L 5 KR 1044/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5.
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 14 KR 1282/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 5 KR 1044/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Wird eine im Ausgangsbescheid unterlassene Ermessensausübung im Widerspruchsbescheid nachgeholt, so gilt der Ausgangsbescheid seit dem Zeitpunkt seines Erlasses als mangelfrei. Dies gilt nicht, wenn dadurch nachträglich eine bereits zeitlich überholte Fristsetzung gerechtfertigt werden soll (hier im Fall einer Aufforderung nach § 51 SGB V; Anschluss an: BSG, Urteil vom 19.08.2015 - B 14 AS 1/15 R -, in juris Rn. 27, zu einer Aufforderung nach § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II; ferner LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.01.2013 - L 11 KR 592/12 B ER -, in juris Rn. 27; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 02.03.2021 - L 11 KR 1388/20 -, in juris Rn. 33 und Urteil vom 02.02.2021 - L 11 KR 578/20 -, in juris).

Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 03.03.2021 sowie der Bescheid der Beklagten vom 05.11.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.04.2020 aufgehoben.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Klage- und im Berufungsverfahren.



Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen die Aufforderung der Beklagten, einen Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation zu stellen. Er befürchtet eine sich gegebenenfalls anschließende Rückforderung des ihm gezahlten Krankengeldes.

Der 1957 geborene Kläger ist versicherungspflichtiges Mitglied der beklagten Krankenversicherung. Im Januar 2019 erfolgte die Notaufnahme des Klägers in das Krankenhaus L1 aufgrund eines tachykarden Vorhofflimmerns mit ausgeprägter globaler dekompensierter Herzinsuffizienz. Im Anschluss bescheinigte K1 dem Kläger mit Erstbescheinigung vom 21.01.2019 wegen Vorhofflimmern und Vorhofflattern (I 48.9 G) für die Zeit vom 19.01.2019 bis zunächst 05.02.2019 sowie mit weiteren Folgebescheinigungen bis 31.07.2020 Arbeitsunfähigkeit. In der Folge gewährte die Beklagte dem Kläger vom 20.02.2019 bis 07.07.2020 Krankengeld. In der Zeit vom 08.07.2020 bis 31.08.2020 bezog der Kläger Arbeitslosengeld nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III). Der Rentenversicherungsträger bewilligte dem Kläger nach Umdeutung eines am 13.08.2020 gestellten Antrags auf Gewährung medizinischer Leistungen zur Rehabilitation in einen Rentenantrag ab 01.09.2020 eine Rente wegen Erwerbsminderung.

Bereits während des Bezugs von Krankengeld beauftragte die Beklagte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit der Erstattung eines Gutachtens nach Aktenlage. R1 vom MDK führte in seiner Stellungnahme vom 19.09.2019 unter Nennung der maßgeblichen Diagnosen aus, die berufliche Belastbarkeit des Klägers sei auch ein dreiviertel Jahr nach Erstdiagnose des tachykarden Vorhofflimmerns mit ausgeprägter globaler dekompensierter Herzinsuffizienz erheblich eingeschränkt in Bezug auf Mobilität und allgemeine Belastbarkeit. Es drohe der Verlust der beruflichen Leistungsfähigkeit. Eine multimodale Reha-Behandlung sei aussichtsreich, die Belastbarkeit wiederherzustellen.
Das Vorliegen von Arbeitsunfähigkeit sei bis zu einer Reha begründet.

Mit Schreiben vom 23.09.2019 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass sie beabsichtige, ihn aufzufordern, innerhalb von 10 Wochen beim zuständigen Rentenversicherungsträger einen Antrag auf Maßnahmen zur Rehabilitation zu stellen. Bevor sie ihm diese Aufforderung zukommen lasse, gebe sie ihm Gelegenheit, sich im Rahmen der gesetzlich vorgesehenen Anhörung bis zum 15.10.2019 zu äußern. Daraufhin führte der Kläger durch seinen Bevollmächtigten mit Schreiben vom 02.10.2019 aus, er sehe sich derzeit nicht in der Lage, sich einer medizinischen Rehabilitation zu stellen. Erfreulicherweise habe sich seine Herzfunktion stabilisiert, sodass er hoffe, in wenigen Wochen so weit zu sein. Ferner gebe es Schwierigkeiten im häuslichen Umfeld, da seine Frau ebenfalls erkrankt sei. Es stelle sich die Frage, ob eine gemeinsame Rehabilitation angezeigt sei, oder ob die Reha im ortsnahen Bereich durchgeführt werden könne. Die Beklagte entgegnete hierauf unter dem 14.10.2019, dass der Kläger nach Aufforderung noch zehn Wochen Zeit habe, den Antrag zu stellen. Die Frage nach einer wohnortnahen Reha sei durch den Rentenversicherungsträger zu beantworten. Sodann reichte der Bevollmächtigte ein Attest von K1 vom 21.10.2019 ein, wonach der Kläger nicht rehafähig sei.

Mit an den Bevollmächtigten gerichteten und im Adressfeld als „Einschreiben-Rückschein“ bezeichnetem Schreiben vom 05.11.2019, beim Bevollmächtigten laut Kanzleistempel eingegangen am 21.11.2019, entgegnete die Beklagte, sie habe die familiäre sowie die gesundheitliche Situation des Klägers berücksichtigt. Aus dem Attest von K1 ergäben sich keine neuen Gesichtspunkte. Die Überprüfung der Rehafähigkeit obliege dem Rentenversicherungsträger. In der Anlage übersende sie daher die Aufforderung zur Reha-Antragstellung. Mit Bescheid vom 05.11.2019, dessen Eingang beim Kläger selbst und bei seinem Bevollmächtigten streitig ist, forderte die Beklagte den Kläger sodann unter Fristsetzung bis zum 17.01.2020 auf, einen Reha-Antrag zu stellen.
Eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme sei der beste Weg, die gesundheitlichen und finanziellen Interessen des Klägers zu sichern. Deshalb sei es sicherlich in seinem Sinne, jetzt einen Antrag auf medizinische Maßnahmen zur Rehabilitation beim Rentenversicherungsträger zu stellen. Der Anspruch auf Krankengeld erlösche am 17.01.2020 ohne weitere Benachrichtigung, wenn bis zu diesem Tag nicht nachgewiesen sei, dass Maßnahmen zur Rehabilitation beantragt worden seien. Auch die mit der Krankengeldzahlung verbundene Beitragsfreiheit ende. Der Kläger müsse sich freiwillig weiterversichern. Werde der Antrag auf Rehabilitationsmaßnahmen später gestellt, so lebe der Anspruch auf Krankengeld mit dem Tag der Antragstellung wieder auf; das Gleiche gelte für die Beitragsfreiheit.

Mit Schreiben vom 05.12.2019 teilte der Bevollmächtigte des Klägers mit, sowohl das Schreiben als auch der Bescheid vom 05.11.2019 hätten ihn erst am 25.11.2019 erreicht. Gegen den Bescheid vom 05.11.2019 lege er Widerspruch ein. Zur Begründung führte er wiederum aus, der Kläger sei derzeit nicht rehafähig. Er müsse sich einer Operation im Mundraum unterziehen, habe Meniskusprobleme, eine Analfissur, die nicht abheilen wolle, sowie Schmerzen beim Auftreten im linken Fuß. Sobald diese Probleme behoben seien, werde er den Antrag stellen. Ferner legte er einen Bericht des  W1 vom 03.01.2020 vor, wonach der Kläger an einer rezidivierenden Analfissur leide und keine Möglichkeit zur Durchführung einer Reha-Maßnahme bestehe, bis die Fissur abgeheilt sei.

Mit Bescheid vom 25.03.2020 stellte die Beklagte gegenüber dem Kläger fest, dass der Anspruch des Klägers auf Krankengeld wegen Erreichens der Höchstanspruchsdauer am 07.07.2020 ablaufe.

Mit an den Bevollmächtigten des Klägers gerichteten Widerspruchsbescheid vom 20.04.2020 wies die Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 05.11.2019 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie aus, der Einwand, der Kläger sei nicht rehafähig, habe zu keiner anderen Entscheidung führen können. Ob Rehafähigkeit bestehe, prüfe der Rentenversicherungsträger. Die Aufforderung sei unter der gebotenen beiderseitigen Interessenabwägung erfolgt. Die persönliche Situation des Klägers sei für sie nachvollziehbar. Die Voraussetzungen für einen Verzicht der Beklagten auf die Stellung eines Antrages auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und die damit verbundene Einschränkung des Gestaltungsrechts lägen hier aber nicht vor. Die gesetzlichen Grenzen des einzuräumenden Ermessens seien eingehalten worden.

Hiergegen hat der Kläger am 18.05.2020 Klage zum Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben, mit der er die Aufhebung des Aufforderungsbescheides begehrt. Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor, die Beklagte habe sich mit seinem Argument der fehlenden Rehafähigkeit nicht ausreichend auseinandergesetzt. Die Interessen der Beklagten könnten nur rein fiskalischer Natur sein.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Zur Begründung verweist sie auf ihre Ausführungen im Widerspruchsbescheid.

Mit Gerichtsbescheid vom 03.03.2021 hat das SG die Klage abgewiesen. Die zulässige Anfechtungsklage sei unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 05.11.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.04.2020 sei rechtmäßig und verletze den Kläger nicht in seinen Rechten. Rechtsgrundlage für die Aufforderung des Klägers zur Stellung eines Reha-Antrags sei § 51 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Danach könne die Krankenkasse Versicherten, deren Erwerbsfähigkeit nach ärztlichem Gutachten erheblich gefährdet oder gemindert sei, eine Frist von zehn Wochen setzen, innerhalb der sie einen Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitsleben zu stellen hätten. Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Satz 1 SGB V seien hier gegeben. Tatbestandsvoraussetzung von § 51 Abs. 1 Satz 1 SGB V sei, dass eine erhebliche Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit vorliege. Dies sei der Fall, wenn entweder der gesundheitliche Zustand des Versicherten so schlecht sei, dass mit einer dauerhaften Minderung oder dem Verlust seiner Erwerbsfähigkeit gerechnet werden müsse, oder eine solche Minderung bereits eingetreten sei. Eine dauerhafte Minderung oder Gefährdung liege vor, wenn diese voraussichtlich länger als sechs Monate bestehen werde, unabhängig davon, wie lange sie bereits bestehe. Sie müsse auf Grund eines ärztlichen Gutachtens festgestellt werden. Diese Voraussetzungen seien vorliegend erfüllt. Die Feststellung einer erheblichen Gefährdung der Erwerbsfähigkeit beruhe auf dem Gutachten des MDK vom 19.09.2019. In diesem habe R1 ausgeführt, dass der Kläger auch ein dreiviertel Jahr nach seiner Notaufnahme aufgrund seines tachykarden Vorhofflimmerns mit Herzinsuffizienz noch in seiner beruflichen Belastbarkeit eingeschränkt sei, in Bezug auf Mobilität und die allgemeine Belastbarkeit. Es drohe der Verlust der beruflichen Leistungsfähigkeit. Ferner werde ausdrücklich angeführt, dass die Erwerbsfähigkeit erheblich gefährdet sei. Darüber hinaus habe die Beklagte auch die 10-Wochenfrist eingehalten. Mit Bescheid vom 05.11.2019 habe sie den Kläger aufgefordert bis zum 17.01.2020 einen Antrag auf Rehabilitation zu stellen. Ausgehend von einem Zugang des Bescheides innerhalb von drei Werktagen lägen daher zwischen dem Zugang des Bescheides und der gesetzten Frist 10 Wochen. Ferner habe die Beklagte ihr Ermessen im Widerspruchsbescheid, was noch rechtzeitig sei, zutreffend ausgeübt. Die Ausführungen zum Ermessen seien im Widerspruchsbescheid zwar knapp gehalten, entsprächen aber noch den Anforderungen an eine Ermessensausübung. So habe die Beklagte etwa ausgeführt, dass sie die persönliche Situation des Klägers nachvollziehen könne, jedoch die Interessenabwägung zulasten des Klägers ausgefallen sei. Dass die Interessen der Beklagten vor allem fiskalischer Natur sind, sei der Regelung immanent. Soweit der Kläger anführe, die Beklagte habe nicht beachtet, dass er nicht rehafähig sei, bestehe insoweit weder ein Ermessensausfall noch ein Abwägungsdefizit. Denn zum einen sei die Frage der Rehabilitationsfähigkeit bzw. der Erfolgsaussichten einer Reha von der Krankenkasse nicht zu prüfen, da sie in § 10 Abs. 1 Nr. 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch in § 51 SGB V nicht angesprochen würden (unter Hinweis auf Rieke, in: Krauskopf, SGB V, § 51 Rn. 6; Brinkhoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl. 2020, § 51 Rn. 23). Zum anderen habe die Beklagte im Widerspruchsbescheid zu diesem Vortrag Stellung genommen. An diesem Ergebnis ändere sich auch unter Berücksichtigung des späteren Vorgehens der Rentenversicherung nichts. Denn auch wenn diese zunächst eine Reha bewilligt habe, den Antrag nunmehr aber in einen Rentenantrag umgedeutet habe, folge hieraus nicht, dass die Aufforderung der Beklagten mit Bescheid vom 05.11.2019 rechtswidrig gewesen sei. Denn die Krankenkasse könne – entsprechend dem Normzweck sachgerecht – Versicherte selbst bei fehlender Erfolgsaussicht einer Rehabilitation zur Antragstellung auffordern, um über die Umdeutung nach § 116 Abs. 2 SGB VI eine Entscheidung des Rentenversicherungsträgers über einen Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit herbeizuführen (Rieke a.a.O.; Brinkhoff a.a.O.).

Gegen den ihm am 09.03.2021 zugestellten Gerichtsbescheid haben die Bevollmächtigten des Klägers am 18.03.2021 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg erhoben. Der streitige Bescheid sei bereits rechtswidrig, da die Beklagte die maßgebliche 10-Wochen-Frist nicht eingehalten habe. Der Kläger habe den Bescheid vom 05.11.2019 nicht vor dem 21.11.2019 erhalten. Dies werde durch das Schreiben seiner Ehefrau an die Kanzlei des Bevollmächtigten vom 08.07.2021 (Bl. 70 LSG-Akte) bestätigt. Hierin führe sie aus, das Schreiben der Beklagten vom 05.11.2019 hätten sie und ihr Mann über die Anwaltskanzlei am 28.11.2019 erhalten. Gleich am 29.11.2019 hätten sie sich mit der Kanzlei telefonisch in Verbindung gesetzt. Dies ergebe sich aus der auf dem Schreiben befindlichen handschriftlichen Notiz. Hier habe sie vermerkt, dass die Kanzlei Widerspruch einlegen werde. Hätten sie das Schreiben selbst von der Beklagten als Einschreiben erhalten, hätten sie sich umgehend mit der Kanzlei in Verbindung gesetzt und das Kuvert mit Poststempel aufgehoben. Im Übrigen befinde sich auch in der Akte vor dem 21.11.2019 kein Hinweis darauf, dass der Kläger den Bescheid vom 05.11.2019 übersendet habe. Entgegen der Auffassung des SG habe die Beklagte darüber hinaus das ihr zustehende Ermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt, sondern lediglich formelhafte Formulierungen verwendet.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 03.03.2021 sowie den Bescheid der Beklagten vom 05.11.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.04.2020 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der streitige Bescheid sei rechtmäßig. Sie könne zwar nicht belegen, wann die Aufforderung nach § 51 SGB V vom 05.11.2019 der Gegenseite zugestellt worden sei.
Auch seitens der Deutschen Post AG könnten nach Ablauf von zwölf Monaten keine Zustelldaten mehr zur Verfügung gestellt werden. Ein tatsächlicher Posteingang am 21.11.2019 erscheine jedoch sehr unwahrscheinlich, zumal der Klägervertreter in seinem Widerspruchsschreiben vom 05.12.2019 abweichend von den Angaben im Sitzungsprotokoll einen Posteingang am 25.11.2019 angebe. Zudem habe sie hinsichtlich des Aufforderungsschreibens zweimal telefonischen Kontakt mit der Anwaltskanzlei gehabt. Die erste Gesprächsnotiz sei vom 21.11.2019. Daraus sei zu entnehmen, dass der Anwaltskanzlei an diesem Tag das Schreiben der Beklagten vom 05.11.2019 nicht vorgelegen habe. Dies stehe im Widerspruch zu dem darauf versehenen Eingangsstempel der Anwaltskanzlei vom 21.11.2019. Der zweite telefonische Kontakt zwischen der Beklagten und der Anwaltskanzlei habe am 03.12.2019 stattgefunden. In diesem Telefonat habe die Anwaltskanzlei mitgeteilt, dass das Schreiben der Beklagten vom 05.11.2019 dort nun zweimal vorläge. Sie, die Beklagte, habe einen weiteren Versand veranlasst, nachdem von der Gegenseite mitgeteilt worden sei, dass das Schreiben vom 05.11.2019 noch nicht eingegangen sei. Auf die systemseitig festgehaltenen Gesprächsnotizen werde verwiesen.

Die Berichterstatterin hat den Sach- und Rechtsstand mit den Beteiligten am 02.07.2021 erörtert. Auf Hinweis der Klägerbevollmächtigten, es seien unterschiedliche Schreiben mit dem Vermerk „Einschreiben-Rückschein“ am 21.11.2019 und am 25.11.2019 in ihrer Kanzlei eingegangen, ist anlässlich dieses Termins Einsicht in deren Originalakte genommen worden. Hierbei ist folgendes festgestellt worden:
1. Das mit dem Eingangsstempel der Kanzlei vom 21.11.2019 versehene Aktenkonvolut besteht aus zwei Schreiben vom 05.11.2019, die „zusammengetackert“ sind. Hierbei handelt es sich zum einen um das Schreiben der Beklagten, mit dem diese u.a. mitteilt, das ärztliche Attest vom 21.10.2019 erhalten zu haben (Adressat: Kanzlei); zum anderen handelt es sich um den an den Kläger persönlich gerichteten Bescheid nach § 51 SGB V vom 05.11.2019 (mit Vermerk: „Einschreiben-Rückschein“).
2. Bei dem mit Eingangsstempel der Kanzlei vom 25.11.2019 versehenen Schreiben handelt es sich um dasjenige vom 05.11.2019, mit dem die Beklagte, u.a. mitteilt, das ärztliche Attest vom 21.10.2019 erhalten zu haben. Der Bescheid der Beklagten nach § 51 SGB V wurde hier nicht übersendet.
Die Vertreterin der Beklagten hat hierzu ergänzend erläutert, es seien zwei Einschreiben-Rückschein an die Kanzlei versendet worden. Sie gehe davon aus, dass eines am 05.11.2019 abgesendet worden sei. Die entsprechenden Rücklaufkärtchen seien bei der Beklagten nicht archiviert worden. Sie befänden sich auch nicht in der elektronischen Akte, die bei ihr geführt werde. Die Berichterstatterin hat hierauf darauf hingewiesen, dass sie sich auch nicht in der ihr vorliegenden Akte befänden (hierin befindet sich lediglich der an den Kläger persönlich gerichtete Bescheid vom 05.11.2019).


Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe


1. Die form- und fristgerecht (vgl. § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) eingelegte Berufung des Klägers ist statthaft und auch im Übrigen zulässig.

2. Gegenstand des Rechtsstreits ist der Bescheid der Beklagten vom 05.11.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.04.2020, mit dem die Beklagte den Kläger aufgefordert hat, einen Antrag auf Gewährung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 51 SGB V zu stellen. Nicht streitig ist im hiesigen Verfahren demgegenüber die Rückforderung von Krankengeld.

3. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid vom 03.03.2021 ist auch begründet. Das SG hat die als reine Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG zulässige Klage zu Unrecht abgewiesen. Denn der Bescheid der Beklagten vom 05.11.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.04.2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in subjektiven Rechten.

Der Bescheid hat nicht seine Erledigung gefunden, weil der Kläger zwischenzeitlich einen Reha-Antrag gestellt hat. Der Bescheid bildet weiterhin die Grundlage für das Behaltendürfen des gezahlten Krankengeldes, das nach Erhebung des Widerspruchs aufgrund der damit verbundenen aufschiebenden Wirkung auch nach Ablauf der gesetzten Frist bis zum 07.07.2020 weitergezahlt worden ist (vgl. Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 16.12.2014 - B 1 KR 31/13 R -, in juris). Der Kläger ist dem Risiko ausgesetzt, nach einer Beendigung des Verfahrens das gezahlte Krankengeld erstatten zu müssen, denn er hat den Reha-Antrag erst am 13.08.2020 nach Beendigung des Krankengeldbezugs gestellt. Der Kläger wäre im Falle der Bestandskraft des hier streitgegenständlichen Bescheides mit einem Wegfall des Anspruchs auf Zahlung von Krankengeld für die Zeit nach Ablauf der zehnwöchigen Frist zur Reha-Antragstellung bis zum Zeitpunkt der tatsächlichen Antragstellung bzw. bis zum Ablauf des gezahlten Zeitraums konfrontiert (vgl. § 51 Abs. 3 Sätze 1, 2 SGB V), sodass von einer Rückforderung durch die Beklagte auszugehen wäre. In einem Verfahren über die Rückforderung des Krankengeldes würde die Rechtmäßigkeit der Aufforderung nicht geprüft (BSG, Urteil vom 16.12.2014 - B 1 KR 31/13 R -, in juris).

Die Entscheidung der Beklagten beruht auf § 51 SGB V in der vom 11.05.2019 bis 30.06.2020 geltenden Fassung vom 06.05.2019. Dieser ermächtigt die Krankenkasse ausdrücklich dazu, nach Ermessen ihren Versicherten, die Krankengeld beziehen und deren Erwerbsfähigkeit nach ärztlichem Gutachten erheblich gefährdet oder gemindert ist, eine Frist von zehn Wochen zu setzen, innerhalb derer die Versicherten einen Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitsleben zu stellen haben (§ 51 Abs. 1 SGB V). Stellen Versicherte innerhalb der Frist den Antrag nicht, entfällt der Anspruch auf Krankengeld mit Ablauf der Frist. Wird der Antrag später gestellt, lebt der Anspruch auf Krankengeld mit dem Tag der Antragstellung wieder auf (§ 51 Abs. 3 SGB V). Nach Sinn und Zweck will § 51 SGB V damit zum einen die doppelte Gewährung von Sozialleistungen vermeiden und gleichzeitig eine sachgerechte Abgrenzung von Krankenkasse und Rentenversicherung im Fall der länger andauernden Arbeitsunfähigkeit insoweit vornehmen, als Rentenzahlungen im Fall einer dauerhaften Erwerbsminderung gegenüber den Krankengeldleistungen einen Vorrang haben (grundlegend dazu BSG, Urteil vom 07.12.2004 - B 1 KR 6/03 R -, in juris Rn. 22). Zu diesem Zweck wird der Krankenkasse mit dem Instrumentarium des § 51 SGB V das Recht eingeräumt, Einfluss auf den Beginn der antragsabhängigen Rente wegen Erwerbsminderung zu nehmen und einen Wegfall ihrer Leistungszuständigkeit bereits vor dem Ende des Höchstanspruchs auf Krankengeld (vgl. dazu § 48 SGB V) aktiv herbeizuführen. Um der Krankenkasse dieses Recht effektiv zu erhalten und es gegen anderweitige (gegenläufige) Dispositionen (u. a. der Versicherten) abzusichern, folgt aus § 51 SGB V, ohne dass dies ausdrücklichen Niederschlag im Gesetzestext gefunden hätte, nach Sinn und Zweck, dass Versicherte einen einmal auf die Aufforderung der Krankenkasse gestellten Reha- oder Teilhabeantrag nur mit Zustimmung der (auffordernden) Krankenkasse zurücknehmen oder beschränken dürfen (näher BSG, Urteil vom 07.12.2004 - B 1 KR 6/03 R -, in juris Rn. 22/23). Zum anderen dient die Berechtigung der Krankenkasse, Versicherte zur Stellung eines Rehaantrags aufzufordern auch dazu, mittels Leistungen der medizinischen Rehabilitation die Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit zu beseitigen. Dies ist Ausdruck des allgemeinen Grundsatzes, wonach die Leistungen zur Teilhabe Vorrang haben vor Rentenleistungen, die bei erfolgreichen Leistungen zur Teilhabe nicht oder voraussichtlich erst zu einem späteren Zeitpunkt zu erbringen sind (BSG, Urteil vom 16.12.2014 - B 1 KR 31/13 R - in juris Rn. 27).

Die Voraussetzungen des § 51 SGB V sind nicht erfüllt.

Zwar liegt mit dem Gutachten des MDK vom 19.09.2019 ein ärztliches Gutachten im vorgenannten Sinne vor. Auch erfolgte eine Belehrung über die Rechtsfolgen nach Absatz 3 der Vorschrift (ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 51 Abs. 1 Satz 1 SGB V, vgl. BSG, Urteil vom 07.12.2004 - B 1 KR 6/03 R -, in juris). Dies ist zwischen den Beteiligten jeweils nicht im Streit. Ferner hat die Beklagte zur Antragstellung auch eine Frist von 10-Wochen gesetzt. Mit Dispositionsbescheid vom 05.11.2019 hat die Beklagte den Kläger aufgefordert, bis zum 17.01.2020 einen Antrag auf Gewährung von Maßnahmen zur Rehabilitation zu stellen. Die Tatsache, dass der Bescheid dem Bevollmächtigten des Klägers nachweislich durch den Eingangsstempel der Anwaltskanzlei erst am 21.11.2019 bekanntgegeben wurde, führt nicht dazu, dass die Frist nicht ordnungsgemäß gesetzt worden wäre. Dies führt nur zu einer anderen Berechnung der Frist. Die Frist beginnt mit dem Tag nach der Bekanntgabe (§ 37 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch <SGB X>) des Verwaltungsaktes, wenn kein anderer Beginn festgesetzt wird (§ 26 Abs. 2 SGB X) – hier mithin am 22.11.2019; sie endet nach Ablauf von zehn Wochen (Berechnung nach § 26 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 188 Bürgerliches Gesetzbuch <BGB>, § 26 Abs. 3 SGB X) – hier am 30.01.2020 (vgl. hierzu Brinkhoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 51 SGB V, Stand: 27.05.2021, Rn. 28). Über die Maßgeblichkeit einer Frist von zehn Wochen als solcher war der im Übrigen anwaltlich vertretene Kläger durch den auf der Rückseite des Dispositionsbescheids vom 05.11.2019 abgedruckten Gesetzestext ausreichend informiert. Innerhalb dieser Frist hat der Kläger der Aufforderung nicht Folge geleistet.

Allerdings fehlt es an einer ordnungsgemäßen Ermessensausübung. Mit der Anordnung von Ermessen ("kann") räumt das Gesetz der Krankenkasse in § 51 Abs. 1 Satz 1 SGB V einen Entscheidungsspielraum ein, den die Gerichte dahingehend zu überprüfen haben, ob die Verwaltung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 02.03.2021 - L 11 KR 1388/20 -, in juris Rn. 33; LSG Bayern, Urteil vom 15.01.2019 - L 5 KR 244/18 -, in juris Rn. 49; LSG Bayern, Urteil vom 30.05.2017 - L 20 KR 545/16 -, in juris Rn. 42). Hat die Krankenkasse ihr Ermessen gar nicht ausgeübt, ist die Aufforderung nach § 51 Abs. 1 SGB V rechtswidrig. Ein solcher Fall liegt hier vor. Im Bescheid der Beklagten vom 05.11.2019 wurde kein Ermessen ausgeübt. Mit der Formulierung eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme sei „jetzt der beste Weg“ und es sei „sicherlich in <Ihrem> Sinne, jetzt einen Antrag auf medizinische Maßnahmen zur Rehabilitation … zu stellen“ wird der Eindruck erweckt, als habe die Beklagte gar keine andere Wahl als den Kläger zu Rehabilitationsmaßnahmen aufzufordern. Im Widerspruchsbescheid vom 20.04.2020 konnte die Ermessenausübung nicht mehr nachgeholt werden. Deswegen kann dahingestellt bleiben, ob – wie das SG meint – die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Ermessensausübung gerade noch erfüllt sind. Zwar kommt grundsätzlich die Nachholung einer zunächst unterbliebenen Ausübung von Ermessen in Betracht. Wird die im Ausgangsbescheid unterlassene Ermessensausübung im Widerspruchsbescheid nachgeholt, so gilt der Bescheid seit dem Zeitpunkt seines Erlasses als mangelfrei. Dies kann aber nicht gelten, wenn dadurch – wie hier – nachträglich eine bereits zeitlich überholte Fristsetzung gerechtfertigt werden soll. Unerheblich ist, dass sich die Dauer der Frist bereits aus dem Gesetz selbst ergibt. Maßgebend ist, dass die Frist mit der Aufforderung zur Stellung eines Reha-Antrages verknüpft ist. In einem solchen Fall ist für die Prüfung der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts nicht auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, sondern auf den Zeitpunkt des Erlasses des Ausgangsbescheides abzustellen. Die Versicherten sollen prüfen können, ob sie der Aufforderung zur Stellung eines Reha-Antrages nachkommen müssen oder ob sie aus ihrer subjektiven Sicht gute Gründe haben, der Aufforderung nicht nachzukommen und das Risiko eingehen, den Anspruch auf Auszahlung von Krankengeld zu verlieren (vgl. BSG, Urteil vom 19.08.2015 - B 14 AS 1/15 R -, in juris Rn. 27, zu einer ähnlichen Situation bei der Aufforderung nach § 5 Abs. 3 Satz 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch <SGB II>, einen Antrag auf vorrangige Leistungen bei einem anderen Leistungsträger zu stellen; ferner LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.01.2013 - L 11 KR 592/12 B ER -, in juris Rn. 27; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 02.02.2021 - L 11 KR 1388/20 -, in juris Rn. 35 und Urteil vom 02.02.2021 - L 11 KR 578/20 -, in juris). Die Beklagte konnte daher die Ermessenausübung im Widerspruchsbescheid vom 20.04.2020 nicht mehr nachholen.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG.

5. Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

 

Rechtskraft
Aus
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