S 17 KA 319/21 und S 17 KA 320/21

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 17 KA 319/21
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze


1. Mit der Prävalenzprüfung, bei der der Beklagte zur Ermittlung einer Praxisbesonderheit das Verhältnis der F-Diagnosen nach der PT-Richtlinie zu den abgerechneten GOP 35100 EBM bildet und dieses mit der Prüfgruppe vergleicht, sind Unschärfen verbunden, die bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen sind.

2. Eine Vergleichbarkeit mit der Prüfgruppe kann nur hergestellt werden, wenn sowohl die Ermittlung der F-Diagnosen als auch die Abrechnungshäufigkeit der GOP 35100 EBM patientenbezogen erfolgen. 

3. Im Gegensatz zur GOP 35110 EBM, die pro Patien*in vielfach angesetzt werden darf, ist eine Unschärfe der Prävalenz-Betrachtung bei der GOP 35100 EBM nicht zu erwarten, da diese Diagnostikziffer in aller Regel nur zu Beginn des Krankheitsfalles angesetzt werden dürfte. 

4. Die Zielsetzung der psychosomatischen Grundversorgung besteht nach den Vorgaben der Psychotherapie-Richtlinie in einer seelischen Krankenbehandlung, die während der Behandlung von somatischen, funktionellen und psychischen Störungen von Krankheitswert durchgeführt werden kann. Insoweit können funktionelle Störungen von Krankheitswert Anlass für eine diagnostische Abklärung nach der GOP 35100 EBM sein, wenn mit dieser Störung eine seelische Belastung einhergeht.
 


1.    Die Beschlüsse des Beklagten vom 1. Dezember 2021 werden aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

2.    Der Beklagte trägt die Gerichtskosten sowie die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten über Honorarprüfungen betreffend die Quartale I/2015 bis IV/2016 (S 17 KA 319/21) und I/2017 bis IV/2018 (S 17 KA 320/21) wegen eines „offensichtlichen Missverhältnisses" im Vergleich zur Fachgruppe (FG) bei der Gebührenordnungsposition (GOP) 35100 (Differentialdiagnostische Klärung psychosomatischer Krankheitszustände) des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM).

Der Kläger ist Facharzt für Innere Medizin und nimmt an der hausärztlichen Versorgung teil. Seit dem 1. April 1982 ist er in einer Einzelpraxis in A-Stadt niedergelassen. Er verfügt über die Genehmigung für die „Psychosomatische Grundversorgung“.

Die Prüfverfahren wurde durch die Prüfungsstelle der Ärzte und Krankenkassen in Hessen (PS) von Amts wegen eingeleitet. Es wurden folgende Auffälligkeiten festgestellt:
 

Quartal GO-Nr. Anz.-GO-Nr. je 100
Fälle Praxis
Durch. Je Fall-Praxis Anz. –GO- Nr. je 100
Fälle ausf. Praxen
Durch. Je Fall ausf.
Praxen-PG
Abw. In %
2015/1 35100 21 3,32 5 0,86 286,05
2015/2 35100 25 3,98 6 0,88 352,27
2015/3 35100 23 3,58 5 0,84 326,19
2015/4 35100 24 3,75 5 0,84 346,43
2016/1 35100 23 3,67 5 0,82 347,56
2016/2 35100 22 3,60 5 0,85 323,53
2016/3 35100 23 3,63 5 0,81 348,15
2016/4 35100 22 3,59 5 0,80 348,75

 

Quartal GO-Nr. Anz.-GO-Nr. je 100
Fälle Praxis
Durch. Je Fall-Praxis Anz. –GO- Nr. je 100
Fälle ausf. Praxen
Durch. Je Fall ausf.
Praxen-PG
Abw. In %
2017/1 35100 21 3,39 5 0,74 358,11
2017/2 35100 21 3,44 4 0,70 391,43
2017/3 35100 22 3,52 4 0,70 402,86
2017/4 35100 22 3,60 4 0,68 429,41
2018/1 35100 20 3,23 4 0,64 404,69
2018/2 35100 20 3,25 4 0,67 385,07
2018/3 35100 19 3,12 4 0,67 365,67
2018/4 35100 21 3,39 4 0,66 413,64


Mit Schreiben vom 11. Dezember 2017 und 24. Juni 2020 teilte die PS dem Kläger die Überprüfung der Wirtschaftlichkeit hinsichtlich seiner Leistungserbringung bezogen auf die GOP 35100 EBM mit und bat um Mitteilung eventuell bestehender Praxisbesonderheiten und kompensatorischer Einsparungen.

Der Kläger legte daraufhin dar, er habe einen besonderen Schwerpunkt bei jungen Patient*innen in seiner Behandlung. Dies zeige sich bereits in der Abrechnungsfrequenz der EBM-Nr. 03003 (Versichertenpauschale 19. - 54. LJ.) gerade im Verhältnis zu den Versichertenpauschalen für höhere Alterskohorten (EBM-Nrn. 03004 und 03005). Der größte Teil der Patienten sei in der Altersspanne 20 bis 44 Jahre und deutlich überdurchschnittliche Patientenanteile gehörten zur Kategorie der 16- bis 19-Jährigen. Das sei wesentlich auf zwei Umstände zurückzuführen, die sich im Laufe der Praxistätigkeit immer weiter verstärkt hätten: Zum einen lägen im Einzugsgebiet der Praxis Stadtgebiete von A-Stadt mit einer verhältnismäßig jungen Bevölkerungsstruktur (insbesondere Westend und C-Stadt) bei zugleich geringerer Wirtschaftskraft der dortigen Einwohner. Zur Versorgung der Bewohner dieser Stadtgebiete stünden in diesen Bereichen immer weniger Hausärzte zur Verfügung, nachdem Kollegen sich zur Ruhe gesetzt oder ihre Praxen in Medizinische Versorgungszentren an anderen Standorten in A-Stadt eingebracht hätten. Auch der Campus der Hochschule M. (vormals Fachhochschule A-Stadt) befinde sich in Praxisnähe. Zum anderen habe sich im Laufe der Zeit eine Beziehung zwischen seiner Praxis und verschiedenen Organisationen der Jugendhilfe, insbesondere der A-Stadter Jugendwerkstatt GmbH, und entsprechenden Organisationen auch in B-Stadt herausgebildet, die vor allem arbeitslose Jugendliche betreuten. Die Zusammenarbeit sei dabei nicht formalisiert, vielmehr habe sich hier im Wege von Empfehlungen ein inzwischen relativ großer Patientenstamm entwickelt. Es handle sich geradezu regelmäßig um junge Menschen mit als schwierig einzustufendem sozialen Hintergrund und - jedenfalls nach eigener Einschätzung - meist schlechter persönlicher Perspektive für das eigene Leben. Gerade diese jungen Menschen litten unter psychischen bzw. psychosomatischen Erkrankungen, die ihrerseits häufig im Sinne des § 22 der Psychotherapie-Richtlinie durch Somatisierung körperliche Beschwerden verursachten. Diese Patienten stellten sich meist mit Beschwerden wie Rückenschmerzen, Migräne; Kopfschmerzen, Magen- und Darmbeschwerden, Kreislaufstörungen, Schlafstörungen, Konzentrations- und Belastungsstörungen in der Praxis vor, also solchen Beschwerden, bei denen in Ansehung der sozialen Anamnese regelhaft der Verdacht einer psychosomatischen Beteiligung bestehe. Der Verordnungsstatistik könne entnommen werden, dass er in größerem Umfang Antidepressiva, Analgetika und Anxiolytika verordne als die Vergleichsgruppe/Fachgruppe (nachfolgend: FG). Andere Arzneimittelgruppen würden deutlich unter dem Durchschnitt verordnet. Die Diagnosestatistik bestätige ebenfalls deutlich häufigeres Auftreten von psychischen Störungen und Verhaltensstörungen, Verdauungsstörungen, Kreislauf- und Atmungssystemstörungen und Nervensystemstörungen. Schließlich zeige sich anhand der Überweisungsstatistik, dass er in weit überdurchschnittlichem Umfang Patient*innen zur neurologischen, psychiatrischen, gastroenterologischen und orthopädischen Weiterbehandlung überweise; dies korreliere mit den beschriebenen Diagnosen. Schließlich komme es aufgrund der obigen Erkrankungen auch in erhöhtem Maße zu Arbeitsunfähigkeiten der betroffenen Patient*innen.

Die PS nahm Prävalenzprüfungen für alle zu prüfenden Quartale vor. Dabei wurden entsprechend § 22 der Psychotherapie-RL des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) die Indikationen für die psychosomatische Grundversorgung mit den ICD-10 Verschlüsselungen (F-Diagnosen) pro Quartal geprüft. Die PS stellte fest, dass in diesem Bereich zwischen 40 und 49 verschiedene ICD-Verschlüsselungen angesetzt worden waren. Es ergaben sich Überschreitungen gegenüber der FG in Höhe von 322% bis 629%:
 

Indikation für psychosomatische Grundversorgung gem.
§ 22 der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (a.F.)
Praxis Prüfgruppe Ermitteltes „Mehr“ als Prävalenz
ICD Prävalenz Quartal I/2015 155,9660  23,7460 557%
ICD Prävalenz Quartal II/2015 153,2244 25,0127 513%
ICD Prävalenz Quartal III/2015 156,1134 21,4119 629%
ICD Prävalenz Quartal IV/2015 156,4789 24,5993 536%
       
ICD Prävalenz Quartal I/2016 152,8054 26,8290 470%
ICD Prävalenz Quartal II/2016 162,7336 27,5474 491%
ICD Prävalenz Quartal III/2016 163,9828 26,4037 521%
ICD Prävalenz Quartal IV/2016 160,8232 28,5515 463%
Indikation für psychosomatische Grundversorgung gem.
§ 26 Abs. 1 der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (a.F.)
Praxis Prüfgruppe Ermitteltes "Mehr" als Prävelenz
ICD Prävalenz Quartal I/2017 168,1224 39,8848 475
ICD Prävalenz Quartal II/2017 184,0336 31,1289 491
ICD Prävalenz Quartal III/2017 176,0591 31,3922 461
ICD Prävalenz Quartal IV/2017 179,6463 31,2891 474
       
ICD Prävalenz Quartal I/2018 172,922 30,093 475
ICD Prävalenz Quartal II/2018 182,0967 31,7434 474
ICD Prävalenz Quartal III/2018 178,1392 31,6212 463
ICD Prävalenz Quartal IV/2018 180,0686 32,0288 462

                      
Mit Bescheiden vom 28. November 2018 und 27. Oktober 2020 stellte die PS zwar aufgrund des überdurchschnittlichen Ansatzes von F-Diagnosen Praxisbesonderheiten fest, kam jedoch zu dem Schluss, dass die erhöhten Prävalenzen bei den ICD-10-Codierungen nicht vollständig anerkannt werden könnten. Aufgrund von Studien sei ersichtlich, dass z.B. somatoforme Störungen in Allgemeinarztpraxen lediglich zwischen 16% bis 31% (laut dem Deutschen Ärzteblatt 2009) vorkämen. Zudem sei der enorm hohe Anteil an Diagnosen wie z.B. Gastritis, Rückenschmerzen oder orthostatistischer Hypotonie (ca. 80% in der Praxis des Klägers) oder 70% Kopfschmerzpatienten beim Ansatz der GOP 35100 EBM nicht erklärbar. Oft seien auch unterschiedliche F-Diagnosen als Akut- und Dauerdiagnosen mehrfach codiert worden. Da aber jeder Ansatz der Codierung zähle, werde die Prävalenzstatistik verfälscht. 

Die PS erkannte pauschal +100% zum Fachgruppendurchschnitt als Praxisbesonderheit an und regressierte den verbleibenden Überschreitungsbetrag in Höhe von 14.247,32€ netto und 18.874,04€ netto. 
Die Brutto-Honorarkürzungen für die GOP 35100 EBM wurden wie folgt festgesetzt: 

1,34 € je Fall x 1.907 Fälle = 2.555,38 € für das 2. Quartal 2015
1,06 € je Fall x 1.832 Fälle = 1.941,92 € für das 3. Quartal 2015
1,23 € je Fall x 1.829 Fälle = 2.249,67 € für das 4. Quartal 2015
1,21 € je Fall x 1.871 Fälle = 2.236,91 € für das 1. Quartal 2016
1,05 € je Fall x 1.822 Fälle = 1.913,10 € für das 2. Quartal 2016
1,20 € je Fall x 1.652 Fälle = 1.982,40 € für das 3. Quartal 2016
1,19 € je Fall x 1.774 Fälle = 2.111,06 € für das 4. Quartal 2016
     
1,17 € je Fall x 1.919 Fälle = 2.555,38 € für das 1. Quartal 2017
1,34 € je Fall x 1.760 Fälle = 1.941,92 € für das 2. Quartal 2017
1,42 € je Fall x 1.771 Fälle = 2.249,67 € für das 3. Quartal 2017
1,56 € je Fall x 1.754 Fälle = 2.236,91 € für das 4. Quartal 2017
1,31 € je Fall x 1.913 Fälle = 1.913,10 € für das 1. Quartal 2018
1,24 € je Fall x 1.765 Fälle = 1.982,40 € für das 2. Quartal 2018
1,11 € je Fall x 1.784 Fälle = 2.111,06 € für das 3. Quartal 2018
1,41 € je Fall x 1.746 Fälle = 2.111,06 € für das 4. Quartal 2018


Mit Schreiben vom 21. November 2018 und 26. November 2020 legte der Kläger jeweils fristgerecht Widerspruch gegen die Bescheide der PS ein.  

Der Beklagte wies die Widersprüche mit zwei Beschlüssen, jeweils vom 1. Dezember 2021 zurück. Nach den Überprüfungen der PS liege ein offensichtliches Missverhältnis im Vergleich zu den Durchschnittswerten der FG der Allgemeinärzte/hausärztlich tätigen Internisten bei der GOP 35100 EBM vor. Der Vergleich sei nur mit denjenigen Praxen der Vergleichsgruppe, die diese Leistung auch tatsächlich selbst abrechneten, erfolgt. Die erhöhten Prävalenzen seien schon aus den Gründen der PS nicht anerkennungsfähig. Darüber hinaus seien die Zahlen zu jungen Patienten, welche der Kläger anführe, nicht nachvollziehbar. Anhand der dem jeweiligen Honorarbescheid beigefügten Anzahl- und Summenstatistik des Klägers ergebe sich ein anderes Bild. 

Zudem sei die Vielzahl der Ansätze somatischer Erkrankungen bei jungen Patient*innen unverständlich. Ferner sei auffällig, dass oft F45.0 (Somatisierungsstörung) und R51 (Kopfschmerz) zusammen abgerechnet würden, im Quartal 1/2015 z. B. bei 172 Patient*innen, im Quartal 4/2015 bei 145 Patient*innen und im Quartal 3/2016 bei 101 Patient*innen.

Nur weil der Beklagte die Entscheidung der PS nicht verbösern könne, verbleibe es bei den anerkannten +100%. Der Beklagte listete zudem zahlreiche Einzelfällen auf, in denen aus seiner Sicht der Ansatz der GOP 35100 EBM verfehlt gewesen sei. Es seien in diesen Fällen keine Diagnosen codiert, die den Ansatz der GOP 35100 EBM rechtfertigten.

Gegen diese Beschlüsse richten sich die am 9. Dezember 2021 zum Sozialgericht Marburg erhobenen Klagen. 

Der Kläger verweist erneut auf sein vergleichsweise sehr junges Patientenklientel. Aus der deutlich vergröbernden Aufteilung nach Alterskategorien der Grundpauschalen lasse sich dies jedoch nur eingeschränkt nachvollziehen. Seine Praxis sei keine klassische Hausarztpraxis, was sich auch in einem extrem niedrigen Rentneranteil und der Tatsache, dass er keine hausärztliche Strukturpauschale erhalte, zeige.

Der Hinweis des Beklagten auf die Behandlungsfälle ohne entsprechende F-Diagnose (190 in den Jahren 2015 und 2016) rechtfertige keine Kürzungen in der vorgenommenen Höhe. Auch in diesen Fällen ergäben sich nach Durchsicht der Behandlungsdokumentationen jedoch deutliche Hinweise auf Krankheitsbilder, die der Behandlung im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung zugänglich seien, nämlich insbesondere schwere chronische Erkrankungen mit chronischen Schmerzen, Rückenschmerzen, akuter Gastritis, Schwindel und Taumel oder Erschöpfungssyndromen.

Der Kürzungsumfang lasse sich weder arithmetisch noch nach den Grundsätzen der höchstrichterlichen Rechtsprechung nachvollziehen.

Der Kläger beantragt, 
die Beschlüsse des Beklagten vom 1. Dezember 2021 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihn unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Der Beklagte beantragt, 
die Klage abzuweisen.

Er erneuert seinen Vortrag aus dem Verwaltungsverfahren und ist der Auffassung, dass er den Mehraufwand im Rahmen seines Beurteilungsspielraums sachgerecht geschätzt habe. Die Behandlung von jüngeren Patient*innen sei unabhängig vom Krankheitsbild keine Praxisbesonderheit. Die GOP 35100 EBM sei in den streitgegenständlichen Jahren 2015 und 2016 bei 1.956 Patienten 3.367-mal angesetzt worden. Deshalb sei der durch die Prävalenzprüfung ermittelte Mehrversorgungsanteil von 463 % bis 629 % nicht als Orientierungswert zur Berechnung der Praxisbesonderheiten zugrunde gelegt worden.

Mit Beschlüssen vom 10. Dezember 2021 hat die Kammer jeweils die Vertragsparteien der Gesamtverträge nach § 83 SGB V zum Verfahren beigeladen. 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakten des Beklagten sowie die Prozessakten verwiesen, die in der mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.


Entscheidungsgründe

Die Kammer hat in der Besetzung mit einer ehrenamtlichen Richterin aus den Kreisen der Vertragsärzte und einem ehrenamtlichen Richter aus den Kreisen der Krankenkassen verhandelt und entschieden, weil es sich um eine Angelegenheit des Vertragsarztrechts handelt (§ 12 Abs. 3 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Sie konnte dies trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beigeladenen zu 1) bis 7) tun, weil diese ordnungsgemäß geladen worden sind.

Die zulässigen Klagen sind auch begründet. 

Die Beschlüsse des Beklagten vom 1. Dezember 2021 sind rechtswidrig und verletzten den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts. 

Gegenstand des Verfahrens ist jeweils nur der Bescheid des Beklagten, nicht auch der der Prüfungsstelle. In Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung beschränkt sich die gerichtliche Kontrolle auf die das Verwaltungsverfahren abschließende Entscheidung des Beschwerdeausschusses. Dieser wird mit seiner Anrufung für das weitere Prüfverfahren ausschließlich und endgültig zuständig. Sein Bescheid ersetzt den ursprünglichen Verwaltungsakt der Prüfungsstelle, der abweichend von § 95 SGG im Fall der Klageerhebung nicht Gegenstand des Gerichtsverfahrens wird.

Rechtsgrundlage für Honorarkürzungen wegen unwirtschaftlicher Behandlungsweise ist § 106 Abs. 2 Satz 4 SGB V i.V.m. der Prüfvereinbarung gemäß § 106 Abs. 3 SGB V, gültig ab 1. Januar 2008 bzw. ab 1. Januar 2017 (PV).

Die Wirtschaftlichkeit der Versorgung wird durch arztbezogene Prüfungen ärztlicher und ärztlich verordneter Leistungen nach Durchschnittswerten beurteilt (Auffälligkeitsprüfung). Nach den hierzu von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen ist die statistische Vergleichsprüfung die Regelprüfmethode. Die Abrechnungs- bzw. Verordnungswerte des Arztes werden mit denjenigen seiner Fachgruppe – bzw. mit denen einer nach verfeinerten Kriterien gebildeten engeren Vergleichsgruppe – im selben Quartal verglichen. Ergänzt durch die sog. intellektuelle Betrachtung, bei der medizinisch-ärztliche Gesichtspunkte berücksichtigt werden, ist dies die Methode, die typischerweise die umfassendsten Erkenntnisse bringt. 

Vorliegend hat der Beklagte den Kläger mit der Prüfgruppe 101-33 (voll zugelassene Allgemeinärzte/hausärztliche Internisten in Hessen) verglichen, soweit diese die GOP 35100 EBM auch tatsächlich abrechneten. Dies ist zur Überzeugung der Kammer nicht zu beanstanden. 

Ergibt die Prüfung, dass der Behandlungsaufwand des Arztes je Fall bei dem Gesamtfallwert, bei Sparten- oder bei Einzelleistungswerten in einem offensichtlichen Missverhältnis zum durchschnittlichen Aufwand der Vergleichsgruppe steht, d. h., ihn in einem Ausmaß überschreitet, das sich im Regelfall nicht mehr durch Unterschiede in der Praxisstruktur oder in den Behandlungsnotwendigkeiten erklären lässt, hat das die Wirkung eines Anscheinsbeweises der Unwirtschaftlichkeit (BSG, Urteil vom 16. Juli 2003, B 6 KA 45/02). Von welchem Grenzwert an ein offensichtliches Missverhältnis anzunehmen ist, entzieht sich einer allgemein verbindlichen Festlegung (BSG, Urteil vom 15. März 1995, 6 RKa 37/93). Nach der Rechtsprechung des BSG liegt zwischen dem Bereich der normalen Streuung, der Überschreitungen um bis zu ca. 20 % erfasst, und der Grenze zum sog. offensichtlichen Missverhältnis der Bereich der Übergangszone. Die Grenze zum sog. offensichtlichen Missverhältnis hat das BSG früher bei einer Überschreitung um ca. 50 % angenommen. Seit längerem hat es – unter bestimmten Voraussetzungen – auch niedrigere Werte um ca. 40 % ausreichen lassen. Die Prüfgremien haben einen Beurteilungsspielraum, die Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis höher oder niedriger festzulegen. 

Jedenfalls ist nicht zu beanstanden, wenn der Beklagte den Vergleichsgruppendurchschnitt als Bezugswert ansetzt. Diese Bezugswerte hat der Kläger in den streitgegenständlichen Quartalen jeweils um mehrere hundert Prozent überschritten, so dass der Anscheinsbeweis der Unwirtschaftlichkeit rein statistisch geführt ist.

Das BSG stellt jedoch in ständiger Rechtsprechung klar, dass die statistische Betrachtung nur einen Teil der Wirtschaftlichkeitsprüfung ausmacht und durch eine sog. intellektuelle Prüfung und Entscheidung ergänzt werden muss, bei der die für die Frage der Wirtschaftlichkeit relevanten medizinisch-ärztlichen Gesichtspunkte, wie das Behandlungsverhalten und die unterschiedlichen Behandlungsweisen innerhalb der Arztgruppe und die bei dem geprüften Arzt vorhandenen Praxisbesonderheiten, in Rechnung zu stellen sind (BSG, Urteil vom 9. März 1994, 6 RKa 17/92). Diese Gesichtspunkte sind nicht erst in einem späteren Verfahrensstadium oder nur auf entsprechende Einwendungen des Arztes/der Ärztin, sondern bereits auf der ersten Prüfungsstufe von Amts wegen mit zu berücksichtigen; denn die intellektuelle Prüfung dient dazu, die Aussagen der Statistik zu überprüfen und ggf. zu korrigieren. Erst aufgrund einer Zusammenschau der statistischen Erkenntnisse und der den Prüfgremien erkennbaren medizinisch-ärztlichen Gegebenheiten lässt sich beurteilen, ob die vorgefundenen Vergleichswerte die Annahme eines offensichtlichen Missverhältnisses und damit den Schluss auf eine unwirtschaftliche Behandlungsweise rechtfertigen.

Denn auch nach den Regeln des Anscheinsbeweises kann aus einer Überschreitung des Vergleichsgruppendurchschnitts nur dann auf eine Unwirtschaftlichkeit geschlossen werden, wenn ein solcher Zusammenhang einem typischen Geschehensablauf entspricht, also die Fallkostendifferenz ein Ausmaß erreicht, bei dem erfahrungsgemäß von einer unwirtschaftlichen Behandlungsweise auszugehen ist. Ein dahingehender Erfahrungssatz besteht aber nur unter der Voraussetzung, dass die wesentlichen Leistungsbedingungen des geprüften Arztes/der geprüften Ärztin mit den wesentlichen Leistungsbedingungen der verglichenen Ärzte übereinstimmen. Der Beweiswert der statistischen Aussagen wird eingeschränkt oder ganz aufgehoben, wenn bei der geprüften Arztpraxis besondere, einen höheren Behandlungsaufwand rechtfertigende Umstände vorliegen, die für die zum Vergleich herangezogene Gruppe untypisch sind. Sind solche kostenerhöhenden Praxisbesonderheiten bekannt oder anhand der Behandlungsweise oder der Angaben des Arztes/der Ärztin erkennbar, so müssen ihre Auswirkungen bestimmt werden, ehe sich auf der Grundlage der statistischen Abweichungen eine verlässliche Aussage über die Wirtschaftlichkeit oder Unwirtschaftlichkeit der Behandlungsweise treffen lässt. Das gilt umso mehr, als mit der Feststellung des offensichtlichen Missverhältnisses eine Verschlechterung der Beweisposition des Arztes/der Ärztin verbunden ist, die dieser nur hinzunehmen braucht, wenn die Unwirtschaftlichkeit nach Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Falles als bewiesen angesehen werden kann (BSG, Urteil vom 9. März 1994, 6 RKa 17/92). Die Wirtschaftlichkeit einzelner Leistungen darf also nicht losgelöst von der Gesamttätigkeit und den Gesamtfallkosten des Vertragsarztes/der Vertragsärztin beurteilt werden (vgl. BSG, Urteil vom 16. Juli 2003, B 6 KA 45/02 R).

Der Beklagte hat zutreffend eine Praxisbesonderheit des Klägers bei der psychosomatischen Grundversorgung anerkannt. 

Als Praxisbesonderheiten des geprüften Arztes kommen nur solche Umstände in Betracht, die sich auf das Behandlungs- oder Verordnungsverhalten des Arztes auswirken und in den Praxen der Vergleichsgruppe typischerweise nicht oder nicht in derselben Häufigkeit anzutreffen sind. Für die Anerkennung einer Praxisbesonderheit ist es deshalb nicht ausreichend, dass bestimmte Leistungen in der Praxis eines Arztes erbracht werden. Vielmehr muss substantiiert dargetan werden, inwiefern sich die Praxis gerade in Bezug auf diese Merkmale von den anderen Praxen der Fachgruppe unterscheidet (BSG, Urteil vom 21. Juni 1995, 6 RKa 35/94). Die betroffene Praxis muss sich nach der Zusammensetzung der Patient*innen und hinsichtlich der schwerpunktmäßig zu behandelnden Gesundheitsstörungen vom typischen Zuschnitt einer Praxis der Vergleichsgruppe unterscheiden, und diese Abweichung muss sich gerade auf die überdurchschnittlich häufig erbrachten Leistungen auswirken (BSG, Urteil vom 23. Februar 2005, B 6 KA 79/03 R). Ein bestimmter Patientenzuschnitt kann z. B. durch eine spezifische Qualifikation des Arztes, etwa aufgrund einer Zusatzbezeichnung bedingt sein (vgl. BSG, Urteil vom 6. September 2000, B 6 KA 24/99 R). Es muss sich um Besonderheiten bei der Patientenversorgung handeln, die vom Durchschnitt der Arztgruppe signifikant abweichen und die sich aus einem spezifischen Zuschnitt der Patientenschaft des geprüften Arztes ergeben, der im Regelfall in Wechselbeziehung zu einer besonderen Qualifikation des Arztes steht. Ein Tätigkeitsschwerpunkt allein stellt nicht schon eine Praxisbesonderheit dar (BSG, Urteil vom 6. Mai 2009, B 6 KA 17/08 R).

Unter Beachtung dieser Grundsätze ist der angefochtene Bescheid hinsichtlich des „Ob“ der Anerkennung von Praxisbesonderheiten nicht zu beanstanden. Im vorliegenden Fall hat der Kläger vorgetragen, dass er ein verhältnismäßig junges Patientenklientel behandelt, das sehr häufig von Beschwerden psychosomatischer Genese betroffen ist. Die Kammer hält diesen Vortrag auch für plausibel. Allein aus der stark vergröbernden Altersstatistik der Krankenkassen, die nur die Gruppe unter 18 und über 65 erfasst, lassen sich keine genaueren Rückschlüsse auf die Altersstruktur im Bereich 18 bis 65 Jahre entnehmen. Zudem fällt der Kammer der für eine Hausarztpraxis sehr untypische geringe Rentneranteil auf. Dass der Kläger sich von anderen typischen Hausarztpraxen unterscheidet, untermauert zudem sein Vortrag, keine hausärztliche Strukturpauschale zu erhalten. 

Die Kammer beanstandet hingegen den streitgegenständlichen Beschluss des Beklagten insoweit, als der Beklagte das ihm obliegende Ermessen hinsichtlich der Höhe der anzuerkennenden Praxisbesonderheit nicht in hinreichend präziser Weise ausgeübt hat. 

Grundsätzlich ist dem Beklagten einzuräumen, hinsichtlich des durch Besonderheiten erhöhten Abrechnungsvolumens den verursachten Mehraufwand zu schätzen (BSG, Urteil vom 6. Mai 2009, B 6 KA 17/08 R). Bei dieser Schätzung und Festlegung der Höhe der Honorarkürzungen hat der Beklagte einen weiten Beurteilungsspielraum, der eine ganze Bandbreite denkbarer vertretbarer Entscheidungen bis hin zur Kürzung des gesamten unwirtschaftlichen Mehraufwandes ermöglicht (BSG, Urteil vom 2. November 2005, B 6 KA 53/04 R). Auch eine Schätzung muss jedoch die vorhandenen Erkenntnismöglichkeiten zur Quantifizierung der Praxisbesonderheit nutzen. 

Der Beklagte geht vom Vorliegen einer Praxisbesonderheit aufgrund der von der Prüfungsstelle im Rahmen der Prävalenzprüfung festgestellten Häufigkeit der psychischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen beim Patientenklientel des Klägers aus und ermittelt die Praxisbesonderheit auch quartalsweise.  

Grundsätzlich hält die Kammer die Vorgehensweise des Beklagten, Prävalenzen zu ermitteln und daraus Rückschlüsse auf die Quantität der Praxisbesonderheit zu ziehen für sehr geeignet, um Praxisbesonderheiten festzustellen. Dies ist jedoch nicht 1:1 möglich (siehe dazu SG Marburg, Urteil vom 16. November 2022, S 17 KA 234/21, nicht rechtskräftig). 

Soweit der Beklagte das Ausmaß der Praxisbesonderheit zunächst mittels einer nunmehr angepassten Prävalenzprüfung ermittelt, ist dies zur Überzeugung der Kammer –ausschließlich bezogen auf die Besonderheiten der GOP 35100 EBM – nicht zu beanstanden. 

Die Kammer hat bereits mehrfach entschieden, dass bei der Bemessung der Höhe der Praxisbesonderheit zu berücksichtigen ist, dass die Prävalenzprüfung fallbezogen durchgeführt wird, während sich die Überschreitung bei der Einzelziffer nach deren Ansatzhäufigkeit – die gerade keinen Fallbezug aufweist (vgl. SG Marburg, S 17 KA 346/15) – richtet. Die Prävalenzen werden nach der Häufigkeit der Diagnoseerfassung ermittelt. Da alle Diagnosen erfasst werden, fließen Patienten mehrfach in die Bewertung ein, bei denen mehrere der relevanten Diagnosen parallel kodiert wurden. Dies hat der Beklagte nunmehr festgestellt und im vorliegenden Verfahren dahingehend korrigiert, dass die ursprüngliche Prävalenz aufgrund des vielfachen Doppel- und Dreifachansatzes von F-Codierungen im Behandlungsfall nicht als repräsentativ angesehen werden kann. Die Kläger hat bei vielen Patient*innen mehrere F-Diagnosen angesetzt. Aus diesen Feststellungen ist jedoch nicht ableitbar, wie eine Reduzierung der ursprünglichen Prävalenz auf +100% ermittelt wird. Die Berechnungsparameter sind für die Kammer nicht nachvollziehbar. Insbesondere ist nicht erkennbar, ob auch in der Vergleichsgruppe die Doppel- und Dreifachansätze herausgerechnet wurden. Dies wäre bei einer fallbezogenen Betrachtung jedoch erforderlich. Eine rein pauschale Reduktion der festgestellten Prävalenzen auf +100% erfüllt nicht die Anforderung an eine ordnungsgemäße Ermessensausübung.  

Weiterhin berücksichtigt der Beklagte nicht die Anzahl der pro Patient*in abgerechneten GOP. Dies führt dazu, dass die Prävalenzwerte in dieser Richtung eine Unschärfe aufweisen können. Diese Unschärfe ist jedoch bei der GOP 35100 EBM – im Gegensatz zur GOP 35110 EBM – zur Überzeugung der Kammer nur von geringem Gewicht, da es sich bei der GOP 35100 EBM um die Diagnostikziffer handelt, die üblicherweise zur Abklärung der psychosomatischen Krankheitszustände zu Beginn eines Krankheitsfalles genutzt wird und damit in aller Regel pro Patient*in nur einmalig zum Ansatz kommen dürfte. Dies gilt gleichermaßen für den Kläger wie auch für die Vergleichsgruppe. Im Gegensatz dazu steht die GOP 35110 EBM, die als verbale Intervention auch über längere Zeiträume und ohne quantitative Beschränkung für einzelne Patient*innen vielfach zum Ansatz kommen kann. 

Grundsätzlich hält die Kammer an ihrer ständigen Rechtsprechung (seit Urteil vom 19. Juni 2019, S 17 KA 409/17) dahingehend fest, dass es an einer Vorschrift fehlt, die die Angabe einer F-Diagnose bereits in der Abrechnung als Voraussetzung für die Erbringung der hier streitigen GOP 35100 EBM vorsieht und deshalb den Ausschluss weiteren Tatsachenvortrages rechtfertigen könnte. Aus den EBM Ziffern ergibt sich keine Pflicht zur Angabe einer bestimmten Diagnose, es sind auch keine bestimmten Diagnosen aufgezählt, die Voraussetzung für die Leistungserbringung wären. Die GOP 35100 EBM sieht allein eine mindestens 15minütige Arzt-Patienten-Interaktion bei psychosomatischen Krankheitszuständen vor. 

Die PT-RL lautet in § 22 Abs. 1 wie folgt:

„(1) Indikationen zur Anwendung von Psychotherapie gemäß Abschnitt B und Maßnahmen der Psychosomatischen Grundversorgung gemäß Abschnitt C der Richtlinie bei der Behandlung von Krankheiten können nur sein:
1. Affektive Störungen: depressive Episoden, rezidivierende depressive Störungen, Dysthymie;
2. Angststörungen und Zwangsstörungen;
3. Somatoforme Störungen und Dissoziative Störungen (Konversionsstörungen);
4. Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen;
5. Essstörungen;
6. Nichtorganische Schlafstörungen;
7. Sexuelle Funktionsstörungen;
8. Persönlichkeitsstörungen und Verhaltensstörungen;
9. Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend.“

Die hier streitige Leistung der GOP 35100 ist im Kapitel 35 EBM genannt, das überschrieben ist mit: Leistungen gemäß den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Durchführung der Psychotherapie (Psychotherapie-Richtlinien). Sie fallen also unter die PT-RL und sind daher nur bei Vorliegen der in § 22 Abs. 1 PT-RL genannten Indikationen wirtschaftlich. Jedoch folgt daraus nicht, dass diese Indikationen nur dann gegeben sind, wenn sie als F-Diagnosen in der Abrechnung benannt sind. Vielmehr ist insoweit die Patientendokumentation des Arztes/der Ärztin zu prüfen. Die PT-RL selbst erfordert eine Dokumentation allein in § 12. Danach erfordern Leistungen der psychosomatischen Grundversorgung eine schriftliche Dokumentation der diagnostischen Erhebungen und der wesentlichen Inhalte der psychotherapeutischen Interventionen. Daraus ergibt sich aber nicht, dass die Diagnosen als Abrechnungsdiagnosen anzugeben sind, vielmehr ist eine entsprechende Patientendokumentation in den Unterlagen des Vertragsarztes/der Vertragsärztin vorgesehen, die dann auch vom Beklagten zu prüfen ist (so auch SG Berlin, Urteil vom 9. Januar 2019, S 87 KA 77/18). Es erscheint zur Überzeugung der Kammer denkbar, dass die GOP 35100 EBM auch bei anderen Diagnosen, z.B. Krebserkrankungen oder Schmerzpatient*innen angesetzt wird. Dies sieht auch die PT-RL ausdrücklich so vor, wenn es dort in § 21 Abs. 2 heißt, dass die Zielsetzung der psychosomatischen Grundversorgung in einer seelischen Krankenbehandlung besteht, die während der Behandlung von somatischen, funktionellen und psychischen Störungen von Krankheitswert durchgeführt werden kann. Insoweit können funktionelle Störungen von Krankheitswert Anlass für eine differentialdiagnostische Abklärung nach der GOP 35100 EBM sein, wenn mit dieser Störung eine seelische Belastung einhergeht. Beispielhaft kommt dies auch im Rahmen der Reproduktionsmedizin (vgl. SG Marburg, Urteile vom 12. Oktober 2022, S 17 KA 12/18 und S 17 KA 13/18) oder bei orthopädischen Beschwerden (vgl. SG Marburg, Urteil vom 3. Mai 2023, S 17 KA 527/20) in Betracht, was die Kammer ebenfalls bereits entschieden hat. Allein diese Feststellung untermauert die Tatsache, dass eine rein statistische Betrachtung nach Prävalenzen im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung nicht ausreichend ist, sofern Anhaltspunkte für eine Besonderheit bestehen. 

Dass der Kläger im Falle von Rückenschmerzen, Migräne; Kopfschmerzen, Magen- und Darmbeschwerden, Kreislaufstörungen, Schlafstörungen, Konzentrations- und Belastungsstörungen nahezu regelhaft bei seinen Patient*innen eine psychosomatische Diagnostik durchführt – und dann im vorliegenden Fall ganz überwiegend auch noch entsprechend mit einer F-Diagnose kennzeichnet -, hält die Kammer weder für unzulässig noch für unwirtschaftlich. 

In einem vergleichsweise geringen Ausmaß hat der Kläger nach den Ermittlungen des Beklagten auch die GOP 35100 EBM genutzt, ohne eine F-Diagnoses zu kodieren. Insoweit können den Prüfgremien keine Ermittlungen ins Blaue hinein zugemutet werden, sondern es obliegt dem Vertragsarzt/der Vertragsärztin, die Behandlungsfälle, bei denen keine F-Diagnose angesetzt wurde und dennoch Anlass für eine psychosomatische Grundversorgung bestand, auf Anforderung der Prüfgremien substantiiert darzulegen. Der Beklagte hat im streitgegenständlichen Bescheid beispielhaft eine Reihe von Patient*innen aufgeführt, bei denen aus der reinen Codierung die Notwendigkeit einer psychosomatischen Abklärung nicht hinreichend herzuleiten ist. Diese Einschätzung teilt die Kammer. Der Kläger ist dem jedoch entgegengetreten, indem er dargelegt hat, dass es sich zumindest weit überwiegend um Krankheitsbilder gehandelt hat, die ohne Weiteres einen psychosomatischen Anteil haben können (chronische Schmerzen, Rückenschmerzen, akute Gastritis, Schwindel, Taumel). Auch bei der orientierenden Durchsicht einzelner Patient*innen im Rahmen der vom Beklagten vorgenommenen intellektuellen Prüfung sind ausschließlich die Abrechnungsdiagnosen in den Blick genommen worden. Eine Begründung für den Ansatz der GOP 35100 EBM oder die Patientendokumentation wurde nicht angefordert, so dass eine finale Beurteilung der Wirtschaftlichkeit des Verhaltens des Klägers nicht stattfinden konnte. Dies kann im Rahmen der Neubescheidung nachgeholt werden. 

Aus diesen Gründen musste die Klage Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit § 154 VwGO und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.
 

Rechtskraft
Aus
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