L 2 U 184/23

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 40 U 577/21
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 184/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Ob ein innerhalb der Berufungsfrist eingereichter, erst nach Ablauf dieser Frist verbeschiedener Prozesskostenhilfeantrag in einem gemäß § 183 SGG gerichtskostenfreien Verfahren ohne Anwaltszwang ein der rechtzeitigen Berufungseinlegung entgegenstehendes Hindernis im Sinne des § 67 Abs. 1 SGG darstellen kann, ist fraglich. (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 12.04.2023, OVG 6 M 25/23).
2. Voraussetzung dafür, dass bei der isolierten Beantragung von PKH für ein Klage- oder Berufungsverfahren ein unverschuldeter Hinderungsgrund, rechtzeitig Klage oder Berufung einzulegen, gegeben ist, ist jedenfalls, dass der PKH-Antrag innerhalb der Klage- oder Berufungsfrist vollständig und damit verbescheidungsfähig gestellt worden ist, was voraussetzt, dass die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse mit dem dafür vorgeschriebenen Formular abgegeben wird.

 

I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 12.01.2023 wird als unzulässig verworfen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.


T a t b e s t a n d :

Streitig ist, ob die Beklagte dem Kläger ein persönliches Budget aufgrund eines anerkannten Arbeitsunfalls vom 30.04.2002 zu gewähren hat.

Der Kläger ist im Jahr 1956 geboren; seit dem 01.09.2018 bezieht er Rente wegen voller Erwerbsminderung.

Am 30.04.2002 rutschte er bei Fensterputzarbeiten auf einem Eisengitter aus. Dieses Ereignis ist von der Beklagten als Arbeitsunfall anerkannt worden; Verletztenrente wird nicht gewährt.

Mit Bescheid vom 29.10.2021 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass er, wie bereits mehrfach ausgeführt, keinen Anspruch auf laufende Geldleistungen habe und somit ein Anspruch auf ein persönliches Budget, welches laufende Geldleistungen zum Inhalt haben solle, nicht bestehe.

Den dagegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 08.12.2021 zurück.

Die vom Kläger anschließend eingelegte Klage ist mit Gerichtsbescheid des SG München vom 12.01.2023 (Aktenzeichen: S 40 U 577/21) abgewiesen worden. Der Gerichtsbescheid ist dem Kläger am 17.01.2023 mit Postzustellungsurkunde zugestellt worden.

Am 08.02.2023 ist beim Bayer. Landessozialgericht (LSG) ein Telefax des Klägers vom 08.02.2023 mit dem Betreff "Beschluss des Sozialgerichtes München AZ: S 40 U 577/21 vom 13.01.2023" und folgendem Inhalt eingegangen:
"Ich beantrage gegen Urteil des Sozialgerichtes München AZ: S 40 U 577/21 vom 13.01.2023
Prozesskostenhilfe zu bewilligen
Der Antrag auf PKH erfolgt zunächst fristwahrend. Zur Begründung des Antrages werde ich in einem separaten Schreiben vortragen.
Bitte um die Absendung der entsprechenden Unterlagen über meiner persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu ausfühlen und dem Gericht präsentieren zu lassen."
Dieses Verfahren ist unter dem Aktenzeichen L 2 U 42/23 PKH geführt worden.

Parallel dazu hat der Kläger zwei weitere Verfahren beim Bayer. LSG anhängig gemacht, und zwar
*  eine am 25.01.2023 eingelegte Berufung gegen den Gerichtsbescheid des SG München vom 12.01.2023, S 40 U 647/19 (Aktenzeichen des Bayer. LSG: L 2 U 27/23):
In diesem Verfahren hat der Kläger am 25.01.2023 Prozesskostenhilfe (PKH) beantragt und erklärt: "Den Vordruck Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse lege ich ausgefüllt und mit Belegen versehen dem Antrag separat bei." Der Vordruck hat jedoch nicht beigelegen. U.a. hat der Kläger am 25.02.2023 um Verlängerung des Termins zur Berufungsbegründung um einen Monat bis zum 31.03.2023 wegen seines "sehr schlechten Gesundheitszustandes" und zudem um Übersendung des Vordrucks der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse gebeten.
*  einen am 08.02.2023 gestellten isolierten PKH-Antrag gegen den Gerichtsbescheid des SG München vom 30.01.2023, S 40 U 433/22 (Aktenzeichen des Bayer. LSG: L 2 U 43/23 PKH):
In diesem Verfahren hat der Kläger weitgehend identisch wie im Verfahren L 2 U 42/23 PKH vorgetragen.

In der Eingangsbestätigung des Gerichts vom 14.02.2023 ist der Kläger gebeten worden, die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse binnen eines Monats vorzulegen.

Mit gerichtlichem Schreiben vom 08.03.2023 ist der Kläger, nachdem er die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht abgegeben hatte, aufgefordert worden, diese Erklärung bis spätestens 31.03.2023 an das Gericht zu senden.

Dazu hat der Kläger mit Schreiben vom 25.03.2023 um Fristverlängerung bis zum 30.04.2023 gebeten und dies mit einer Verschlechterung seines Gesundheitszustandes begründet.

Die beantragte Fristverlängerung bis zum 30.04.2023 ist ihm mit gerichtlichem Schreiben vom 04.04.2023 genehmigt worden. Nachdem auch diese Frist ergebnislos verstrichen war, ist dem Kläger mit Schreiben vom 04.05.2023 nochmals eine letztmalige Frist bis zum 25.05.2023 gesetzt worden.

Mit Eingang am 09.05.2023 hat der Kläger die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vorgelegt.

Mit Beschluss vom 05.07.2023 hat der Senat den Antrag auf Bewilligung von PKH für ein Berufungsverfahren gegen den Gerichtsbescheid des SG München 12.01.2023, S 40 U 577/21, abgelehnt und dies mit den fehlenden Erfolgsaussichten begründet. Zugestellt worden ist dieser Beschluss dem Kläger am 14.07.2023 mittels Postzustellungsurkunde.

Mit Schreiben vom 21.07.2023 hat der Kläger Berufung gegen den Gerichtsbescheid des SG München vom 12.01.2023 eingelegt.

Mit einem weiteren Schreiben vom 21.07.2023 hat der Kläger Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gestellt. Zur Begründung seines Wiedereinsetzungsantrags hat er Folgendes vorgetragen: "Da ich wegen der Dauer des Prozesses bei diesem Gericht nicht in der Lage war in der gesetzlichen Frist rechtzeitig die Berufung zu erheben, stelle ich den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 SGG wegen Versäumung der Fristen für die Berufungserhebung."

Mit richterlichem Schreiben vom 08.08.2023 ist der Kläger darauf hingewiesen worden, dass zwar grundsätzlich davon ausgegangen werden könne, dass bei Beantragung von PKH für das Berufungsverfahren bis zur Entscheidung über den PKH-Antrag ein vom Antragsteller unverschuldetes Hindernis zur Berufungseinlegung bestehe. Dies setze aber nach einheitlicher Rechtsprechung aller obersten Gerichtshöfe des Bundes voraus, dass innerhalb der Rechtsmittelfrist der Antrag auf PKH so gestellt werde, dass darüber entschieden werden könne; insbesondere sei innerhalb der Rechtsmittelfrist auch die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse einzureichen. Aber selbst dann, wenn von einer Zulässigkeit der Berufung ausgegangen würde, bestünden für die Berufung keine Erfolgsaussichten, wie sich auch aus dem PKH-Beschluss vom 05.07.2023 ergebe.

Der Kläger beantragt,
ihm Wiedereinsetzung für die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des SG München vom 12.01.2023 zu bewilligen, den Gerichtsbescheid des SG München vom 12.01.2023 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 12.10.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.12.2021 zu verurteilen, ihm für die Zeit vom 19.11.2019 bis zum 02.12.2019 zur ambulanten medizinischen Rehabilitation die Geldleistungen in Form eines persönlichen Budgets zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise zurückzuweisen.

Beigezogen worden sind die Akte des SG sowie die Verwaltungsakte der Beklagten. Vorgelegen haben sämtliche Akten des Senats zu aktuellen Verfahren des Klägers (L 2 U 27/23, L 2 U 42/23 PKH, L 2 U 43/23 PKH, L 2 U 184/23, L 2 U 185/23). Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt dieser Akten, die allesamt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die Berufung ist unzulässig.

Der Kläger hat gegen den Gerichtsbescheid vom 12.01.2023 erst nach Ablauf der Berufungsfrist Berufung eingelegt (dazu s. unten Ziff. 1). Wiedereinsetzung wegen Versäumung der Berufungsfrist ist ihm nicht zu gewähren (dazu s. unten Ziff. 2).

1. Berufung verfristet

Der Kläger hat seine Berufung erst nach Ablauf der Berufungsfrist eingelegt.

Gemäß § 151 Abs. 1 SGG ist die Berufung beim LSG bei Zustellung der angefochtenen Entscheidung im Inland innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Die Berufungsfrist ist gemäß § 151 Abs. 2 SGG auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist beim SG schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der dortigen Geschäftsstelle eingelegt wird. Unter den Voraussetzungen des § 65a SGG ist auch eine Einlegung der Berufung in elektronischer Form möglich.

Gemäß § 64 Abs. 1 SGG beginnt die Berufungsfrist mit der Zustellung der erstinstanzlichen Entscheidung zu laufen. Voraussetzung für einen Fristbeginn ist gemäß § 66 Abs. 1 SGG, dass der Beteiligte über das mögliche Rechtsmittel, das Gericht, bei dem der Rechtsbehelf anzubringen ist, seinen Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich belehrt worden ist. Die Zustellung hat gemäß § 63 Abs. 2 Satz 1 SGG nach den Bestimmungen der Zivilprozessordnung (ZPO) zu erfolgen. Bei einem anwaltlichen Bevollmächtigten kann die Zustellung gemäß § 174 Abs. 1 ZPO gegen Empfangsbekenntnis erfolgen.

Nach § 64 Abs. 2 Satz 1 SGG endet die einmonatige Berufungsfrist mit dem Ablauf desjenigen Tages des nächsten Monats, welcher nach der Zahl dem Tag entspricht, an dem die Zustellung erfolgt ist. Fehlt dem letzten Monat der entsprechende Tag, so endet die Frist gemäß § 64 Abs. 2 Satz 2 SGG mit dem Monat. Fällt das Ende einer Frist auf einen Sonntag, einen gesetzlichen Feiertag oder einen Samstag, so endet die Frist gemäß § 64 Abs. 3 SGG mit Ablauf des nächsten Werktags.

Im vorliegenden Fall ist die Zustellung des mit einer ordnungsgemäßen Rechtsmittelbelehrung versehenen Gerichtsbescheides vom 12.01.2023 an den Kläger laut Postzustellungsurkunde am 17.01.2023 erfolgt. Der Kläger hätte damit - gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 SGG - bis zum 17.02.2023 (Freitag), 24:00 Uhr, Zeit gehabt, mit Einlegung der Berufung beim SG oder LSG die Berufungsfrist zu wahren.

Bis zum Ablauf des 17.02.2023 hat der Kläger keine Berufung eingelegt:
* Sein isolierter PKH-Antrag vom 08.02.2023 beinhaltet keine Berufungseinlegung. Der durchaus prozesserfahrene Kläger (zahlreiche Verfahren vor dem SG München und dem Bayer. LSG) hat in diesem Schreiben ausschließlich PKH beantragt, nicht aber Berufung eingelegt, auch nicht unter der Bedingung der Bewilligung oder Entscheidung über PKH. Dass der Kläger insofern durchaus zwischen Berufung und isoliertem Antrag auf PKH zu unterscheiden weiß, ergibt sich zum einen daraus, dass er im Verfahren L 2 U 185/23 - wie hier - zunächst einen isolierten Antrag auf PKH und dann - ebenfalls wie hier - Berufung eingelegt und dafür die Wiedereinsetzung beantragt hat, im Verfahren L 2 U 27/23 hingegen zunächst Berufung und erst später PKH beantragt hat, also sich der unterschiedlichen Vorgehensweisen durchaus bewusst war. Zum anderen zeigt auch der zeitgleich mit der Berufungseinlegung gestellte Antrag auf Wiedereinsetzung und dessen Begründung mit der für das PKH-Verfahren verstrichenen Zeit, dass der Kläger bewusst mit dem Schreiben vom 08.02.2023 keine Berufung erheben wollte.
* Ein - wie hier - isoliert gestellter PKH-Antrag kann auch nicht als Einlegung der Berufung ausgelegt werden (vgl. Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 07.09.2017, B 10 ÜG 1/17 R); mit einem isoliert gestellten PKH-Antrag wird noch nicht das damit beabsichtigte Hauptsacheverfahren anhängig (vgl. BSG, Beschluss vom 07.04.2021, B 5 R 1/21 BH).
* Die Berufungseinlegung mit Schriftsatz vom 21.07.2023 ist erst nach Ablauf der Berufungsfrist erfolgt.

2. Keine Wiedereinsetzung

Der Kläger hat mit Schreiben vom 21.07.2023 unter Hinweis auf seinen mit Beschluss des Senats vom 05.07.2023 abgelehnten PKH-Antrag die Wiedereinsetzung beantragt und dies damit begründet, dass er "wegen der Dauer des Prozesses bei diesem Gericht nicht in der Lage war in der gesetzlichen Frist rechtzeitig die Berufung zu erheben". Dieser Antrag kann nur so verstanden werden, dass der Kläger die Wiedereinsetzung deshalb begehrt, weil es ihm vor der Entscheidung des Senats über den PKH-Antrag nicht möglich gewesen sei, Berufung einzulegen.

Dem Kläger ist jedoch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 67 SGG i.V.m. § 153 Abs. 1 SGG zu gewähren, weil ein Wiedereinsetzungsgrund nicht glaubhaft gemacht ist.

§ 67 SGG sieht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vor, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten, sofern der Antrag binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses gestellt und die Tatsachen zur Begründung des Antrags glaubhaft gemacht worden sind sowie innerhalb der Antragsfrist die versäumte Rechtshandlung nachgeholt worden ist. Bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 67 Abs. 2 Satz 3 SGG ist auch eine Wiedereinsetzung von Amts wegen möglich (§ 67 Abs. 2 Satz 4 SGG). Darüber hinaus darf seit dem Ende der versäumten Frist nicht bereits ein Jahr vergangen sein, außer wenn der Antrag auf Wiedereinsetzung vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich gewesen ist (§ 67 Abs. 3 SGG).

Verschulden bedeutet gemäß § 276 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch Vorsatz oder Fahrlässigkeit. Von fehlendem Verschulden betreffend die Fristeinhaltung ist daher dann auszugehen, wenn der Beteiligte hinsichtlich der Wahrung der Frist diejenige Sorgfalt nicht außer Acht gelassen hat, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgerecht wahrnehmenden Prozessführenden im Hinblick auf die Fristwahrung geboten und ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falls zuzumuten ist (vgl. BSG, Urteil vom 27.05.2008, B 2 U 5/07 R). Dabei ist im sozialgerichtlichen Verfahren als Sorgfaltsmaßstab - anders als im zivilgerichtlichen Verfahren (dort: objektiver Maßstab - vgl. Greger, in: Zöller, ZPO, 34. Aufl. 2022, § 233, Rdnr. 12; Bundespatentgericht München, Beschluss vom 11.10.2016, 27 W (pat) 554/16; Bundesgerichtshof - BGH -, Beschluss vom 03.11.1971, IV ZB 43/71) - ein subjektiver, auf die Person des Antragstellenden bezogener Maßstab anzulegen, bei dem insbesondere dessen Erkenntnisvermögen (Geisteszustand, Alter, Bildungsgrad, Geschäftsgewandtheit, Rechtserfahrenheit) zu berücksichtigen ist (vgl. BSG, Urteile vom 15.08.2000, B 9 VG 1/99 R, und vom 02.02.2006, B 10 EG 9/05; Senger, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl. Stand: 21.12.2023, § 67, Rdnr. 28; Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 67, Rdnr. 3).

Nach rechtswegübergreifender höchstrichterlicher Rechtsprechung kann bei der isolierten Beantragung von PKH für einen Rechtsbehelf ein unverschuldeter Hinderungsgrund gegeben sein, rechtzeitig den Rechtsbehelf einzulegen.

Ob dies auch für den Bereich erst- und zweitinstanzlicher gerichtskostenfreier sozialgerichtlicher Verfahren überzeugt, kann mit guten Gründen in Frage gestellt werden. Denn anders als bei (regelmäßig gerichtskostenpflichtigen) Verfahren der anderen Gerichtszweige oder nach § 197a Abs. 1 SGG gerichtskostenpflichtigen sozialgerichtlichen Verfahren bzw. dem Anwaltszwang unterliegenden sozialgerichtlichen Verfahren vor dem BSG ist für die vorgenannten sozialgerichtlichen Verfahren (Verfahren nach § 183 SGG vor den Sozial- und Landessozialgerichten) nicht erkennbar, warum es das aus Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgrundsatz, der in Art. 20 Abs. 3 GG allgemein niedergelegt ist und für den Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt in Art. 19 Abs. 4 GG seinen besonderen Ausdruck findet, resultierende Gebot einer Rechtsschutzgleichheit von unbemittelten und bemittelten Beteiligten (ständige Rspr. des Bundesverfassungsgerichts, z.B. Beschlüsse vom 22.01.1959, 1 BvR 154/55, vom 02.07.2012, 2 BvR 2377/10, und vom 30.10.2023, 1 BvR 687/22) gebieten sollte, einem unbemittelten Kläger die Durchführung eines der Einlegung des Rechtsmittels selbst vorausgehenden (isolierten) PKH-Verfahrens zu ermöglichen und damit einen Wiedereinsetzungsgrund für die versäumte Rechtsmittelfrist zu verschaffen. Denn die Einleitung eines sozialgerichtlichen Verfahrens nach § 183 SGG in der ersten und zweiten Instanz zieht, anders als die (regelmäßig gerichtskostenpflichtigen) Verfahren in den anderen Gerichtszweigen oder Verfahren vor dem BSG, weder Gerichtskosten - wegen der Gerichtskostenfreiheit nach § 183 SGG - noch Anwaltskosten - wegen des fehlenden Anwaltszwangs - nach sich. Insofern ist unter dem Gesichtspunkt des Gebots der Rechtsschutzgleichheit nicht ersichtlich, warum einem (bedürftigen) sozialgerichtlichen Kläger vor Einlegung des Rechtsmittels zur Vermeidung eines für ihn wegen seiner Bedürftigkeit unzumutbaren Kostenrisikos fristenunschädlich ermöglicht werden sollte, sich über das Verfahren der PKH eine erste Einschätzung darüber zu verschaffen, ob die Einlegung des Rechtsbehelfs Erfolgsaussichten hat - denn ein solches Kostenrisiko gibt es gerade nicht. Diesen Gesichtspunkt berücksichtigt das BSG nicht, wenn es im Urteil vom 13.10.1992, 4 RA 36/92, zur Begründung, warum die Durchführung des Verfahrens über einen isolierten PKH-Antrag einen Wiedereinsetzungsgrund darstelle, Folgendes ausführt: "Wollte man - wie das LSG - dem bedürftigen Beteiligten ansinnen, er solle vorsichtshalber innerhalb der Berufungsfrist auf eigene Kosten Berufung einlegen, würden die Vorschriften über die Prozeßkostenhilfe ausgehöhlt, weil man den Mittellosen zwänge, sich bereits vor einer Entscheidung über das Prozeßkostenhilfegesuch die Mittel für die Beauftragung eines Rechtsanwalt zu besorgen." Das BSG würdigt dabei nicht die wesentlichen Unterschiede zwischen sozialgerichtlichen gerichtskostenfreien Verfahren erster und zweiter Instanz einerseits und den (regelmäßig gerichtskostenpflichtigen) Verfahren der anderen Gerichtszweige und Verfahren vor dem BSG andererseits. Auch übersieht es, dass ein Mittelloser im gerichtskostenfreien sozialgerichtlichen Verfahren erster und zweiter Instanz ohne irgendein Kostenrisiko das Rechtsmittel ohne Anwalt einlegen kann und dann im laufenden Verfahren - wiederum ohne kostenverursachend einen Anwalt zu beauftragen - PKH beantragen kann, also unter Kostengesichtspunkten keinerlei Unterschiede bestehen, ob zunächst isoliert PKH beantragt wird und anschließend das Rechtsmittel samt Wiedereinsetzungsantrag eingelegt wird oder gleich zu Beginn das Rechtsmittel, ggf. verbunden mit einem Antrag auf PKH, erhoben wird. Genau aus diesen Gründen sieht daher auch die obergerichtliche Rechtsprechung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in einem innerhalb der Klagefrist eingereichten, aber erst nach Ablauf dieser Frist verbeschiedenen PKH-Antrag in gemäß § 188 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) gerichtskostenfreien Verfahren ohne Anwaltszwang, wie sie den sozialgerichtlichen Verfahren nach § 183 SGG erster und zweiter Instanz entsprechen, kein der Klageerhebung entgegenstehendes Hindernis im Sinne des § 60 Abs. 1 VwGO, also keinen Wiedereinsetzungsgrund (vgl. Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 12.04.2023, OVG 6 M 25/23 - m.w.N.).

Selbst wenn der Senat der nicht überzeugenden Rechtsprechung des BSG folgt, ist jedenfalls vorliegend dem Antrag auf Wiedereinsetzung nicht stattzugeben.

Voraussetzung dafür, dass bei der isolierten Beantragung von PKH für ein Klage- oder Berufungsverfahren ein unverschuldeter Hinderungsgrund, rechtzeitig Klage oder Berufung einzulegen, gegeben ist, ist, dass der PKH-Antrag innerhalb der Klage- oder Berufungsfrist vollständig und damit verbescheidungsfähig gestellt worden ist (vgl. BSG, Urteile vom 13.10.1992, 4 RA 36/92, und vom 07.09.2017, B 10 ÜG 1/17 R; BGH, Beschluss vom 13.01.1993, XII ZA 21/92; Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 15.10.1997, 11 PKH 11/97; Bundesfinanzhof, Beschluss vom 09.04.2013, III B 247/11). Dies setzt insbesondere voraus, dass innerhalb der Klage- oder Berufungsfrist die vollständige, nach § 117 Abs. 3 und 4 ZPO auf dem dafür vorgeschriebenen Formular abzugebende Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vom Kläger vorgelegt wird, was für jede Instanz gilt, also auch dann, wenn im erstinstanzlichen Verfahren die Erklärung schon einmal abgegeben worden ist, weil PKH für jeden Rechtszug gesondert bewilligt wird (vgl. BGH, Beschluss vom 13.01.1993, XII ZA 21/92).

2.1. Keine Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist

Eine Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist scheitert daran, dass der Kläger in der Berufungsfrist die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht vorgelegt hat.

Ein vollständiger PKH-Antrag für ein Berufungsverfahren gegen den Gerichtsbescheid vom 12.01.2023 hat erst am 09.05.2023 - an diesem Tag ist die Erklärung des Klägers über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse von ihm abgesandt worden und ist bei Gericht eingegangen - und damit weit nach Ablauf der Berufungsfrist am 17.02.2023 vorgelegen.

2.2. Keine Wiedereinsetzung in die für die Vorlage der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu beachtende Frist

Dass der Kläger unverschuldet nicht in der Lage gewesen wäre, die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse innerhalb der Berufungsfrist vorzulegen, und deshalb nach den Regelungen zur Wiedereinsetzung auch eine nach Ablauf der Berufungsfrist erfolgte Vorlage der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse unschädlich wäre, also ihm zunächst Wiedereinsetzung in die für die Vorlage der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu gewähren wäre, ist nicht ersichtlich, geschweige denn glaubhaft gemacht:
* Der Kläger hat schon gar nicht vorgetragen, dass es ihm bis zum Ablauf des 17.02.2023, also der Berufungsfrist, innerhalb derer er die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse hätte vorlegen müssen, unmöglich gewesen wäre, diese Erklärung vorzulegen.
* Weder aus der gerichtlichen Eingangsbestätigung vom 14.02.2023, mit der der Kläger um Vorlage der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse "binnen eines Monats" gebeten worden war, noch aus den gerichtlichen Schreiben vom 08.03.2023, 04.04.2023 und 04.05.2023, mit denen dem Kläger jeweils eine Fristverlängerung zur Vorlage der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zugesagt worden war, ergibt sich ein Wiedereinsetzungsgrund. Zwar würde sich aus der Eingangsbestätigung vom 14.02.2023 ein Wiedereinsetzungsgrund ergeben, wenn die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse "binnen eines Monats" nach diesem Schreiben vorgelegt worden wäre; denn der Kläger hätte den Eindruck haben dürfen, die Vorlage der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse müsse erst binnen eines Monats ab dem gerichtlichen Schreiben und nicht schon während der Berufungsfrist vorgelegt werden. Perpetuiert worden ist dieser potentielle Irrtum des Klägers über die einzuhaltende Frist für die Vorlage der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse durch das gerichtliche Schreiben vom 08.03.2023, mit dem ihm aufgegeben worden war, die Erklärung "bis spätestens 31.03.2023" vorzulegen. Tatsächlich hat der Kläger aber auch diese Frist nicht eingehalten, sondern erst deutlich später, nämlich am 09.05.2023, die Erklärung vorgelegt. Aus den gerichtlichen Schreiben vom 04.04.2023 und 04.05.2023 kann sich in diesem Zusammenhang kein Wiedereinsetzungsgrund ergeben, weil bei deren Abfassung bereits die Berufungsfrist und ebenfalls die sich aus der Eingangsbestätigung vom 14.02.2023 und dem nachfolgenden Schreiben vom 08.03.2023 ergebende und einen Wiedereinsetzungsgrund eröffnende Frist (bis zum 31.03.2023) abgelaufen war; ein späterer, erst nach Ablauf der Frist erweckter (unrichtiger) Anschein, dass die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse noch (im Sinne eines Wiedereinsetzungsgrunds) fristwahrend vorgelegt werden könne, kann hingegen keine Wiedereinsetzung eröffnen.
* Sofern der Kläger im Schreiben vom 25.03.2023 angegeben hat, "wegen meiner Verschlechterung Gesundheitszustands bin ich nicht in der Lage bis 31.03.2023 die Klagebegründung und Vordrucken über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse abzugeben", ist auch damit nicht glaubhaft gemacht, dass der Kläger unverschuldet an der Vorlage der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen gehindert gewesen wäre. Irgendwie substantiiert hat der Kläger diesen Vortrag nicht, zumal er noch am 25.02.2023 - im Verfahren L 2 U 27/23 - in der Lage gewesen ist, ein Schreiben an das Gericht zu verfassen.
* Wie die Schreiben des Klägers vom 08.02.2023, 25.02.2023 und 25.03.2023 zeigen, war der Kläger sehr wohl in der Lage, sich um seine sozialgerichtlichen Verfahren mit der Beklagten zu kümmern; er hätte daher zur Überzeugung des Senats auch die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse fristgerecht vorlegen können.
* Aber selbst dann, wenn der Kläger - was nicht nachgewiesen ist - aus gesundheitlichen Gründen nur noch in der Lage gewesen wäre, einfache Schreiben an das Gericht zu schicken, nicht aber das Formular für die Erklärung über die persönlichen Verhältnisse selbst auszufüllen, wäre eine Wiedereinsetzung nicht möglich. Denn in einem solchen Fall wäre die Versäumung der Frist deshalb verschuldet, weil der Kläger sich nicht der Hilfe eines Dritten bedient hätte, die fristgebundene Vorlage der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse rechtzeitig bei Gericht abzugeben. Dass ihm dies nicht möglich gewesen wäre, ist weder vorgetragen noch ansatzweise ersichtlich.

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 67 SGG ist dem Kläger somit weder wegen Versäumung der Berufungsfrist noch wegen Versäumung der rechtzeitigen Vorlage der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu gewähren.

Da der Kläger die Berufungsfrist versäumt hat und ihm keine Wiedereinsetzung zu gewähren ist, ist die Berufung als unzulässig zu verwerfen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
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