L 8 U 2729/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
8.
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 8 U 1156/21
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 U 2729/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 17.08.2022 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Höhe einer Verletztenrente aufgrund eines Ereignisses vom 02.11.2018.

Die 1959 geborene Klägerin absolvierte vom 10.05. bis 04.07.2011 eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme in der B1 K1 aufgrund einer rezidivierenden depressiven Episode bei Mobbing am Arbeitsplatz seit 2010 und Tod beider Eltern im Jahr 2009.

Am 02.11.2018 befand sich die Klägerin mit ihrem PKW auf dem Heimweg von ihrer Arbeit als Sachbearbeiterin. Auf einem kurvigen Streckenstück kam ihr plötzlich ein Motorrad entgegen, welches ins Rutschen geriet, wobei die Fahrerin stürzte. Die Fahrerin geriet unter den PKW der Klägerin und verstarb am Unfallort an ihren Verletzungen.

Nachdem sich die Klägerin am 07.11.2018 beim P1 vorgestellt hatte, der ein posttraumatisches Psychosyndrom diagnostizierte, erhielt sie ab dem 14.11.2018 eine psychologische Akutintervention durch die S1. Diese stellte wiederkehrende Erinnerungen an den Unfall, Unfähigkeit, einen Aspekt des Ereignisses zu erinnern, eine eingeschränkte Bandbreite des Affekts, ein Gefühl einer eingeschränkten Zukunft, Ein- bzw. Durchschlafprobleme und Konzentrationsschwierigkeiten fest (Zwischenbericht vom 19.11.2018). Ab dem 05.12.2018 war die Klägerin in wöchentlicher Behandlung bei der G1. In einer telefonischen Auskunft vom 14.03.2019 teilte diese der Beklagten mit, dass nach ihrer Auffassung bei der Klägerin die Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) erfüllt seien. Ziel der Behandlung sei die Stabilisierung der Klägerin und dass sie die Unfallstrecke wieder befahren könne. Bisher fahre die Klägerin andere Routen, um die Unfallstelle zu vermeiden. In einer Mail vom 29.04.2019 teilte G1 mit, die Klägerin habe ihren ersten Freund durch einen ähnlichen Motorradunfall verloren. Die Erinnerungen daran seien durch den jetzigen Unfall wieder hochgekommen. Die von ihr durchgeführten Tests hätte eine leichte Verbesserung gezeigt. Insgesamt sei die Klägerin aber noch schwer beeinträchtigt.

Am 31.05.2019 stellte sich die Klägerin in der Psychotrauma-Ambulanz der BG-Klinik L1 vor. Im psychologischen Bericht vom 12.06.2019 wurden als Diagnosen eine rezidivierende Störung, gegenwärtig mittelgradig, sowie eine sonstige Reaktion auf eine schwere Belastung genannt. Unfallunabhängige Faktoren, die zur Verursachung oder Aufrechterhaltung der diagnostizierten Störungen beitrügen, seien eine vorbestehende Mobbingerfahrung und Verluste von Familienangehörigen mit psychosomatischem Aufenthalt bei depressiver Episode, eine unklare berufliche Situation sowie internistische Beschwerden und Operationen. Es wurde die Fortführung der ambulanten Psychotherapie sowie eine stationäre Behandlung mit Fokussierung auf die noch bestehende posttraumatische Symptomatik vorgeschlagen.

Vom 13.08. bis 17.09.2019 war die Klägerin zur stationären psychosomatischen Behandlung in der Akutpsychosomatik des Evangelischen Krankenhauses D1. Im Entlassbericht wurden als Diagnosen eine sonstige Reaktion auf schwere Belastung und eine rezidivierende Störung, gegenwärtig mittelgradig genannt. Die Kriterien für eine PTBS seien nur teilweise erfüllt. Die Klägerin habe über aufdrängende Nachhallerinnerungen und sich wiederholende Albträume sowie Ein- und Durchschlafstörungen berichtet. Sie vermeide Situationen, in denen sie auf den Unfall angesprochen werde. Sie fahre Auto, jedoch nur die nötigsten Strecken, und nehme immer wieder Umwege in Kauf, um nicht an der Unfallstelle vorbei zu müssen, und vermeide Strecken mit vielen Motoradfahrern. Im Verlauf sei es zu einer Besserung gekommen. Es habe ein regelmäßiges Fahrtraining sattgefunden, wobei die Klägerin zuletzt kurvenreiche Strecken durch den Wald habe fahren können, auf denen auch viele Motoradfahrer unterwegs seien. Die Fortsetzung der ambulanten Psychotherapie wurde empfohlen.

G1 berichtete am 08.12.2019, dass die Klägerin mit dem Aufenthalt in D1 nicht zufrieden gewesen sei. Es sei ihr nicht um das Autofahren gegangen, welches nie ein Problem gewesen wäre, sondern nur um die Situationen auf den Straßen im häuslichen Umfeld mit Serpentinen, wo sehr riskante Überholmanöver von zahlreichen Motoradfahrern üblich seien.

Der behandelnde H1 berichtete am 01.10.2019 von einer weiter bestehenden mittelgradigen Depression bzw. am 17.12.2019 von einer Depression in Rückbildung, sowie jeweils von einer Reaktion auf schwere Belastung.

Am 19.09.2019 ließ die Beklagte die Klägerin zur Frage des Kausalzusammenhangs und der Rentengewährung durch die O1 begutachten. In ihrem Gutachten vom 10.12.2019 führte diese aus, durch den Unfall sei es initial zu einer akuten Belastungsreaktion (F43.0 ICD-10) gekommen, die in eine sonstige Reaktion auf schwere Belastung gemündet sei (F43.8 ICD-10), die Teilaspekte einer PTBS beinhalte in Verbindung mit emotionaler Symptomatik, hier auch depressive Anteile. Es habe bei der Klägerin Vorerkrankungen gegeben, die aber zum Unfallzeitpunkt keine Rolle mehr gespielt hätten. In der Vergangenheit habe es 2011 eine psychosomatische Behandlung wegen einer mittelgradig depressiven Episode gegeben. Der Gesundheitserstschaden sei hier isoliert zu betrachten und alleinig auf das Unfallereignis zu beziehen, ohne Betrachtung einer Vorschädigung, da die Behandlung diesbezüglich als abgeschlossen gegolten und weit zurückgelegen habe. Die Klägerin sei derzeit noch arbeitsunfähig, jedoch sei Arbeitsfähigkeit zeitnah zu erwarten. Ab Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit nach Ende der Wiedereingliederung betrage die MdE 30 v.H. Bis zur Beendigung des dritten Jahres nach dem Unfall könne unter intensivierter Behandlung eine MdE von 10 v.H. erreicht werden. Eine weitere intensivierte Psychotherapie sei zu empfehlen.

In einer beratungsärztlichen Stellungnahme vom 05.03.2020 schätzte S2 die MdE mit 20 v.H. ein. Bei der Klägerin lägen relevante seelische Vorerkrankungen und eine deutlich erhöhte seelische Vulnerabilität vor. Zudem verweise er auf den zu erwartenden degressiven Charakter posttraumatischer Störungen. Die Gutachterin O1 habe ihre MdE-Einschätzung nicht begründet. Auch entsprechend der Referenzliteratur sei eine MdE in Höhe von 20 v.H., wie sie bei einer stärkergradigen sozialkommunikativen Beeinträchtigung zusätzlich zur psychisch emotionalen Störung vergeben werde, angemessen.

Nachdem die Klägerin bis zum 20.04.2020 Verletztengeld erhalten hatte, gewährte die Beklagte ihr mit Bescheid vom 25.05.2020 ab dem 21.04.2020 eine Rente bei einer MdE von 20 v.H. als vorläufige Entschädigung. Bei der Bewertung der MdE seien folgende Beeinträchtigungen berücksichtigt worden:
Nach akuter Belastungsreaktion: Einschränkungen der Konzentrationsfähigkeit und der emotionalen Belastbarkeit, Ängste und geminderte Reagibilität. Unfallunabhängig bestünde eine mittelgradige depressive Episode.

Mit ihrem am 29.06.2020 erhobenen Widerspruch begehrte die Klägerin eine höhere MdE. Bei ihr sei mit Bescheid vom 05.10.2020 vom Landratsamt Heilbronn ein GdB von 50 seit dem 02.11.2018 festgestellt worden, weshalb die Rente entsprechend neu zu berechnen sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 23.03.2021 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Im Versorgungsrecht gälten andere Bewertungsmaßstäbe und Beurteilungskriterien als in der gesetzlichen Unfallversicherung.

Am 23.04.2021 hat der Bevollmächtigte der Klägerin Klage beim Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben, mit der die Gewährung einer Rente bei einer MdE von 50 begehrt wird, und geltend gemacht, die bei der Klägerin vorliegende Depression sei ausschließlich auf den Unfall zurückzuführen.

Das SG hat von Amts wegen ein Gutachten durch den S3 vom 18.02.2022 aufgrund zweier Untersuchungen am 26.11.2021 und 21.12.2021 eingeholt. Bei der Begutachtung hat die Klägerin angegeben, nach dem Tod ihrer Eltern 2009 zusammengebrochen zu sein. Am Arbeitsplatz sei es zu Mobbing gekommen. Dort bestünden auch nach der Reha 2011 Belastungen und Mobbingsituationen. Sie sei seit der Reha nie ganz depressionsfrei gewesen. Das Autofahren habe sie nach dem Unfall zunächst komplett vermeiden. Mittlerweile fahre sie wieder selbst, habe mehr Sicherheit und fahre seit Sommer 2019 auch wieder die Unfallstrecke. Die Psychotherapie sei seit 2020 beendet. Sie sei in halbjährlichen Abständen bei H1 in psychiatrischer Behandlung. S3 hat bei seiner Begutachtung Hinweise auf negative Antwortverzerrung im Sinne von mittelschweren Verdeutlichungstendenzen gesehen und eine Dysthymia (F34.1 ICD-10) und eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig remittiert (F33.4 ICD-10), diagnostiziert. Für einen relevanten Rückgang der depressiven Symptomatik seit Mitte September 2019 (Ende der stationären Behandlung in D1) spreche die vergleichsweise dezent ausgeprägte depressive Symptomatik im Rahmen der nervenärztlichen Begutachtung durch Frau O1 sowie die von H1 dokumentierte Depression in Rückbildung am 17.12.2019. Aktuell sei eine depressive Episode nicht festzustellen, es liege lediglich eine Dysthymia vor. Bezüglich einer PTBS sei nur das Vermeidungskriterium bis April 2019 erfüllt. Das Hypersensitivitäts- und Amnesiekriterium sei nicht erfüllt. Es liege keine PTBS nach ICD-10 oder DSM 5 vor. Seit April 2019 sei nur noch eine PTBS-Restsymptomatik im Sinne einer sonstigen Reaktion auf schwere Belastung (F43.8 ICD-10) vorhanden. Unabhängig vom Unfall lägen ein Tinnitus und eine bereits vorbestehende depressive Erkrankung durch Tod der Eltern und Mobbing auf der Arbeit vor, die sich durch den Unfall vorübergehend verschlimmert habe, seit September 2019 jedoch wieder abgeklungen sei. Die jetzt noch bestehende Dysthymie werde durch unfallunabhängige Faktoren aufrechterhalten. Aktuell liege unfallbedingt nur ein Restzustand einer PTBS vor. Die MdE hat der Gutachter vom Unfallzeitpunkt bis Mitte September 2019 mit 30 v.H., danach bis Dezember 2021 mit 20 v.H. und ab der jetzigen Begutachtung mit 10 v.H. eingeschätzt. Die Kritik von S2 an der MdE-Einschätzung der Gutachterin O1 könne nachvollzogen werden.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 17.08.2022 abgewiesen. Zur Begründung hat es sich auf das Gutachten von S3 gestützt, der überzeugend ausgeführt habe, dass bei der Klägerin bereits vor dem Unfall eine erhöhte Vulnerabilität für depressive Erkrankungen bestanden habe. Der Gutachter habe unter Berücksichtigung der Befunde und der Ergebnisse der testpsychologischen Verfahren überzeugend dargelegt, dass eine Diskrepanz zwischen diesen und dem von der Klägerin geschilderten schwergradig depressionsbezogenen Selbsterleben bestehe. Es ließe sich auch nur eine sehr dezente Belastung durch traumaspezifische Beschwerden in Form von Albträumen objektivieren. Eine gewisse Diskrepanz habe der Sachverständige zutreffend auch zwischen dem Ausmaß der geschilderten Beschwerden einerseits und einer nur niedrigen Intensität in Anspruch genommener Hilfe andererseits gesehen. Im Ergebnis habe der Sachverständige zutreffend ausgeführt, dass die Beschwerdeangaben der Klägerin wegen Verdeutlichungstendenzen mit hoher Wahrscheinlichkeit unzutreffend seien. Die Restsymptomatik einer PTBS könne nach den einschlägigen Erfahrungssätzen eine MdE von bis zu 20 v.H. zur Folge haben. Weitere unfallbedingte Störungen lägen aktuell nicht mehr vor. Soweit S3 eine MdE von 30 v.H. angenommen habe, betreffe dies einen Zeitraum vor dem hier streitgegenständlichen Rentenbeginn.

Die Klägerin hat gegen den ihrem Bevollmächtigten am 19.08.2022 zugestellten Gerichtsbescheid am 19.09.2022 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Seit 2011 sei sie nicht mehr depressiv gewesen. Sie habe nur im normalen Rahmen auf den Tod ihrer Eltern reagiert. Gegenüber dem Gutachter S3 habe sie sich diesbezüglich ungenau ausgedrückt. Ihre jetzige Depression sei ausschließlich auf den Unfall zurückzuführen.

Die Klägerin beantragt, teils sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 17.08.2022 und den Bescheid der Beklagten vom 25.05.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23.03.2021 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin ab dem 21.04.2020 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 von 100 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

            die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Das Verfahren ist mit den Beteiligten am 18.09.2023 nichtöffentlich erörtert worden. Darin hat die Beklagtenvertreterin mitgeteilt, dass ein endgültiger Bewilligungsbescheid bezüglich der gewährten Rente bisher von der Beklagten nicht erlassen worden ist. Die Beteiligten haben in diesem Termin einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die gemäß § 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat gemäß § 124 Abs. 2 SGG mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig, aber nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine Verletztenrente bei einer höheren MdE als 20 v.H. Der angegriffene Gerichtsbescheid ist nicht zu beanstanden.

Arbeitsunfälle sind nach § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Nach Satz 2 dieser Vorschrift sind Unfälle zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Für einen Arbeitsunfall ist somit erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalles der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis (Unfallereignis) geführt (Unfallkausalität) und das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten (Primärschaden) verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität). Das Entstehen länger andauernder Gesundheitsstörungen als Unfallfolgen aufgrund des Gesundheitserstschadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist dagegen keine Voraussetzung für die Anerkennung eines Arbeitsunfalles, sondern für die Gewährung der Verletztenrente (ständige Rechtsprechung, vgl. BSG, Urteil vom 30.01.2007 - B 2 U 23/05 R - m. w. N., juris).

Nach der im Sozialrecht anzuwendenden Theorie der wesentlichen Bedingung werden als kausal und rechtserheblich nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (st. Rspr. vgl. stellvertretend BSG vom 12.04.2005 - B 2 U 27/04 R - BSGE 94, 269 = SozR 4-2700 § 8 Nr. 15, jeweils RdNr. 11). Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs bzw. Gesundheitsschadens abgeleitet werden (BSGE 1, 72, 76).

Die Theorie der wesentlichen Bedingung beruht ebenso wie die im Zivilrecht geltende Adäquanztheorie (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R –, BSGE 96, 196-209, SozR 4-2700 § 8 Nr. 17 sowie zu den Unterschieden BSGE 63, 277, 280 = SozR 2200 § 548 Nr. 91) auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie als Ausgangsbasis. Nach dieser ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolges, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio sine qua non). Aufgrund der Unbegrenztheit der naturwissenschaftlich-philosophischen Ursachen für einen Erfolg ist für die praktische Rechtsanwendung in einer zweiten Prüfungsstufe die Unterscheidung zwischen solchen Ursachen notwendig, die rechtlich für den Erfolg verantwortlich gemacht werden bzw. denen der Erfolg zugerechnet wird, und den anderen, für den Erfolg rechtlich unerheblichen Ursachen.

Bei mehreren Ursachen ist sozialrechtlich allein relevant, ob das Unfallereignis wesentlich war. Ob eine konkurrierende (Mit-)Ursache auch wesentlich war, ist unerheblich. Ist jedoch eine Ursache oder sind mehrere Ursachen gemeinsam gegenüber einer anderen von überragender Bedeutung, so ist oder sind nur die erstgenannte(n) Ursache(n) "wesentlich" und damit Ursache(n) im Sinne des Sozialrechts. Die andere Ursache, die zwar naturwissenschaftlich ursächlich ist, aber (im zweiten Prüfungsschritt) nicht als "wesentlich" anzusehen ist und damit als Ursache nach der Theorie der wesentlichen Bedingung und im Sinne des Sozialrechts ausscheidet, kann in bestimmten Fallgestaltungen als "Gelegenheitsursache" oder Auslöser bezeichnet werden. Für den Fall, dass die kausale Bedeutung einer äußeren Einwirkung mit derjenigen einer bereits vorhandenen krankhaften Anlage zu vergleichen und abzuwägen ist, ist darauf abzustellen, ob die Krankheitsanlage so stark oder so leicht ansprechbar war, dass die "Auslösung" akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte, sondern dass jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zu derselben Zeit die Erscheinung ausgelöst hätte. Bei der Abwägung kann der Schwere des Unfallereignisses Bedeutung zukommen (ständige Rechtsprechung; vgl. stellvertretend zum Vorstehenden insgesamt BSG, Urteile vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R, SozR 4 2700 § 8 Nr. 17; B 2 U 40/05 R, UV Recht Aktuell 2006, 419; B 2 U 26/04R, UV Recht Aktuell 2006, 497; alle auch veröffentlicht in juris).

Beweisrechtlich ist zu beachten, dass der je nach Fallgestaltung ggf. aus einem oder mehreren Schritten bestehende Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und den Unfallfolgen als anspruchsbegründende Voraussetzung positiv festgestellt werden muss. Für die Feststellung des Ursachenzusammenhangs - der haftungsbegründenden und der haftungsausfüllenden Kausalität - genügt hinreichende Wahrscheinlichkeit (st. Rspr. BSGE 19, 52 = SozR Nr. 62 zu § 542 a. F. RVO; BSGE 32, 203, 209 = SozR Nr. 15 zu § 1263 a. F. RVO; BSGE 45, 285, 287 = SozR 2200 § 548 Nr. 38, BSGE 58, 80, 83 = SozR 2200 § 555a Nr. 1). Diese liegt vor, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden; die reine Möglichkeit genügt nicht (BSG, Urteile vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R und B 2 U 26/04 R - a.a.O. m.w.H.). Dagegen müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß i. S. des "Vollbeweises", also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen werden (BSG SozR 3-5670 Anl. 1 Nr. 2108 Nr. 2 m. w. N.).

Die Klägerin hat durch das Ereignis vom 02.11.2018, bei dem sie auf dem versicherten Heimweg von der Arbeit mit ihrem PKW in einen tödlichen Verkehrsunfall verwickelt wurde, einen Arbeitsunfall erlitten. Davon geht auch die Beklagte aus, die im Bescheid vom 25.05.2020 das Ereignis vom 02.11.2018 als Arbeitsunfall zugrunde gelegt hat.

Der Senat stellt fest, dass bei der Klägerin als Folge des Unfalls lediglich noch eine Restsymptomatik einer PTBS, nach F43.8 ICD-10 zu klassifizieren als sonstige Reaktion auf schwere Belastung, besteht. Der Senat stützt sich dabei auf das Gutachten von
S3 vom 18.02.2022.

Nach der Rechtsprechung des BSG sind insbesondere im Bereich psychischer Störungen die Gesundheitsschäden genau zu definieren, was zwingend voraussetzt, dass die Störung durch Einordnung in eines der gängigen Diagnosesysteme (z.B. ICD-10, DSM-5) unter Verwendung der dortigen Schlüssel und Bezeichnungen exakt beschrieben wird. Denn je genauer und klarer die Gesundheitsstörungen bestimmt sind, umso einfacher sind ihre Ursachen zu erkennen und zu beurteilen. Dies schließt begründete Abweichungen von diesen Diagnosesystemen, z.B. aufgrund ihres Alters und des zwischenzeitlichen wissenschaftlichen Fortschritts, nicht aus. Bei der Entscheidungsfindung haben Tatsachengerichte den jeweils aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft zugrunde zu legen. Als aktueller Erkenntnisstand sind solche durch Forschung und praktische Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse anzusehen, die von der großen Mehrheit der auf dem betreffenden Gebiet tätigen Fachwissenschaftler anerkannt werden, über die also, von vereinzelten, nicht ins Gewicht fallenden Gegenstimmen abgesehen, Konsens besteht. Einer Änderung des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes ist Rechnung zu tragen (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2022 - B 2 U 9/20 R m.w.N., juris).

Die ICD stellt ein weltweit anerkanntes System dar, mit dem medizinische Diagnosen einheitlich benannt werden. Das DSM ist ein auf psychische Störungen begrenztes Klassifikationssystem, welches im Vergleich zur ICD stärker operationalisiert ist. Dieses kann alternativ oder ergänzend zur ICD herangezogen werden und stellt den repräsentativen aktuellen medizinischen Erkenntnisstand im Bereich der Psychiatrie dar. Das DSM-5 stellt dabei nach der Rechtsprechung des Unfallsenats des BSG den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand dar, insbesondere bezüglich der Diagnose der PTBS (BSG, Urteil vom 28.06.2022 a.a.O.).


Nach ICD-10, welche in Deutschland seit dem 01.01.2000 angewandt und jährlich überarbeitet wird, müssen für die Diagnose einer PTBS nach F43.1 folgende diagnostische Kriterien erfüllt sein:
Traumakriterium: Betroffene waren einem Ereignis von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das bei nahezu jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde.
Wiedererlebenskriterium: anhaltende Erinnerungen oder Wiedererleben der Belastung durch aufdringliche Nachhallerinnerungen, lebendige Erinnerungen, sich wiederholende Träume oder durch innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen.
Vermeidungskriterium: Umstände, die der Belastung ähneln oder mit ihr im Zusammenhang stehen, werden tatsächlich oder möglichst vermieden, wobei das Verhalten nicht vor dem belastenden Erlebnis bestand.
Hypersensitivitäts-/Amnesiekriterium: Entweder (1) teilweise oder vollständige Unfähigkeit, einige wichtige Aspekte der Belastung zu erinnern oder (2) anhaltende Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung (nicht vorhanden vor der Belastung) mit zwei oder mehr der folgenden Merkmale: a) Ein- und Durchschlafstörungen, b) Reizbarkeit oder Wutausbrüche, c) Konzentrationsschwierigkeiten, d) Hypervigilanz, e) erhöhte Schreckhaftigkeit
Zeitkriterium: die Kriterien B, C und D treten innerhalb von sechs Monaten nach dem Belastungsereignis auf.

Nach DSM-5, welches seit Mai 2013 gültig ist, werden folgende diagnostische Kriterien für das Vorliegen einer PTBS verlangt:
Eingangskriterium: Die Betroffenen waren über einen oder mehrere der unten genannten Wege Tod (tatsächlich oder angedroht), schwerwiegenden Verletzungen oder sexueller Gewalt ausgesetzt: (1) Direktes Erleben des traumatisierenden Ereignisses, (2) Persönliches Miterleben, wie das traumatisierende Ereignis anderen zustößt, (3) Erfahren, dass das traumatisierende Ereignis einem engen Familienmitglied oder einem engen Bekannten zugestoßen ist, (4) Wiederholte oder sehr extreme Konfrontation mit aversiven Details des traumatischen Ereignisses.
Wiedererinnerungserleben: Es bestehen eines oder mehrere der folgenden, mit dem Trauma assoziierten Symptome mit Beginn der Symptome nach dem Auftreten des traumatisierenden Ereignisses: (1) Wiederholte, unwillkürliche und aufdrängende Erinnerungen an das traumatische Ereignis; (2) wiederholte Albträume, bei denen Inhalte oder Gefühle des Traums mit dem traumatischen Ereignis assoziiert sind, (3) Dissoziationen (z.B. Flashbacks), in denen sich der Betroffene so fühlt oder sich so verhält, als ob das traumatisierende Ereignis wieder stattfinden würde, (4) ausgeprägtes oder anhaltendes seelisches Leiden bei Konfrontation mit (inneren oder externen) Reizen, die das traumatische Ereignis symbolisieren oder die einem Aspekt des traumatisierenden Ereignis ähnlich sind, (5) deutliche physiologische Reaktion auf (innere oder externe) Reize, die das traumatische Ereignis symbolisieren oder die einem Aspekt des traumatisierenden Ereignis ähnlich sind.
Vermeidungskriterium: Vermeidung von Gedanken, Gefühle oder Erinnerungen, die mit dem Ereignis zusammenhängen und/oder Vermeidung von Aktivitäten, Orte, Konversationen oder Menschen, die Erinnerungen an das Ereignis auslösen.
Negative Auswirkungen auf Kognition und Stimmung (≥ 2 der Folgenden): (1) Gedächtnisverlust von wesentlichen Teilen des Ereignisses (dissoziative Amnesie), (2) persistierende und übertrieben negative Überzeugungen oder Erwartungen über sich selbst, andere oder die Welt, (3) anhaltende verzerrte Gedanken über die Ursache oder Folgen des Traumas, was dazu führt, sich selbst oder anderen die Schuld zu geben, (4) persistierender negativer emotionaler Zustand (z. B. Angst, Entsetzen, Wut, Schuld, Scham), (5) deutlich vermindertes Interesse oder Teilnahme an bedeutenden Aktivitäten, (6) ein Gefühl der Loslösung oder Entfremdung von anderen, (7) persistierende Unfähigkeit, positive Emotionen zu erleben (z. B. Glück, Zufriedenheit, liebevolle Gefühle).
Deutliche Veränderungen in der Erregbarkeit und Reaktivität (mindestens zwei der folgenden): Schlafstörungen, Reizbarkeit oder Wutausbrüche, rücksichtsloses oder selbstzerstörerisches Verhalten, Konzentrationsstörungen, Hypervigilanz, verstärkte Schreckreaktion.
F.        Die Beschwerden B – E dauern für mindestens 1 Monat an, verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen und sind nicht auf die physiologischen Auswirkungen eines Substanzkonsums oder einer anderen medizinischen Erkrankung zurückzuführen.

Seit dem 01.01.2022 ist weltweit die ICD-11 in Kraft getreten, welche in Deutschland zur Abrechnung noch nicht angewandt wird, wobei jedoch eine deutsche Version existiert, die grundsätzlich anwendbar ist (Internetseite des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), Urteil des erkennenden Senats vom 21.07.2023, L 8 U 3422/20). Danach wird die PTBS nach 6B40 wie folgt beschrieben:

Eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) kann sich entwickeln, wenn man einem extrem bedrohlichen oder entsetzlichen Ereignis oder einer Reihe von Ereignissen ausgesetzt war. Sie ist durch alle der folgenden Punkte gekennzeichnet: 1) Wiedererleben des traumatischen Ereignisses oder der traumatischen Ereignisse in der Gegenwart in Form von lebhaften aufdringlichen Erinnerungen, Rückblenden oder Albträumen. Das Wiedererleben kann über eine oder mehrere Sinnesmodalitäten erfolgen und wird typischerweise von starken oder überwältigenden Emotionen, insbesondere Angst oder Entsetzen, und starken körperlichen Empfindungen begleitet; 2) Vermeidung von Gedanken und Erinnerungen an das Ereignis bzw. die Ereignisse oder Vermeidung von Aktivitäten, Situationen oder Personen, die an das Ereignis bzw. die Ereignisse erinnern; und 3) anhaltende Wahrnehmung einer erhöhten aktuellen Bedrohung, die sich z. B. durch Hypervigilanz oder eine verstärkte Schreckreaktion auf Reize wie unerwartete Geräusche zeigt. Die Symptome halten mindestens mehrere Wochen lang an und verursachen erhebliche Beeinträchtigungen in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

Es kann offenbleiben, ob bezüglich der Diagnostik einer PTBS auf eine Einordnung nach DSM-5, ICD-10 oder das deutlich aktuellere ICD-11 als neuester Stand der Wissenschaft abzustellen ist, da das Vorliegen einer PTBS bei der Klägerin im relevanten Zeitraum ab 21.04.2020 nach sämtlichen Diagnosekriterien nicht erfüllt ist.

Das Vermeidungskriterium, welches nach sämtlichen Diagnosesystemen notwendig vorliegen muss, ist bei der Klägerin nur bis Mitte September 2019 erfüllt. Dies entnimmt der Senat dem schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachten von
S3. Dieser hat in Übereinstimmung mit dem Entlassbericht des Krankenhauses D1 festgestellt, dass die Klägerin jedenfalls seit diesem Zeitpunkt wieder mit dem PKW fahren konnte. Das Gleiche ergibt sich auch aus der Auskunft der behandelnden G1 vom 08.12.2019, wonach die Klägerin kein Problem mit dem Autofahren habe und lediglich starke Serpentinen meide, dies aber nach einer begleiteten Fahrt kein Problem mehr darstelle. Dies deckt sich mit der Auskunft der Klägerin gegenüber dem Gutachter S3, dass sie bis zum Sommer 2019 eine Alternativroute genutzt habe, um zur Arbeit zu gelangen, seitdem aber wieder den an der Unfallstelle vorbeiführenden Weg nehme, und der Tatsache, dass die Psychotherapie der Klägerin seit 2020 beendet ist.

Eine Amnesie, wie sie nach ICD-10 erforderlich ist, liegt bei der Klägerin ebenfalls nicht vor. Sie war bei sämtlichen Begutachtungen und Untersuchungen in der Lage, über das Unfallgeschehen zu berichten. Zwar muss das Amnesiekriterium nach DSM-5 und ICD-11 nicht zwingend vorliegen. Eine Hypervigilanz, wie sie jedoch nach ICD-10, DSM-5 und ICD-11 zu fordern ist, konnte von
S3 aber ebenfalls nicht festgestellt werden.

Die Feststellung, dass nur noch Restsymptome einer PTBS bei der Klägerin vorliegen, deckt sich zudem mit der Einschätzung des behandelnden
H1, der im Oktober und Dezember 2019 jeweils nur noch von einer Reaktion auf eine schwere Belastung sowie einer Depression in Rückbildung gesprochen hat. Auch die Gutachterin O1 hat in ihrem Gutachten vom 10.12.2019, welches der Senat im Wege des Urkundsbeweises verwertet, ebenfalls lediglich Restsymptome einer PTBS feststellen können.

Die Klägerin leidet zudem an einer rezidivierenden depressiven Störung (F33.4 ICD-10). Dies entnimmt der Senat den diesbezüglich übereinstimmenden Gutachten von
S3 und der Sachverständigen O1, die sich insoweit mit dem Entlassbericht des Krankenhauses D1 und den Angaben des behandelnden H1 decken. Zwar konnte S3 zum Zeitpunkt seiner Begutachtung nur eine Dysthymia (F34.1 ICD-10) feststellen. Insgesamt kam er jedoch auch zum Ergebnis, dass bei der Klägerin eine rezidivierende depressive Störung vorliegt, die zum Begutachtungszeitpunkt remittiert war. Der Senat konnte sich jedoch nicht davon überzeugen, dass der Unfall vom 03.11.2018 rechtlich wesentlich nach den o.g. Voraussetzungen für die bei Klägerin bestehende rezidivierende depressive Störung ist. Als Ursache für die rezidivierende depressive Störung hat S3 Mobbing am Arbeitsplatz und den Tod der Eltern der Klägerin beschrieben, weswegen die Klägerin 2011 zur stationären Rehabilitation war. Bereits in der Psychotraumaambulanz der BG-Klink L1 ist die rezidivierende depressive Störung bei Mobbing und Verlust von Familienangehörigen als unfallunabhängige Ursache genannt worden. Dies deckt sich mit den Angaben der Klägerin gegenüber S3, sie sei seit der Reha 2011 nie ganz frei von depressiven Phasen gewesen.

Nicht folgen kann der Senat dagegen der Einschätzung der Sachverständigen
O1, der Gesundheitserstschaden sei hier isoliert zu betrachten und alleinig auf das Unfallereignis zu beziehen, ohne Betrachtung einer Vorschädigung, da die Behandlung da als abgeschlossen gegolten und weit zurückgelegen habe. Bereits bei der psychologischen Akutintervention am 14.11.2018 hat die Klägerin angegeben, noch sehr unter dem Tod ihrer Eltern zu leiden. Gegenüber S3 hat sie dies bestätigt. Die G1 hat zudem festgestellt, dass der erste Freund der Klägerin durch einen ähnlichen Motoradunfall ums Leben kam, wobei die Erinnerungen daran durch das jetzige Ereignis wieder hervorgerufen worden sind. Gegenüber der G1 hat die Klägerin auch weiter von Schwierigkeiten am Arbeitsplatz berichtet. Dies deckt sich mit den Angaben gegenüber S3, sie werde bis heute von einer Abteilungsleiterin gemobbt. Damit liegen neben dem Unfallereignis konkurrierende Faktoren vor, die wesentlich zu der depressiven Störung beigetragen und diese im Verlauf verstärkt haben. Probleme am Arbeitsplatz sowie der Verlust der Eltern sind unfallunabhängige Faktoren, die nicht in den Verantwortungsbereich der Beklagten und den Schutzzweck der gesetzlichen Unfallversicherung fallen (vgl. dazu das Senatsurteil vom 25.11.2022 - L 8 U 1289/22 sowie LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 10.02.2021 – L 5 U 29/16, LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 19.05.2020 – L 16 U 210/16 und Hessisches LSG, Urteil vom 13.08.2019 – L 3 U 152/18, juris). Insoweit hat sich lediglich ein allgemeines Lebensrisiko verwirklicht. Damit steht für den Senat fest, dass der Unfall nicht wesentliche Ursache für die bereits vorbestehende rezidivierende depressive Erkrankung war.

Die Klägerin hat aufgrund der bei ihr noch vorliegenden Restsymptomatik einer PTBS keinen Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von mehr als 20 v.H.

Nach § 56 Abs. 1 S. 1
SGB VII haben Versicherte Anspruch auf Rente, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist.

Bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit wird Teilrente geleistet; sie wird in der Höhe des Vomhundertsatzes der Vollrente festgesetzt, der dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit entspricht (§ 56 Abs. 3 S. 2 SGB VII). Dabei ist die Entscheidung der Frage, in welchem Grade die Erwerbsfähigkeit eines Verletzten gemindert ist, eine tatsächliche Feststellung, die das Gericht gemäß § 128 Abs. 1 S. 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft (vgl. BSGE 4, 147, 149; 6, 267, 268). Die Bemessung des Grades der MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der durch den Versicherungsfall bedingten Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeit des Versicherten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 S. 2 SGB VII).

In der Literatur wird das unvollständig ausgeprägte Störungsbild (Teil- oder Restsymptomatik) einer PTBS, entsprechend einer sonstigen Reaktion auf schwere Belastung nach F43.8 ICD-10, mit einer MdE bis 20 v.H. und das üblicherweise zu beobachtende Störungsbild, geprägt durch starke emotional und durch Ängste bestimmte Verhaltensweisen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit und gleichzeitig größere sozial-kommunikative Beeinträchtigung mit einer MdE bis 30 v.H. bewertet (Schönberger, Mertens, Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 170).

Wie oben ausgeführt, liegen bei der Klägerin unfallbedingt noch Restsymptome einer PTBS, entsprechend einer sonstigen Reaktion auf schwere Belastung nach F43.8 ICD-10, und damit ein unvollständig ausgeprägtes Störungsbild vor. Nach diesen Grundsätzen bewertet der Senat die sich daraus ergebenden Einschränkungen gestützt auf das überzeugende Gutachten des Sachverständigen
S3 mit einer MdE von 20 v.H. Der Gutachter hat zutreffend ausführt, dass die bei der Klägerin durch die rezidivierende depressive Erkrankung bedingten Einschränkungen bei der Einschätzung der MdE nicht zu berücksichtigen sind, da diese insoweit nicht auf dem Unfall beruhen. Soweit der Gutachter eine MdE von 30 v.H. angenommen hat, betrifft dies einen Zeitraum vor dem hier streitgegenständlichen Rentenbeginn. Im April 2020 ist aufgrund der nur noch vorliegenden Restsymptomatik die MdE auch in Übereinstimmung mit der o.g. Literatur mit 20 v.H. zu bewerten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
 

 

Rechtskraft
Aus
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