßig nicht auf Fehlverhalten des Untersuchten, sondern auf die Erkrankung zurückgeführt. Der Beklagte hätte, so das SG, würdigen müssen, das gerade bei nicht möglicher guter Fixation die Angaben zum Gesichtsfeld nie übereinstimmend seien und sich daher abweichende Gesichtsfelder ergeben würden. Nur bei einer möglichen Fixation könnten sich nach Ansicht der Vorsitzenden wirkliche Zweifel bei unterschiedlich erhaltenen Gesichtsfeldern nachvollziehbar ergeben. P habe insbesondere nicht auf Erkenntnisse verwiesen, die man in vermeintlich unbeobachteter Situation beim Kläger hätte bemerken können. Der Gutachter K1 habe die Angaben des Klägers im Übrigen als glaubhaft angesehen, was sich auch auf das Gutachten von P übertragen lasse. Er lege im Übrigen nachvollziehbar dar, dass der Visus nunmehr lediglich auf 0,01 bemessen werden könne.
Im Übrigen - also für die Zeit vor Februar 2020 - sei die Klage abzuweisen. Insbesondere könne nicht alleine aus dem Vorliegen eines GdB von 100 für die Augenerkrankung automatisch eine hochgradige Sehbehinderung für die Zeit vor September 2019 angenommen werden. Die Anerkennung eines Einzel-GdB von 100 habe keine Bindungswirkung für das Blindengeld; das SG hat hier auf die Rechtsprechung des Senats (s.o.) verwiesen.

Gegen den Gerichtsbescheid hat der Beklagte am 11.03.2022 beim Bayerischen Landessozialgericht (BayLSG) Berufung eingelegt. Zur Begründung hat er im Wesentlichen vorgetragen, es stehe nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest, dass die visuelle Wahrnehmung des Klägers in blindheitsrelevantem Ausmaß aufgehoben sei. Der Beklagte hat hervorgehoben, dass P aufgrund eingehender Untersuchung festgestellt habe, dass der Kläger sehr gut orientiert sei und sich im Raum ohne Probleme zurechtfinde. Er komme zu dem nachvollziehbaren und gut begründeten Schluss, dass weder eine hochgradige Sehbehinderung noch Blindheit vorliege. P habe auch das Verhalten dahingehend bewertet, dass sich die erhobenen Befunde wie Gesichtsfelduntersuchung und Sehschärfenbestimmung nicht mit den Ergebnissen und dem Verhalten des Klägers decken würden. Weiter hat der Beklagte auch auf die Verhaltensbeobachtungen des Gutachters K1 abgestellt. Bei dem von diesem Gutachter festgestellten Visus von 0,01 seien die in den beiden Gutachten beschriebene Orientierungsmöglichkeit und das Zurechtfinden in fremder Umgebung nach Auffassung des Beklagten nicht mehr möglich. Insofern sei auch die Begründung im Gerichtsbescheid nicht nachvollziehbar, dass sich der Kläger einigermaßen sicher bewegen könne, weil er sich seit 2004 an diesen Zustand anpassen habe können. Dies möge für vertraute räumliche Verhältnisse etc. in Betracht kommen, jedoch keinesfalls für eine Orientierung in fremden Räumen. Schließlich passe auch das angegebene Gesichtsfeld nicht zur Diagnose; das Fehlen des Zentrums sei für eine Retinitis pigmentosa atypisch.

Mit Schriftsatz vom 14.04.2022 hat die Bevollmächtigte des Klägers beantragt, die Berufung zurückzuweisen. In der Begründung ist u.a. im Hinblick auf die thematisierten Verhaltensbeobachtungen betont worden, dass ein Stuhl selbst bei einer korrigierten Sehschärfe von 0,02 umgangen etc. werden könne. Weiter ist auch auf die konkreten Verhältnisse der Untersuchungssituation verwiesen worden. Zum Aspekt der Gewöhnung/Anpassung ist ausgeführt worden, dass eine Person, die über Jahre einen ausreichenden Sehrest habe und das Augenlicht nach und nach verliere, sich entsprechend ihrem Vorstellungsvermögen auch nach Eintritt der Blindheit noch in vielen Situationen so verhalte, als könne sie sehen, da ihr viele Abläufe noch bekannt seien. Zudem sei es dem Kläger durchaus möglich, sich über das Gehör zu orientieren und seinen Kopf in die zutreffende Richtung zu wenden. Sofern P dies mit einem Fixieren des Sachverständigen gleichsetze, hätte er durch verschiedene Verhaltensweisen (z.B. durch Grimassenschneiden) prüfen müssen, ob der Kläger entsprechend reagiere.
Im Übrigen werde entgegen der Auffassung des Beklagten im Gutachten des Facharztes K1 gerade beschrieben, dass sich der Kläger in fremder Umgebung nicht ohne fremde Hilfe zurecht gefunden habe. Es sei einer Person auch mit einer Sehschärfe von 0,01 durchaus noch möglich, einer anderen Person, die direkt vor ihr gehe, zu folgen. Dass sich der Kläger erst bei gedimmten Lichtverhältnissen nicht mehr orientieren habe können, spreche ebenfalls für die typischen Symptome einer fortgeschrittenen Retinopathia pigmentosa. Dieses Krankheitsbild zeichne sich nämlich neben einer herabgesetzten Sehschärfe und sich immer weiter einengenden Gesichtsfeldern gerade auch durch Probleme mit dem Dämmerungssehen und Problemen, sich auf wechselnde Lichtverhältnisse einzustellen, aus.
Im Hinblick auf die Argumentation, das angegebene Gesichtsfeld passe nicht zur Diagnose, weil das Fehlen des Zentrums für die Augenerkrankung des Klägers atypisch sei, ist darauf hingewiesen worden, dass in vielen Fällen einer Retinopathia pigmentosa die Netzhautzerstörung auch anders voranschreite. Die Ausfälle könnten als Ring um das Zentrum (Ringskotom) oder fleckenförmig auftreten. Möglich sei auch ein zunächst zentraler Befall, wobei die Schädigung untypischerweise in der Gesichtsfeldmitte beginne. Bei dieser inversen Form der Retinopathia pigmentosa sei - anders als beim Tunnelblick - die Makula stärker betroffen, während die Randzonen noch erhalten seien. Außerhalb des Sehzentrums nehme bekanntlich die Sehschärfe ab, was zur Folge habe, dass der von einer inversen Retinopathia pigmentosa Betroffene schon sehr früh eine Lupe brauche, um noch lesen zu können, während die Orientierung im Raum noch längere Zeit problemlos sei.

Am 28.06.2022 hat der Senat B mit der Erstellung eines augenfachärztlichen Sachverständigengutachtens beauftragt. In dem Gutachten vom 15.05.2023 hat der Sachverständige die subjektiven Angaben des Klägers geschildert, sein Sehen werde ständig schlechter und auch die Orientierung sei so schlecht, dass nun ein Orientierungs- und Mobilitätstraining mit dem weißen Langstock beginne.

B hat als Visuswerte (mit objektiv gemessener Refraktion, Landolt-Ringen) rechts 0,002 (in 7 cm), links 0,003 (in 7 cm) und binokular 0,003 (7 cm Prüfdistanz) festgehalten. Der Optokinetische Nystagmus (OKN) sei in 50 cm rechts und links vertikal und horizontal auslösbar gewesen, in 1 m nicht.
Die Gesichtsfelduntersuchung (kinetisch mit dem Goldmannperimeter, Prüfmarke III/4e) hat zu folgenden Ergebnissen rechts und links geführt: terminale konzentrische Einengung, zentrale Restinsel unter der Nachweisgrenze, schmale periphere Randsichel mit adäquater Vergrößerung bei Wechsel auf größere Prüfmarke, nach nasal-oben verschoben bei exzentrischer Fixation.
B hat folgende Diagnosen für das rechte und linke Auge gestellt: fortgeschrittene hereditäre Netzhautdystrophie (Stäbchen-Zapfen-Dystrophie).

Bei den subjektiven Angaben sei beim Kläger im Vergleich zu den objektiv erhobenen Funktionsbefunden eine Verstärkungstendenz erkennbar (Inkonsistenzen der Angaben bei verschiedenen Prüfdistanzen, was mit dem Strahlensatz nicht vereinbar sei). Inwieweit diese Verstärkungstendenz bereits vor der negativen Begutachtung im August 2020 vorhanden gewesen sei oder ob sie durch die Diskrepanz zwischen subjektiv erlebter Sehbehinderung und gutachterlicher Einschätzung im August 2020 erst ausgelöst oder verstärkt worden sei, könne nicht beurteilt werden. Ungeachtet dessen liege die objektiv erhobene Sehschärfe mit dem Objektivvisusäquivalent bei 0,03 bis 0,04, was mit einer Dezimalschärfe von max. 0,02 bzw. 1/50 vereinbar sei. Damit liege sie im Bereich der gesetzlichen Erblindung. In Kombination mit den ausgeprägten Gesichtsfeldausfällen wären die Kriterien sogar mit einer etwas besseren Sehschärfe erfüllt. Die subjektiven Angaben bei der Gesichtsfelduntersuchung seien durch die morphologischen Befunde hinreichend erklärt und würden auch, so B, mit den Befunden der objektiven Gesichtsfeldmessung (Pupillenkampimetrie) übereinstimmen. Insgesamt würden die morphologischen Befunde eine deutliche Verschlechterung im Vergleich zu den klinikinternen Vorbefunden aus dem Jahr 2017 zeigen. Bei der Untersuchung der VECP seien in der gegenständlichen gutachterlichen Untersuchung keine reproduzierbaren Antworten ableitbar.
Basierend auf den morphologischen Befunden sowie den objektiven Funktionsprüfungen sei nach den Richtlinien der DOG und des Berufsverbands der Augenärzte Deutschlands der GdB auf augenärztlichem Fachgebiet auf 100 mit den Merkzeichen RF, G, B, H und BL einzuschätzen. Die Kriterien für Blindheit im Sinne des BayBlindG seien erfüllt.

Im Rahmen der Beantwortung der Beweisfragen hat der Sachverständige darauf hingewiesen, dass die objektiv gemessene Sehschärfe (am 03.04.2023) bei nicht mehr als 1/50 gelegen hätte; die subjektiven Angaben bei der Messung der Sehschärfe seien noch niedriger gewesen. 2017 habe die Sehschärfe noch bei 0,05 am besseren rechten Auge gelegen. Wann genau die Verschlechterung auf 1/50 eingetreten sei, könne rückblickend nicht exakt datiert werden. Da sich die im Gutachten vom September 2021 abgebildeten morphologischen Befunde nur unwesentlich von den aktuell erhobenen unterscheiden würden und auch die glaubhaften Angaben bei der Gesichtsfelduntersuchung nahezu identisch seien, könne mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass bereits im September 2021 die Sehschärfe bei max. 1/50 gelegen habe.

Am 08.08.2023 hat der Beklagte ein (erstes) Vergleichsangebot abgegeben, demzufolge Blindengeld für blinde Menschen ab April 2023 (Untersuchung in T) zu gewähren sei. In der zugrundeliegenden versorgungsärztlichen Stellungnahme von K2 vom 27.07.2023 ist u.a. auf die in den vorangegangenen versorgungsärztlichen Stellungnahmen aufgezeigten Diskrepanzen zwischen der vorhandenen Orientierung einerseits sowie den Angaben zu Sehschärfe und Gesichtsfeld andererseits aufmerksam gemacht worden. Im Verlauf ergäben sich jetzt Hinweise auf eine zunehmende Verschlechterung des Sehvermögens. So seien am 11.02.2020 die VECP noch auslösbar gewesen, bei der Untersuchung am 03.04.2023 jedoch nicht mehr. Aus den Vorgutachten gehe eine vorhandene Orientierung ohne Hilfsmittel hervor, aus dem aktuellen Gutachten nun ein Training mit weißem Langenstock. Zwar sei dem aktuellen Gutachten eine ausführliche Verhaltensbeschreibung nicht zu entnehmen, bei dem Hinweis auf den objektiv erhobenen Befund könne dem Gutachten allerdings bezüglich einer Blindheit ab der Untersuchung am 03.04.2023 gefolgt werden. Aus versorgungsärztlicher Sicht lasse sich ein zweifelsfreier Nachweis für das Vorliegen einer hochgradigen Sehbehinderung oder Blindheit für die Vergangenheit jedoch nicht führen, da die Angaben zu Sehschärfe und Gesichtsfeld aufgrund der verschiedenen Diskrepanzen für den Zeitpunkt der Vorgutachten nicht sicher verwertbar seien, so K2.

Dieses Vergleichsangebot hat der Kläger nicht angenommen. Im Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 23.08.2023 ist auf das ERG der Universitätsklinik T vom 25.08.2017 (s.o.) verwiesen worden, das für die vom Kläger bereits zu diesem Zeitpunkt angegebenen massiven Gesichtsfeldausfälle und Seheinschränkungen spreche. Auch könne im Ergebnis festgehalten werden, dass bereits im Zeitpunkt 2020 die Muster-VECP-Ableitung pathologisch gewesen sei. Dies könne durchaus einer hochgradigen Sehbehinderung entsprechen, was bei der erkennbar vorliegenden fortgeschrittenen Augenerkrankung des Klägers sogar sehr wahrscheinlich sei, so dass im Ergebnis zum Zeitpunkt der Begutachtung im August 2020 von einer hochgradigen Sehbehinderung auszugehen sei. Weiter ist in dem Schriftsatz darauf hingewiesen worden, dass sich die im September 2021 erhobenen Befunde nur unwesentlich von den aktuellen unterscheiden würden; zudem seien auch die glaubhaften Angaben bei den Gesichtsfelduntersuchungen nahezu identisch. Zusammenfassend hat die Bevollmächtigte festgestellt, dass mit den augenfachärztlichen Gutachten vom September 2021 und März 2023 vom Kläger ein ausreichender Beweis als erbracht anzusehen sei, dass Blindheit seit September 2021 und hochgradige Sehbehinderung seit April 2020 vorliegen würden. Insbesondere könne dem Kläger nicht zur Last gelegt werden, dass eine Muster-VECP-Untersuchung im Jahr 2021 nicht erfolgt sei.
Schließlich ist darauf hingewiesen worden, dass dem Kläger mit dem Feststellungsbescheid vom Oktober 2017 neben einem GdB von 100 die Merkzeichen G, B, H und RF und damit eine hochgradige Sehbehinderung zugesprochen worden seien. Unter Verweis auf die Rechtsprechung ist die Auffassung vertreten worden, dass bei dem Begriff der Blindheit im Sinne der VersMedV die dort strengen Anforderungen maßgeblich seien, während der Begriff der Blindheit in den Blindengeldgesetzen nicht derselbe sei. Die vom BSG aufgestellten Grundsätze würden zwar zunächst nur die Blindheit betreffen, sie könnten jedoch analog auf das Vorliegen einer hochgradigen Sehbehinderung angewendet werden. Wenn damit der Kläger nach den strengen Kriterien der VersMedV seit Oktober 2017 als hochgradig sehbehindert eingestuft worden sei, müsse dies erst recht für die Leistungen nach dem BayBlindG für hochgradig Sehbehinderte gelten, denn diese Leistungen erforderten für eine hochgradige Sehbehinderung nicht die strengen Vorgaben, wie sie in der VersMedV getroffen würden.

Am 04.10.2023 hat der Beklagte ein weiteres Vergleichsangebot abgegeben, in dem er sich bereit erklärte, Blindengeld für hochgradig sehbehinderte Menschen ab dem Monat Juli 2021 und Blindengeld für blinde Menschen ab April 2023 zu gewähren. In der zugrundeliegenden versorgungsmedizinischen Stellungnahme von K2 vom 29.09.2023 ist hervorgehoben worden, dass die Ergebnisse der beiden Muster-VECP-Messungen als sehr schwankend anzusehen seien. In Übereinstimmung mit den Ausführungen der Bevollmächtigten sei ein direkter Rückschluss auf den Visus nicht möglich. Wenn man allerdings, so K2, die Ergebnisse der Ableitungen berücksichtige, wie im vorliegenden Schreiben der Bevollmächtigten geltend gemacht, würden die verbliebenen Antworten in den Muster-VECP in Übereinstimmung mit dem Verhalten, wie die Gutachter 2020 in der L-Universität begründet hätten, eher gegen den zweifelsfreien Nachweis einer Blindheit ab 11.02.2020 sprechen. Dass B im April 2023 keinen OKN und keine reproduzierbaren Antworten in den Muster-VECP gefunden hätte, spreche auch aus versorgungsärztlicher Sicht für Blindheit.

Auch dieses Vergleichsangebot ist nicht angenommen worden. Im Schriftsatz vom 25.10.2023 hat die Bevollmächtigte auf die Bindungswirkung des GdB-Bescheids vom Oktober 2017 abgestellt. Ausweislich von § 152 Abs. 5 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) entfalteten das Merkzeichen H und ein dazugehöriger GdB von 100 aufgrund beidseitiger Sehbehinderung entgegen der Auffassung des Senats (im o.g. Urteil vom 20.12.2018 - L 15 BL 6/17) Bindungswirkung für andere Behörden. Nach der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung sei die Statusentscheidung des Versorgungsamts nach § 152 Abs. 1 SGB IX bei der Prüfung inhaltsgleicher Tatbestandsvoraussetzungen für die in anderen Gesetzen geregelten Vergünstigungen bzw. Nachteilsausgleiche und damit für die dort jeweils zuständigen anderen Verwaltungsbehörden bindend. Dies solle es dem Schwerbehinderten ersparen, bei der Inanspruchnahme von Rechten und Vergünstigungen stets wieder aufs Neue seine Behinderung und die damit verbundenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen untersuchen und beurteilen zu lassen. Diese Bindungswirkung müsse also auch für den Beklagten hinsichtlich der Gewährung von Blindengeld gelten, denn die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens H gem. § 152 Abs. 1 SGB IX i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 2 Schwerbehindertenausweis-Verordnung i.V.m. Teil A Ziff. 6 d) VG würden mit den Voraussetzungen für die Annahme von hochgradig in der Sehfähigkeit behinderten Menschen nach dem BayBlindG übereinstimmen. Gerade der letzte Satz von Teil A Ziff. 6 d) VG verdeutliche die anzunehmende Bindungswirkung einer einmal getroffenen Entscheidung des Versorgungsamts. Im Übrigen sei darauf hinzuweisen, dass sich eine Bindungswirkung der hochgradigen Sehbehinderung gem. dem BayBlindG bereits daraus ergebe, dass hier der Wortlaut aus der Regelung der VG nahezu übernommen worden sei. Somit sei der Beklagte gerade auch nach wortwörtlicher Auslegung der Norm an die im Schwerbehindertenausweis getroffene positive Feststellung zum Vorliegen von hochgradiger Sehbehinderung im Falle des Klägers gebunden.

Mit Schriftsatz vom 16.11.2023 hat sich die Klägerseite erneut mit der Rechtsprechung des Senats (s.o.) zur Bindungswirkung eines Verfahrens nach dem SGB IX auseinandergesetzt und hervorgehoben, dass der vorliegende Sachverhalt weder mit der o.g. Rechtsprechung des Senats noch mit der einschlägigen Rechtsprechung des BSG vergleichbar sei. Auch vorliegend sei Blindengeld für hochgradig Sehbehinderte zu gewähren, weil die Anforderungen nach dem BayBlindG mit denen aus der VersMedV nahezu inhaltsgleich seien. Die BSG-Rechtsprechung hinsichtlich der rechtlichen Wirkungen von Einzelgraden der Behinderung stehe in einem völlig anderen Kontext, als er vom Senat in der o.g. Rechtsprechung verwendet werde.

Mit Schriftsätzen vom 05.12.2023 haben die Beteiligten einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zugestimmt.

Der Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 02.02.2022 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 13.05.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.09.2020 abzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat die Akten des Beklagten und des SG beigezogen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt dieser Akten und der Berufungsakte, die allesamt Gegenstand der Entscheidung gewesen sind, Bezug genommen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Der Senat konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden, § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 SGG. Hieran war er auch nicht im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Europäische Menschenrechtskonvention gehindert (vgl. z.B. Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 153, Rn. 13a), weil das SG durch Gerichtsbescheid entschieden hat. Denn für den Kläger bestand im Berufungsverfahren die Möglichkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung; er hat hierauf jedoch verzichtet.

Die zulässige Berufung des Beklagten hat in der Sache nur teilweise Erfolg.

Sie ist nur insoweit begründet, als das SG den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 13.05.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.09.2020 verurteilt hat, dem Kläger (auch) vor Juli 2021 Blindengeld zu gewähren. Die angefochtenen (ablehnenden) Verwaltungsakte des Beklagten sind insoweit rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Im Übrigen ist der Gerichtsbescheid des SG nicht zu beanstanden: Der Kläger hat ab Juli 2021 Anspruch auf Blindengeld für blinde Menschen gemäß Art. 1 Abs. 2 BayBlindG.

Gegenstand des Verfahrens ist der Anspruch des Klägers ab Februar 2020 auf Blindengeld nach dem BayBlindG. Da vorliegend nur der Beklagte Berufung eingelegt hat, geht es nicht um einen Anspruch für einen früheren Zeitraum.

Gemäß Art. 1 Abs. 1 BayBlindG erhalten blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Freistaat Bayern haben oder soweit die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 dies vorsieht, zum Ausgleich der durch diese Behinderungen bedingten Mehraufwendungen auf Antrag ein monatliches Blindengeld.

Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt (Art. 1 Abs. 2 Satz 1 BayBlindG). Als blind gelten gemäß Art. 1 Abs. 2 Satz 2 BayBlindG auch Personen,
1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 0,02 (1/50) beträgt,
2. bei denen durch Nr. 1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr. 1 gleichzuachten sind.

Hochgradig sehbehindert ist gemäß Art. 1 Abs. 3 BayBlindG, wer nicht blind in diesem Sinne (Art. 1 Abs. 2 BayBlindG) ist und
1. wessen Sehschärfe auf keinem Auge und auch beidäugig nicht mehr als 0,05 (1/20) beträgt oder
2. wer so schwere Störungen des Sehvermögens hat, dass sie einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) bedingen.

Vorübergehende Sehstörungen sind nicht zu berücksichtigen. Als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten.

Eine der Herabsetzung der Sehschärfe auf 0,02 oder weniger gleichzusetzende Sehstörung im Sinn des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG liegt, den Richtlinien der DOG folgend, bei folgenden Fallgruppen vor (siehe Versorgungsmedizinische Grundsätze - VG, Anlage zu § 2 der VersMedV, Teil A Nr. 6):
aa) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,033 (1/30) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfelds in keiner Richtung mehr als 30° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
bb) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,05 (1/20) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfeldes in keiner Richtung mehr als 15° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
cc) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,1 (1/10) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfelds in keiner Richtung mehr als 7,5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
dd) bei einer Einengung des Gesichtsfelds, auch bei normaler Sehschärfe, wenn die Grenze der Gesichtsfeldinsel in keiner Richtung mehr als 5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
ee) bei großen Skotomen im zentralen Gesichtsfeldbereich, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und im 50°-Gesichtsfeld unterhalb des horizontalen Meridians mehr als die Hälfte ausgefallen ist,
ff) bei homonymen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und das erhaltene Gesichtsfeld in der Horizontalen nicht mehr als 30° Durchmesser besitzt,
gg) bei bitemporalen oder binasalen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und kein Binokularsehen besteht.

Wie der Senat wiederholt (vgl. z.B. die Urteile vom 26.09.2017 - L 15 BL 8/14, 06.10.2020 - L 15 BL 6/19, 07.03.2023 - L 15 BL 20/21 - und 11.07.2023 - L 15 BL 23/21) unterstrichen hat, sind nach den Grundsätzen im sozialgerichtlichen Verfahren die einen Anspruch begründenden Tatsachen grundsätzlich im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachzuweisen (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.1999 - B 9 VS 2/98 R). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000 - B 9 VG 3/99 R), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993 - 9/9a RV 1/92, Beschluss vom 29.01.2018 - B 9 V 39/17 B, Urteil vom 17.04.2013 - B 9 V 3/12 R). Auch dem Vollbeweis können gewisse Zweifel innewohnen; verbleibende Restzweifel sind bei der Überzeugungsbildung unschädlich, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (z.B. BSG, Urteil vom 17.04.2013 - B 9 V 3/12 R, m.w.N.). Dies alles gilt ausdrücklich auch für die Verfahren bezüglich des BayBlindG, was das BSG in den Urteilen vom 11.08.2015 (B 9 BL 1/14 R) und 14.06.2018 (B 9 BL 1/17 R) klargestellt hat.

1. Der Nachweis der Blindheit des Klägers gem. Art. 1 Abs. 2 BayBlindG ist für den Zeitraum ab Juli 2021 zur Überzeugung des Senats erbracht.

Dies folgt aus dem Ergebnis der Beweisaufnahme. Der Senat stützt sich dabei vor allem auf die plausiblen Gutachten von B und des Facharztes K1. Die Sachverständigen haben die beim Kläger vorliegenden Sehbeeinträchtigungen vollständig erfasst und unter Beachtung der maßgeblichen Vorgaben des BayBlindG (und der VG) zutreffend gewürdigt. Der Senat macht sich die Feststellungen der genannten Sachverständigen, die auch in Übereinstimmung mit der vorliegenden Befunddokumentation stehen, nach eigener Prüfung zu eigen.

Nach der überzeugenden Feststellung der Gutachter leidet der Kläger an einer fortgeschrittenen hereditären Netzhautdystrophie, ferner an Cataracta subcapularis posterior, Myopie und Astigmatismus. Dabei ist der Kläger aufgrund der fortgeschrittenen Netzhauterkrankung in seinem Sehvermögen funktionell massiv beeinträchtigt.

Blindheit ist seit der Untersuchung durch den Sachverständigen K1 im Juli 2021 nachgewiesen. Dies folgt für den Senat nachvollziehbar gerade auch aus dem Sachverständigengutachten von B, der vor allem hervorgehoben hat, dass sich die im Gutachten des Facharztes K1 abgebildeten morphologischen Befunde nur unwesentlich von den bei ihm aktuell erhobenen unterscheiden würden und die Angaben bei der Gesichtsfelduntersuchung jeweils glaubhaft und nahezu identisch gewesen sind. Die subjektiven Angaben bei der Gesichtsfelduntersuchung sind nach den gutachterlichen Feststellungen durch die morphologischen Befunde hinreichend erklärt und stimmen auch, wie B überzeugend dargelegt hat, mit den Befunden der objektiven Gesichtsfeldmessung (Pupillenkampimetrie) überein. Nach beiden genannten Gutachten hat die Sehschärfe bereits zum Zeitpunkt der Untersuchung durch den Gutachter K1 bei max. 1/50 gelegen. Wie der letztgenannte Sachverständige nachvollziehbar hervorgehoben hat, waren die Angaben des Klägers bei der Prüfung des Sehvermögens allesamt glaubhaft und durch den morphologischen Befund mit den typischen Netzhautveränderungen auch erklärbar.
Bereits aus dem Vorgenannten ergibt sich, dass die von B bei den subjektiven Angaben des Klägers im Vergleich zu den objektiv erhobenen Funktionsbefunden wahrgenommene Verstärkungstendenz - nämlich mit dem physikalischen Strahlensatz nicht vereinbare Inkonsistenzen der Angaben bei verschiedenen Prüfdistanzen - nicht solches Gewicht gewinnt, dass sie der Überzeugungsgewinnung des Senats entgegenstehen könnte. Insoweit handelt es sich aus gerichtlicher Sicht um bloße Restzweifel im o.g. Sinn; dies ergibt sich aus den unmissverständlichen Feststellungen des Gutachters, der trotz dieser (letztlich leichten) Irritationen an der Blindheitsfeststellung keinen Zweifel lässt.

Vor allem aber berücksichtigt der Senat - im Übrigen auch mit dem Beklagten - die Tatsache, dass die Untersuchung bei B am 03.04.2023 keine auslösbaren VECP mehr gezeigt hat. Ein solcher Beleg des "Ausfalls" der VECP war in der Untersuchung durch den Facharzt K1 nicht gesichert worden. Zwar trägt insoweit der Kläger letztlich die Beweislast (s.o.), der Annahme der Blindheit bereits im Sommer 2021 steht ein fehlender VECP-Befund aber mit Blick auf die weiteren damals getroffenen Feststellungen jedenfalls nicht im Wege.

Ein anderes Ergebnis, nämlich ein erst späterer Nachweise der Blindheit im Sinne von Art. 1 Abs. 2 BayBlindG folgt aus Sicht des Senats auch nicht aufgrund der im Gutachten des Facharztes K1 gemachten Verhaltensbeobachtungen. Was Verhaltensbeobachtungen bezüglich des Klägers - auch bei anderen Untersuchungen - betrifft, so ist diesen von den Beteiligten des vorliegenden gerichtlichen Verfahrens hoher Stellenwert eingeräumt und es sind auch durchaus gewichtige Argumente vorgetragen worden. Gewisse (Rest-)Zweifel im Hinblick auf den Blindheitsnachweis hat der Senat denn auch. Der Senat geht insoweit aber - vor allem auch mit Blick auf seine ständige Rechtsprechung zu diesem Problemkreis (vgl. bereits die Urteile vom 16.09.2015 - L 15 BL 2/13 - und vom 27.09.2016 - L 15 BL 11/15) - (gerade noch) von nicht erheblichen Restzweifeln aus. Den geschilderten Beobachtungen kommt keine entscheidende Bedeutung zu. Zwar sind, wie der Senat ebenfalls bereits ausdrücklich entschieden hat (vgl. z.B. das Urteil vom 31.01.2013 - L 15 BL 6/07), gerade in komplexen ophthalmologischen Problemlagen Plausibilitätskontrollen unabdingbar; dies gilt sowohl hinsichtlich nicht richtlinienkonformer Untersuchungsmethoden (vor allem Untersuchungen, die nicht mit dem Goldmann-Perimeter - Reizmarke III/4 - oder mit Landoltringen - Fernvisus - entsprechend den Vorgaben der VG bzw. der DOG durchgeführt worden sind) als auch für Verhaltensbeobachtungen (a.a.O.). Gerade bei Diskrepanzen ist kein Grund ersichtlich, der es verbieten würde, die Plausibilität von subjektiven Angaben zu hinterfragen. Den zusätzlichen Untersuchungsmethoden und Kontrollen darf nach der genannten Rechtsprechung des Senats (vgl. z.B. das Urteil vom 31.01.2013 - L 15 BL 6/07) aber keine (alleinige) Beweiskraft zugemessen werden. Eine Verhaltensbeobachtung erlaubt grundsätzlich nur eine grobe Einschätzung des Sehvermögens. Sie ist nicht geeignet, mit der erforderlichen Zuverlässigkeit zwischen einer hochgradigen Sehbehinderung und einer Blindheit im Sinne des BayBlindG zu differenzieren (vgl. insoweit bereits das Urteil vom 16.09.2015 - L 15 BL 2/13). Ihre Funktion ist generell, wie auch vorliegend, einen aufschlussreichen ergänzenden Blick auf die Gesamtsituation des sehbehinderten Menschen hinsichtlich seines Sehvermögens zu ermöglichen (Urteil des Senats vom 27.09.2016 - L 15 BL 11/15) - nicht mehr und nicht weniger.
Aus den vom Gutachter und von der Klägerseite (unterschiedlich) geschilderten bzw. bewerteten Tatsachen, dass der Kläger einen im Untersuchungsraum stehenden (schwarzen) Untersuchungshocker erkennen und umgehen habe können, weiter, dass sich der Kläger ohne Hilfe auf den Untersuchungsstuhl habe setzen und nach der Armlehne greifen können, ist somit kein rechtssicherer Rückschluss auf das exakte Sehvermögen möglich; Gleiches gilt hinsichtlich der Schilderung des Facharztes K1, dass ihm der Kläger beim Wechsel der Untersuchungsräume (im gut beleuchteten Flur) hinterhergegangen sei. Ein naheliegender oder gar zwingender Rückschluss auf ein oberhalb der Blindheitsgrenze liegendes Sehvermögen des Klägers ergibt sich hieraus nicht, zumal der Sachverständige über die genannten Feststellungen hinaus auch Schwierigkeiten des Klägers bei der Orientierung etc. ausdrücklich geschildert hat.

Die Berufung des Beklagten ist daher insoweit zurückzuweisen.

2. Sie hat jedoch hinsichtlich des Zeitraums Februar 2020 bis Juni 2021 Erfolg. Es steht nicht zur Gewissheit des Senats fest, dass der Kläger vor Juli 2021 blind im Sinne von Art. 1 Abs. 2 oder hochgradig sehbehindert im Sinne von Art. 1 Abs. 3 BayBlindG gewesen ist.

a. Gegen den Nachweis von Blindheit (Art. 1 Abs. 2 BayBlindG) stehen bereits die plausiblen Feststellungen von P und vor allem auch die Tatsache, dass damals die VECP - wenn auch pathologisch verändert - noch auslösbar gewesen sind. Letztlich stellt keiner der Gutachter sicher Blindheit bereits ab Februar 2020 fest. Vielmehr zeigt auch der Facharzt K1 plausibel eine seit dem Vorgutachten bei P relevante Verschlechterung des Sehvermögens durch den (weiteren) Untergang von Photorezeptoren, insbesondere der zentralen Netzhautanteile, fest. Die Verschlechterung wurde auch durch den Kläger selbst (beim Sachverständigen K1) bestätigt. Mit Blick auf die grundsätzliche Progredienz der Augenerkrankung des Klägers und den Zeitablauf, ferner auch die damaligen Verhaltensbeobachtungen, die hier geeignet sind, mehr als bloße Restzweifel darzustellen, und schließlich auch eine bei P nicht ausschließbare Verstärkungstendenz (siehe auch das Gutachten B) sieht sich der Senat nicht in der Lage, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vom Vorliegen von Blindheit bereits ab dem genannten Zeitpunkt auszugehen. Insoweit überwiegen die erheblichen Zweifel und können die vom SG angenommenen für einen Blindheitsnachweis positiven Aspekte hieran nichts ändern. Schließlich geht selbst die Klägerseite (vgl. die Schriftsätze vom 01.11.2021 und 23.08.2023) davon aus, dass der Kläger den Beweis der Blindheit nicht bereits seit 2020, sondern erst ab Juli bzw. September 2021 erbracht hat.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem umfassend begründeten Gerichtsbescheid des SG. Die dort getroffenen Annahmen und gezogenen Rückschlüsse, die das SG unter anderem auf eigene Erfahrung bezüglich vergleichbarer Verfahren gestützt hat, erweisen sich zwar grundsätzlich keinesfalls als abwegig, jedoch für den vorliegenden Fall auch nicht als zwingend. Insbesondere können sie die (ausdrücklichen) plausiblen Feststellungen der Sachverständigen, die nicht zu einer Blindheit bereits ab Februar 2020 (oder früher) gelangen, nicht entkräften. Ob das SG, wie der Beklagte meint, insoweit seine eigenen Schlussfolgerungen über die des Sachverständigen P gesetzt hat, muss an dieser Stelle nicht untersucht werden.

b. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Blindengeld wegen hochgradiger Sehbehinderung (Art. 1 Abs. 3 BayBlindG) seit der Untersuchung bei P im Februar 2020.

aa. Die materiell-rechtlichen Voraussetzungen einer hochgradigen Sehbehinderung sind nicht nachgewiesen. Auch wenn diese niedriger als die hinsichtlich der Blindheit gemäß Art. 1 Abs. 2 BayBlindG sind, muss doch ein Nachweis im o.g. Sinn geführt werden; es gibt keinen abgesenkten Nachweis für die Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 3 BayBlindG. Bereits aufgrund der plausiblen Feststellungen von P sowie des guten Orientierungsvermögens des Klägers und der weiteren o.g. Zweifel des Senats kann dieser nicht von einer mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgehen. Der Senat hat vielmehr erhebliche Zweifel am Vorliegen der Voraussetzungen von Art. 1 Abs. 3 BayBlindG beim Kläger.

Andererseits ist nicht völlig auszuschließen, dass das Sehvermögen des Klägers bereits ab Februar 2020 doch unter die maßgeblichen Grenzen des Art. 1 Abs. 3 BayBlindG herabgesunken sein könnte. Dafür fehlt es aber jedenfalls am notwendigen Beweis. Kann das Gericht bestimmte Tatsachen trotz Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nicht feststellen (non liquet), so gilt der Grundsatz, dass jeder die Beweislast für die Tatsachen trägt, die den von ihm geltend gemachten Anspruch begründen (vgl. z.B. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/ Keller/ders., SGG, 14. Aufl. 2023, § 103, Rn. 19a mit Nachweisen der höchstrichterlichen Rspr.). Der Kläger muss daher nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast die Folgen daraus tragen, dass eine erhebliche Ungewissheit bezüglich der für ihn günstigen Tatsachen verblieben ist. Denn für das Vorliegen der Voraussetzungen der Blindheit gemäß Art. 1 Abs. 2 BayBlindG und der hochgradigen Sehbehinderung gemäß Art. 1 Abs. 3 BayBlindG trägt der in seinem Sehvermögen beeinträchtigte Mensch die objektive Beweislast. Das BSG hat in seinen Urteilen vom 11.08.2015 (B 9 BL 1/14) und 14.06.2018 (B 9 BL 1/17 R) eine Beweiserleichterung - selbst für die besonders schwierigen Fälle der Blindheit bei zerebralen Schäden - klar abgelehnt.

bb. Eine Bindungswirkung hinsichtlich des GdB-Feststellungsbescheids besteht nicht.
Wie der Senat in dem im vorliegenden Rechtsstreit bereits thematisierten Urteil vom 20.12.2018 (L 15 BL 6/17) bereits entschieden hat, kommt es vielmehr auf die tatsächlichen Feststellungen des Sehvermögens des Betroffenen an. Die Erwägungen des Senats im o.g. Urteil gelten unverändert.

Grundsätzlich gilt, dass es in der Bundesrepublik Deutschland keinen einheitlichen Blindheitsbegriff und keinen einheitlichen Begriff der hochgradigen Sehbehinderung gibt (vgl. das Urteil des BSG vom 24.10.2019 - B 9 SB 1/18 R). Inwieweit Bindungswirkungen bestehen, ist aufgrund der spezialgesetzlichen Regelungen in den einzelnen Ländern zu entscheiden (vgl. z.B. Rohrschneider/Braun, MedSach 2020, 252 <257>). Für den Freistaat Bayern ist zu beachten, dass im Schwerbehindertenrecht (sowie im Sozialen Entschädigungsrecht) ein engerer Blindheitsbegriff als im Landesblindengeldgesetz, d.h. dem BayBlindG gilt (sofern der Problemkreis der Zweckverfehlung - vgl. das Urteil des BSG vom 14.06.2018, B 9 V 1/17 R - nicht zum Blindheitsbegriff gerechnet wird). Für den vorliegenden Rechtsstreit und die hier zu lösenden Rechtsfragen ist in erster Linie von Belang, dass ungeachtet der Weite des Blindheitsbegriffs des BayBlindG, die auch agnostische Störungen mit einschließt, ohne Zweifel die Tatbestandsvoraussetzungen von Art. 1 Abs. 3 BayBlindG maßgeblich sind und dass es keine spezialgesetzliche Regelung einer Bindungswirkung gibt. Die Voraussetzungen für die Annahme einer hochgradigen Sehbehinderung nach der genannten Vorschrift sind vorliegend jedoch, wie eben dargelegt, nicht für den genannten Zeitraum nachweisbar. Der Tatbestand von Art. 1 Abs. 3 BayBlindG ist schlicht nicht (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) erfüllt.

Nach dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 3 Ziff. 2 BayBlindG ist hochgradig sehbehindert, wer so schwere Störungen des Sehvermögens hat, dass sie einen GdB von 100 nach dem SGB IX bedingen. Auch der Senat ist davon überzeugt, dass "bedingen" in diesem Zusammenhang "tatsächlich vorliegen" bedeutet, da ansonsten eine Formulierung des Gesetzgebers nahegelegen hätte, die eine Bindungswirkung deutlich machen würde. Dass beim Kläger so schwere Störungen des Sehvermögens vorliegen würden, dass diese einen GdB von 100 bedingen würden, ist jedoch nicht der Fall, da mit P, wie eben dargelegt, nicht davon auszugehen ist, dass die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für einen solchen GdB oder auch einen Visus von 0,05 oder weniger erfüllt sind. Zwar hat der Kläger (vom Beklagten im Verfahren nach dem SGB IX) einen GdB von 100 für die Sehminderung zuerkannt erhalten. Der Gesetzgeber hat jedoch, wie der Senat bereits in dem o.g. Urteil vom 20.12.2018 (a.a.O.) herausgearbeitet hat, keine Bindungswirkung in Bezug auf GdB-Feststellungen angeordnet. Auch in den Materialien von Art. 1 Abs. 3 Ziff. 2 BayBlindG wird nicht von einer Bindungswirkung einer Entscheidung nach dem SGB IX gesprochen.

Nach Überzeugung des Senats ist daher hinsichtlich der Feststellung des GdB von 100 für die Sehminderung des Klägers und der Rechtswirkungen für Art. 1 Abs. 3 Ziff. 2 BayBlindG auf die allgemeinen Regeln zurückzugreifen. Danach kann eine bestandskräftige Feststellung des Einzel-GdB von 100 für die Sehminderung, selbst wenn daneben keine weiteren Einzel-GdB bestehen, hinsichtlich der Voraussetzungen der hochgradigen Sehbehinderung nach dem BayBlindG keine Bindungswirkung entfalten. Denn es ist höchstrichterlich längst geklärt und entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. für viele z.B. Urteil vom 17.09.2013 - L 15 SB 69/12), dass ein Einzel-GdB keiner eigenen Feststellung zugänglich ist (BSG, Urteile vom 05.05.1993 - 9/9a RVs 2/92, vom 10.09.1997 - 9 RVs 15/96 - und vom 16.02.2012 - B 9 SB 48/11 B). Wie das BSG (a.a.O.) zutreffend festgestellt hat, erscheint ein Einzel-GdB nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsakts und ist auch nicht isoliert anfechtbar. Er erwächst auch nicht in Bindung. Entsprechend dieser Rechtsprechung (a.a.O.) muss, wenn die Festlegung eines Einzel-GdB angegriffen wird, zugleich dargetan werden, dass sich hierdurch der Gesamt-GdB ändern müsse. Diese Rechtsnatur eines Einzel-GdB ist nicht nur für das Feststellungsverfahren des SGB IX maßgeblich, sondern ist daneben ebenfalls hinsichtlich aller weiteren Auswirkungen und somit auch bei der Annahme von Bindungswirkungen o.ä. im gesamten sozialrechtlichen Raum zu beachten. Es besteht kein Anknüpfungspunkt für diesbezügliche Differenzierungen

Die Alternative von Ziff. 2 des Art. 1 Abs. 3 BayBlindG kann also nur dann erfüllt sein, wenn die Voraussetzungen eines GdB von 100 (allein) für die Sehminderung materiell-rechtlich erfüllt sind, was somit im Einzelfall zu prüfen und was vorliegend entsprechend den plausiblen Darlegungen von P gerade nicht nachgewiesen ist.

Der Senat kann auch im vorliegenden Fall durchaus nachvollziehen, dass der Betroffene, also der Kläger annimmt, bei ihm seien die Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 3 Ziff. 2 BayBlindG ohne weiteres gegeben, nachdem ein (Einzel-)GdB von 100 für die Sehminderung festgestellt worden ist. Aufgrund der fehlenden spezialgesetzlichen Regelung (im BayBlindG), der gesetzlichen Systematik und der Rechtsprechung zu den Rechtswirkungen von Einzel-GdB sieht er sich wie eben dargelegt aber daran gehindert, hier zu einer anderen Auslegung und damit zu einem anderen Ergebnis zu kommen.

Der Senat sieht keinen Anlass, diese Rechtsprechung aufzugeben. Die Ausführungen der Klägerseite überzeugen - auch im Hinblick auf das Merkzeichen H - nicht, da § 152 Abs. 1, 4 und 5 SGB IX keine Bindungswirkung im o.g. Sinne anordnet. Die Feststellung bzw. der Ausweis in § 152 Abs. 5 SGB IX hat lediglich deklaratorische Wirkung und Beweisfunktion (vgl. z.B. Kossens in: ders./von der Heide/Maaß, SGB IX mit BGG, 5. Aufl. 2023, § 152 SGB IX, Rn. 61). Er dient gegenüber Behörden und dem Arbeitgeber dem Nachweis der Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch bzw. als behinderter Mensch, für den die gesundheitlichen Voraussetzungen von Merkzeichen festgestellt worden sind. Darin erschöpft sich jedoch die Funktion einer Bindung etc. Dies gilt sowohl für das Merkzeichen H als auch für den festgestellten GdB von 100.

Grundlage für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen H sind § 152 Abs. 4 SGB IX in der zum 01.01.2018 in Kraft getretenen Neufassung durch das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz, BGBl. I 2016, 3234 ff.; zuvor: § 69 Abs. 4 SGB IX a.F.) i.V.m. § 33b Abs. 3 Satz 3, Abs. 6 Satz 1 Einkommenssteuergesetz (EStG) in der Fassung vom 26. Juni 2013 und § 3 Abs. 1 Nr. 2 der Schwerbehinderten-Ausweis-verordnung (SchwbAwV). Gemäß § 33b Abs. 6 Satz 3 EStG ist eine Person hilflos im Sinne dieser Regelungen, wenn sie für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf. Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu den in Satz 3 dieser Vorschrift genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist (§ 33b Abs. 6 S. 4 EStG). Dieser Begriff der Hilflosigkeit geht auf Umschreibungen zurück, die von der Rechtsprechung des BSG im Schwerbehindertenrecht bezüglich der steuerlichen Vergünstigung und im Versorgungsrecht hinsichtlich der gleich lautenden Voraussetzungen für die Pflegezulage nach § 35 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) entwickelt worden sind (vgl. hierzu z.B. den Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen vom 16.11.2022 - L 13 SB 120/21); dabei hat sich der Gesetzgeber bewusst nicht an den Begriff der Pflegebedürftigkeit im Sinne der §§ 14, 15 Sozialgesetzbuch Elftes Buch angelehnt (vgl. die Urteile des BSG vom 12.02.2003 - B 9 SB 1/02 R - und vom 24.11.2005 - B 9a SB 1/05 R.).

Verbindlich festgestellt werden damit nur die eben genannten Tatbestandsvoraussetzungen für das Merkzeichen H, nicht jedoch die zugrundeliegenden Gesundheitsstörungen. Der Kläger kann vorliegend also geltend machen, es sei festgestellt, dass er für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf. Dass dies aufgrund hochgradiger Sehbehinderung so ist, kann er jedoch gegenüber dem Beklagten als Leistungsträger des BayBlindG nicht geltend machen. Dass nach Teil A Nr. 4 lit. e) aa) VG bei hochgradiger Sehbehinderung stets die Voraussetzungen für das Vorliegen von Hilflosigkeit erfüllt sind, ändert hieran nichts, weil es nicht um die Voraussetzungen des konkreten Falls zur Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens H geht, sondern um die Beweisfunktion der Feststellung; diese erstreckt sich jedoch nicht auf die zugrundeliegenden medizinischen Gegebenheiten im Einzelfall. Es ist eben gerade nicht so, dass beim Vorliegen des Merkzeichens H stets und alternativlos eine hochgradige Sehbehinderung gegeben wäre.

Entsprechendes gilt für die Bindung an den festgestellten GdB. Hier beschränkt sich die Bindung auf die festgestellte GdB-Höhe (§ 152 Abs. 5 SGB IX) (vgl. hierzu bereits oben).

Auf die Berufung waren somit - jeweils im angegebenen Umfang - das erstinstanzliche Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen. Im Übrigen war die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass im Endergebnis überwiegend der Kläger erfolgreich gewesen ist.

Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG). Hinsichtlich der Auslegung der Tatbestandsvoraussetzungen von Art. 1 Abs. 3 BayBlindG (bzgl. von Bindungswirkungen o.ä.) handelt es sich jedenfalls um nicht klärungsfähige Rechtsfragen (s. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/ders., SGG, 14. Aufl. 2023, § 160, Rn. 9c).

 

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Aus
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