S 19 AS 179/24 ER

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
SG Nordhausen (FST)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19.
1. Instanz
SG Nordhausen (FST)
Aktenzeichen
S 19 AS 179/24 ER
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet der Antragstellerin die mit Bescheid vom 16.12.2023 gewährten Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum Januar 2024 bis einschließlich April 2024 in Höhe von 993,00 € monatlich auszuzahlen.

Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.

Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe ohne Zahlungsbestimmungen unter Beiordnung von Rechtsanwältin U ab 08.02.2024 gewährt.

Gründe

I.

Die Antragstellerin begehrt mit ihrem Antrag vom 08.02.2024 die Auszahlung der mit Bescheid vom 16.12.2024 gewährten Leistungen nach dem SGB II. Ihr sei mit Schreiben vom 04.01.2024 mitgeteilt worden, dass die Leistungen zu Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ab dem 01.02.2024 vorläufig eingestellt werden.

Begründet wurde dies damit, dass sich die Antragstellerin nicht mehr an ihrem Wohnort aufhalte, sondern bei ihrem Partner in E in Hessen, der sie unterstütze und eine große Hilfe für sie im Alltag sei.  Diese Aussage stützt sich auf die E-Mail einer Betreuungskraft der Firma N Bildungsinstitut, die im Rahmen einer gewährten Maßnahme am 03.01.2020 versuchte, die Antragstellerin aufzusuchen.

In dieser Mail ist ein Gespräch mit der ebenfalls in dem Wohnhaus (aber nicht derselben Wohnung lebenden) Mutter der Klägerin wiedergegeben. Danach habe die Mutter der Antragstellerin bestätigt, dass diese sich in E/Hessen aufhalte.

Wörtlich heißt es u.a. in der E-Mail: „Ich fragte nach ihrer Tochter, sie sei gerade beim Arzt. Dann fragte ich, welche Zeit ich morgen nochmal kommen könnte…sie überlegte, dann meinte sie, dass die Tochter auch morgen nicht da sein wird. Ich habe dies niemanden sagen sollen. Sie betonte mehrfach, dass sie nicht wolle, dass Ihrer Tochter Leistungen gekürzt werden. Aktuell sei sie wieder krankgeschrieben, habe aber keinen beim Jobcenter erreicht.“

Hierauf folgt folgende Einschätzung der Betreuungskraft:

„B hält sich wohl vermehrt bei ihrem Partner in E/Hessen auf, da sie laut Aussage der Mutter durch ihre psychischen Probleme nicht mehr die Treppe in oder aus Ihrer Wohnung (O laufen kann???).“

In der Antragserwiderung beruft sich die Antragsgegnerin auf die Aussage der Betreuungskraft S, die als Zeugin zur Bestätigung angeführt wurde, dass das Gespräch so wie in der E-Mail geschildert, erfolgt sei.

Eine Ladung der Mutter der Antragstellerin wird von der Antragsgegnerin dem Ermessen des Gerichts überlassen.

Aus der Antragserwiderung geht ferner hervor, dass die Antragsgegnerin davon ausgehe, dass die Antragstellerin schon seit August 2023 sich nicht mehr an ihrem Wohnort aufhalte. Als Indizien trägt sie hierzu vor, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen eines Hausarztes in W/Hessen vorgelegen habe, sowie auf eine anonyme Anzeige. In der Erwiderung hierauf wird von Antragstellerseite vorgetragen, dass richtig sei, dass die Antragstellerin bei Gelegenheit ihren Freund S1 gelegentlich besuche. Dies erfolge teilweise im Tagespendelbereich unter Nutzung verschiedener Mitfahrgelegenheiten, sodass die Antragstellerin abends wieder zu Hause sei. Sofern sie doch länger verweilen möchte, melde sich die Antragstellerin ab. So hätten die in der Antragserwiderung vom 09.02.2024 genannten Schreiben vom 19.01.2024 und 26.01.2024 die Antragsteller jeweils erreicht. Sie habe sich pünktlich vor dem geplanten Termin abgemeldet. Nur einmal, nämlich am 19.12.2023, sei die Antragstellerin nicht zu Hause angetroffen worden. Dies dürfte kaum ausreichend sein, um die Leistungen komplett zu versagen. Gegenwärtig habe die Antragstellerin auch überhaupt keine finanziellen Mittel, auch nicht, um mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu Ärzten oder zum Antragsgegner zu gelangen. Zeitgleich mit der Antragserwiderung wurde von der Antragstellerin am 20.02.2024 unter dem Az. S 19 AS 211/24 Leistungsklage erhoben.

II.

Der Antrag ist zulässig.

Er ist auch begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruches und eines Anordnungsgrundes. Ein Antrag ist gemäß § 86b Absatz 2 auch schon vor Klageerhebung zulässig.

Dabei begründet der Anordnungsgrund die besondere Dringlichkeit der Anordnung. Es muss also ein Sachverhalt vorliegen, der eine Eilentscheidung notwendig macht und ein weiteres Zuwarten – insbesondere das Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache – unzumutbar erscheinen lässt.

Der Anordnungsanspruch entspricht hingegen dem materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll. Abzustellen ist hier auf den voraussichtlichen Erfolg des Hauptsacherechtsbehelfs. Ein rechtliches Vorgehen des Adressaten gegen eine vorläufige Zahlungseinstellung ist grundsätzlich im Wege der isolierten Leistungsklage möglich (vgl. LSG NRW, aaO.), wobei sich sein Anspruch aus dem ursprünglichen Bewilligungsbescheid ergibt (vgl. Aubel in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 40 (Stand: 01.03.2020), Rn. 105).

Die Antragstellerin hat Anspruch auf Zahlung von Leistungen aus dem Bescheid vom 16.12.2023, da der Antragsgegner von seinem Recht, die Leistungen vorläufig nach § 40 Abs. 2 Nr. 4 SGB II i.V.m. § 331 SGB III einzustellen, in rechtswidriger Weise Gebrauch gemacht hat. Nach § 40 Abs. 2 Nr. 4 SGB II kann die Zahlung von durch Bescheid bewilligten Leistungen nach dem SGB II unter den Voraussetzungen und in den Grenzen von § 331 SGB III vorläufig ganz oder teilweise eingestellt werden. Gem. § 331 Abs. 1 Satz 1 SGB III kann die Zahlung einer laufenden Leistung ohne Erteilung eines Bescheides vorläufig gestellt werden, wenn die Agentur für Arbeit Kenntnis von Tatsachen erhält, die kraft Gesetzes zum Ruhen oder zum Wegfall des Anspruchs führen und wenn der Bescheid, aus dem sich der Anspruch ergibt, deshalb mit Wirkung für die Vergangenheit aufzuheben ist.

In Fällen fehlender oder nicht ausreichender Mitwirkung der oder des Leistungsberechtigten bei der Prüfung der Voraussetzungen für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II/Sozialgeld ist deshalb eine vorläufige Zahlungseinstellung nach § 40 Abs. 2 Nr. 4 SGB II i.V.m. § 331 SGB III nicht zulässig. Der Grundsicherungsträger kann lediglich unter den Voraussetzungen des     § 66 Abs. 1 SGB I die bewilligten Leistungen ganz oder teilweise durch Verwaltungsakt entziehen und erst anschließend die Zahlung einstellen (Aubel in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 40 (Stand: 01.03.2020), Rn. 97 m.w.N.). Liegen die Voraussetzungen nach § 40 Abs. 2 Nr. 4 SGB II i.V.m. § 331 SGB III vor, hat der Grundsicherungsträger eine Ermessensentscheidung ("kann") darüber zu treffen, ob und in welchem Umfang er die Zahlung der Leistungen vorläufig einstellt. Die Zahlungen können jeweils nur insoweit eingestellt werden, als der Leistungsanspruch weggefallen oder zum Ruhen gekommen ist (Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 2. März 2021 – L 2 AS 269/21 B –, Rn. 19 - 25, juris).

Nach Absatz 1 Satz 1 muss die Agentur für Arbeit Kenntnis von den Tatsachen erhalten, die kraft Gesetzes zum Ruhen oder zum Wegfall des Anspruchs führen.

Kenntnis in diesem Sinne ist positive Kenntnis, sodass Kennenmüssen oder bloße Vermutungen nicht ausreichen. Hierzu müssen die Informationen über die maßgeblichen Fakten einen Sicherheitsgrad erreicht haben, welcher vernünftige, nach den Erfahrungen des Lebens objektiv gerechtfertigte Zweifel schweigen lässt. Der konkrete Verdacht einer Überzahlung reicht damit noch nicht aus, um die Geldzahlung vorläufig einzustellen (Schaumberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB III, 3. Aufl., § 331 SGB III (Stand: 20.02.2023), Rn. 24).

Ausgehend von diesen Grundsätzen erweist sich die erfolgte Zahlungseinstellung als rechtswidrig. Unabhängig davon, dass sich das Vorbringen des Antragsgegners lediglich auf Vermutungen und Aussagen vom Hörensagen stützt, fehlt es jedenfalls an einer Ermessensausübung des Antragsgegners. Dem Schreiben vom 04.01.2024 sind keinerlei Ermessenserwägungen zu entnehmen.

Weiterhin ergibt sich die Rechtswidrigkeit aus folgenden Umständen:

Auch wenn der in der E-Mail geschilderte Gesprächsverlauf als so erfolgt unterstellt wird, mögen die geschilderten Aussagen der Mutter der Antragstellerin zwar den Verdacht begründen, dass Umstände vorliegen könnten, die zu einer Aufhebung der Bewilligung führen könnten, sie stellen jedoch keine ausreichenden Tatsachenfeststellungen dar und beruhen lediglich auf Vermutungen einer Mitarbeiterin eines Dritten.

Diese Aussagen sind interpretationsfähig und -bedürftig. Nicht jeder Freund, der einen unterstützt, wird dadurch zum Partner. Inwieweit der Antragsgegner insoweit von einer Bedarfsgemeinschaft ausgeht, bleibt unklar. Jedenfalls fehlt es vorliegend an ausreichend belastenden Feststellungen, dass z. B. ein auf Dauer angelegter gemeinsamer Haushalt vorliegt, der über einen bloßen Verdacht oder Unterstellungen hinausgehen. Ebenso ist unklar, in welchem Umfang sich die Antragstellerin nicht mehr in ihrer Wohnung aufgehalten habe.

Aus den materiell rechtlichen Anforderungen für eine Zahlungseinstellung ergibt sich, dass es nicht der gesetzgeberischen Intention entspricht, der Sozialgerichtsbarkeit im Wege der Amtsermittlung die Aufgabe aufzubürden, durch Zeugenladungen und Vernehmungen den Sachverhalt auf einen bloßen Verdacht hin aufzuklären und so die Tatsachengrundlage für eine Leistungseinstellung und oder Aufhebung zu schaffen. Dies gilt im besonderen Maße in Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes zur Gewährleistung des soziokulturellen Existenzminimums. Im Rahmen der Güterabwägung sind daher auch die verfassungsrechtlichen Vorgaben zu berücksichtigen, die mit einer Entziehung der Mittel zum Lebensunterhalt auf bloßen Verdacht nicht vereinbar sind. Der vorübergehende Entzug existenzsichernder Leistungen schafft eine außerordentliche Belastung. Er unterliegt strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit; der sonst weite Einschätzungsspielraum zur Eignung, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit von Regelungen zur Ausgestaltung des Sozialstaates ist hier beschränkt (BVerfG, Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 –, BVerfGE 152, 68-151). Dieser Güterabwägung steht ein Entzug von Leistungen zum Zweck der Durchführung von Tatsachenermittlungen im Rahmen der Dauer gerichtlicher Verfahren entgegen.

Der Anordnungsgrund ergibt sich aus der vorgetragenen Mittellosigkeit der Klägerin, die auch durch Vorlage der PKH Unterlagen hinreichend glaubhaft gemacht worden ist. Danach betragen Barvermögen und Kontostand zusammen weniger als 100 €.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Rechtskraft
Aus
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