Zur Erstattung des Mutterschutzlohns durch die Krankenkasse im Fall einer unverantworbaren Gefährdung einer ihr Kind stillenden Zahnärztin.
Jedenfalls noch im Jahr 2020 bestand für eine ihr Kind stillende Zahnärztin ein Beschäftigungsverbot für Arbeiten am Zahnarztstuhl, weil eine Gefahr der Infektion der Zahnärztin mit Biostoffen nicht ausgeschlossen werden konnte.
Das Beschäftigungsverbot nach dem MuSchG tritt kraft Gesetzes ein und ist vom Vorliegen einer Gefährdungsbeurteilung durch den Arbeitgeber unabhängig.
Zur Berechnung des Mutterschutzlohns.
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 15. September 2023 sowie der Bescheid der Beklagten vom 18. April 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Dezember 2020 abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. März 2020 bis zum 30. November 2020 Mutterschutzlohn in Höhe von 186.372,76 € zu zahlen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Beklagte hat 84 % der außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Zahlung von Mutterschutzlohn während der Stillzeit.
Der Kläger betreibt in A-Stadt (E.) eine Zahnarztpraxis, die neben klassischer Zahnbehandlung auch ästhetische Behandlungen wie Bleaching oder Veneers (Keramikverblendungen) anbietet. Amalganfüllungen werden nicht gelegt.
Seit 30. Juni 2014 beschäftigte der Kläger die bei der Beklagten versicherte Frau D. (im Folgenden: Versicherte) als angestellte Zahnärztin. Die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit betrug 40 Stunden. Vereinbart war in den ersten drei Monaten eine Mindestvergütung von 4.000,00 € brutto. Ferner sah der Arbeitsvertrag eine Vergütung in Höhe von 20% des eigenen Honorarumsatzes über zahnärztliche Leistungen unter Anrechnung der Mindestvergütung vor.
Die Versicherte wurde im Februar 2017 schwanger und erhielt in der Folge seitens der Beklagten Mutterschutzlohn nach § 18 Mutterschutzgesetz (MuSchG). Abrechnungsgrundlage waren die Gehaltsabrechnungen der letzten drei Monate vor Eintritt der Schwangerschaft, die folgende sozialversicherungspflichtige Entgelte ausweisen:
November 2016: 19.306,36 € Festbezug Gehalt, 700,00 € Monatsbonus
Dezember 2016: 21.621,28 € Festbezug Gehalt, 1.200,00 € Monatsbonus
Januar 2017: 12.849,90 € Festbezug Gehalt, 5.617,35 € Urlaubsvergütung /lfd. 16.500 € Jahresbonus; 800,00 € Monatsbonus; 2.000,00 € Steigerungsbonus
Nach der Geburt des Kindes im Dezember 2017 stillte die Versicherte ihr Kind. Sie wurde von dem Kläger weiterhin nicht beschäftigt. Auf den Antrag des Klägers erstattete die Beklagte den Mutterschutzlohn in Höhe von über 24.000 € monatlich.
Im Jahr 2018 wurde die Versicherte erneut schwanger und brachte am 4. März 2019 ihr zweites Kind zur Welt. Sie wurde weiterhin vom Kläger nicht beschäftigt. Dieser teilte der Beklagten mit Schreiben vom 8. Mai 2019 ein bei der Versicherten bestehendes Beschäftigungsverbot für stillende Mütter ab dem Ende des Mutterschutzes mit.
Bis einschließlich des ersten Lebensjahres des zweiten Kindes der Versicherten (Februar 2020) erstattete die Beklagte dem Kläger die Mutterschutzlohnkosten in voller Höhe. Dagegen verweigerte die Beklagte mit Schreiben vom 28. April 2020 die Erstattung für den Zeitraum ab März 2020, da nach § 7 Abs. 2 MuSchG kein Anspruch auf Erstattung über das erste Lebensjahr des Kindes hinaus bestehe. Der Kläger widersprach dem mit Schreiben vom 18. Juni 2020 und verwies darauf, dass die Versicherte ihr Kind nach wie vor stille, weshalb das Beschäftigungsverbot zum Gesundheitsschutz weiterhin bestehe; die für betriebliche Stillpausen geltende Begrenzung auf das erste Lebensjahr nach § 7 Abs. 2 MuSchG greife in dieser Konstellation nicht ein. Mit Schreiben vom 22. Juli 2020 hielt die Beklagte an ihrer Rechtsauffassung fest und wies den Widerspruch gegen den Bescheid vom 28. April 2020 mit Widerspruchsbescheid vom 14. Dezember 2020 zurück. Nunmehr berief sie sich darauf, der Kläger habe nicht dargelegt, dass ein Beschäftigungsverbot nach § 13 MuSchG bestehe. Er habe nicht nachgewiesen, dass Schutzmaßnahmen oder eine Umgestaltung des Arbeitsplatzes unzumutbar gewesen seien. Ein Beschäftigungsverbot sei erst als letzte Maßnahme auszusprechen.
Zwischenzeitlich hatte der Kläger das Arbeitsverhältnis mit der Versicherten zum 30. November 2020 gekündigt.
Gegen den am 18. Dezember 2020 zugestellten Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 18. Januar 2021 Klage zum Sozialgericht Frankfurt am Main erhoben und die Erstattung des Arbeitsentgelts für die Zeit von März 2020 bis einschließlich November 2020 in Höhe von monatlich jeweils 24.668,75 €, insgesamt 222.018,75 €, begehrt. Er hat vorgetragen, dass die Versicherte ihr Kind bis einschließlich November 2020 gestillt habe. Er habe schon zu Beginn der ersten Schwangerschaft 2017 eine Gefährdungsbeurteilung vorgenommen und daraufhin ein vollständiges Beschäftigungsverbot ausgesprochen. Auf dieser Grundlage beruhten auch die weiteren Beschäftigungsverbote während der Stillzeiten der Versicherten. Für das erste Lebensjahr des zweiten Kindes der Versicherten sei seitens der Beklagten die Erstattung der Mutterschutzkosten erfolgt. Der Zahlungsanspruch bestehe aber auch über das erste Lebensjahr hinaus, wenn die Mutter das Kind stille und eine unverantwortbare Gefährdung für Mutter und Kind selbst bei Schutzmaßnahmen nicht ausgeschlossen werden könne. Das sei bei der Tätigkeit einer Zahnärztin, welche Patienten am Stuhl behandele, der Fall. Die Versicherte habe durchweg mit schneidenden, stechenden und rotierenden Instrumenten im Zahn-, Mund- und Kieferbereich gearbeitet und sei Blut und Speichel der Patienten ausgesetzt gewesen. Zudem stellten Zahnfüllungen, Injektionen, Narkose und Betäubungsmittel eine Gefahr der Infektion mit Hepatitis C oder HIV dar. Es verbleibe somit auch nach Auffassung der Bundeszahnärztekammer (Stellungnahme vom August 2019 „Gefährdungsbeurteilung gemäß Mutterschutzgesetz und Beschäftigungsverbot für schwangere angestellte Frauen in der Zahnarztpraxis") ein nicht zu vernachlässigendes Restrisiko für schwerwiegende Erkrankungen. Dementsprechend werde deutschlandweit in allen Zahnarztpraxen gegenüber angestellten Zahnärztinnen, die aufgrund des Arbeitsvertrages zur Erbringung zahnärztlicher Leistungen verpflichtet seien, nach der Geburt ihr Kind stillten und nicht von ihrem Anspruch auf Elternzeit Gebrauch machten, aufgrund der aktuellen Gesetzeslage ein Beschäftigungsverbot ausgesprochen. Eine Umgestaltung des Arbeitsplatzes der Versicherten sei ihm als Arbeitgeber nicht möglich gewesen, da der gesamte Tätigkeitsbereich der Versicherten, die lediglich für die Erbringung zahnärztlicher Tätigkeiten, also die Feststellung und Behandlung von Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten bei Patienten, angestellt gewesen sei, von den Schutzerwägungen betroffen gewesen sei.
Der Kläger hat zwei ärztliche Atteste der Frauenärztin der Versicherten vom 4. August 2020 und 18. November 2020 vorgelegt, wonach die Versicherte ihr Kind stille und dies weiterhin beabsichtige.
Zum Umfang des Anspruchs hat der Kläger vorgetragen, der Mutterschutzlohn ergebe sich aus einer mit der Versicherten im Verlauf des Beschäftigungsverhältnisses auf 30% erhöhten Umsatzbeteiligung sowie Boni, die monatlich anhand des erreichten Umsatzes (Monatsbonus) sowie jährlich anhand des erreichten Umsatzes (Jahresbonus) und bezüglich des Vergleichs des Umsatzes zum Vorjahr (Steigerungsbonus) unter Zugrundelegung von Umsatztabellen errechnet würden.
Die Beklagte hat vorgetragen, der Kläger habe die Unmöglichkeit einer Umgestaltung des Arbeitsplatzes zur Vermeidung unverantwortbarer Gefährdungen der Versicherten bzw. einer alternativen Beschäftigung mit nicht gefährdenden Tätigkeiten nicht schlüssig dargelegt. Es fehle auch an einer Darlegung, dass überhaupt eine Gefährdungsbeurteilung stattgefunden habe. Die Höhe der geltend gemachten Erstattung werde bestritten, so seien die Umsätze nicht nachgewiesen und nicht nachvollziehbar, woraus sich eine Umsatzbeteiligung von 30% ergeben solle.
Das Sozialgericht hat in der mündlichen Verhandlung Frau D. als Zeugin vernommen. Diese hat ausgesagt, sie habe ihr Kind im Zeitraum ab März 2020 bis November 2020 vorwiegend nachts gestillt. Sie habe bereits nach 6 bis 7 Monaten angefangen, dem Kind Beikost zu geben, ihre Tochter habe dies aber verweigert und nur kleingeschnittenes Fingerfood gegessen. Die Nahrung in der Kita (soweit diese wegen Corona geöffnet gewesen sei) habe sie vollständig verweigert und auch keine Milchersatzprodukte haben wollen. Sie habe bei dem Kläger als Zahnärztin hauptsächlich am Stuhl gearbeitet und dort u. a. Zahnfüllungen, Wurzelkanalbehandlungen und Zahnersatz vorgenommen und dabei auch Spritzen gesetzt, zudem sei sie in der Ausbildung der etwas mehr als 3 Auszubildenden tätig gewesen. Die Abrechnungen und Kostenvoranschläge hätten die Zahnarzthelferinnen erledigt. Vor der ersten Schwangerschaft habe sie zuletzt entsprechend einer Vereinbarung mit dem Kläger 30 % vom Umsatz bekommen, weitere Zahlung habe sie nicht erhalten. Sie habe den Kläger darüber informiert, dass sie stille, und auf seine Veranlassung darüber eine ärztliche Bescheinigung ihrer Frauenärztin eingeholt.
Mit Urteil vom 15. September 2023 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Streitgegenständlich sei der Bescheid der Beklagten vom 28. April 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. Dezember 2020; das Schreiben der Beklagten vom 22. Juli 2020 stelle keinen (weiteren) Verwaltungsakt dar, da die Beklagte lediglich ihre Rechtsauffassung mitgeteilt habe. Der Kläger könne von der Beklagten nicht die Erstattung des an die Versicherte im Zeitraum 1. März bis 30. November 2020 gezahlten Mutterschutzlohns fordern. Eine Zahlungspflicht der Beklagten scheide allerdings nicht bereits deshalb aus, weil - wie die Beklagte angenommen habe - die Zahlung von Mutterschutzlohn aufgrund von § 7 Abs. 2 MuSchG über die ersten 12 Lebensmonate des Kindes ausgeschlossen sei. Während § 7 Abs. 2 MuSchG eine Entgeltfortzahlung für Stillpausen vorsehe, gehe es bei einem Beschäftigungsverbot nach den §§ 9, 12, 23 MuSchG um den Gesundheitsschutz und damit um Gefahren, die für die stillende Frau entstünden bspw. durch Infektionen, die über die Muttermilch übertragen würden; dies betreffe somit den gesamten Zeitraum des Stillens. Es komme daher allein darauf an, ob in dem streitgegenständlichen Zeitraum ein Beschäftigungsverbot nach § 13 Abs. 1 Nr. 3 MuSchG vorgelegen habe, was aber zu verneinen sei. Zwar habe die Versicherte bei ihrer Vernehmung glaubhaft dargelegt, dass sie ihr Kind auch in der streitgegenständlichen Zeit gestillt habe. Eine unverantwortbare Gefährdung der Versicherten durch Gefahrstoffe im Sinne von § 12 Abs. 1 MuSchG ergebe sich dadurch aber nicht. Quecksilber als Gefahrstoff sei in der Praxis nicht verarbeitet worden. Eine unverantwortbare Gefährdung durch Biostoffe (§ 12 Abs. 2 MuSchG) sei bei der Tätigkeit einer Zahnärztin ebenfalls nicht gegeben. Hierfür hat sich das Sozialgericht auf eine Publikation des „Ad-hoc-Arbeitskreises Stillschutz“ aus November 2019 sowie die „Arbeitshilfe Gefährdungsbeurteilung Stillzeit für beschäftigte stillende Frauen in zahnmedizinischen Praxen“, Stand April 2022, S. 2ff, eingerichtet bei den Regierungspräsidien Baden-Württemberg, berufen. Beim Stillen sei eine erhöhte Infektionsgefährdung am Arbeitsplatz der stillenden Mutter in Hinblick auf solche Erreger zu beurteilen, die über die Muttermilch oder Blut (Verletzungen beim Stillprozess oder erregerhaltige Hautläsionen an der Brust der stillenden Frau) auf das Kind übertragbar seien bzw. die bei Erkrankung der Mutter negative Auswirkungen auf die Milchbildung und -abgabe (Laktation) hätten und dadurch die Stillqualität beeinträchtigen könnten. Es seien allerdings nur diejenigen Übertragungswege zum Kind zu berücksichtigen, die mit dem Vorgang des Stillens direkt verbunden seien. Übertragungen, die nur aufgrund des engen (Körper-)Kontakts des Kindes mit der stillenden Frau aufgrund des Stillvorgangs bestünden, blieben unberücksichtigt. Aus diesem Grund könne eine Gefährdung durch SARS-CoV-2 während der Corona-Pandemie, die während des streitgegenständlichen Zeitraums geherrscht habe, nicht angenommen werden. Das Risiko einer Übertragung des Virus über die Muttermilch sei unklar, aber unwahrscheinlich, sodass keine Regelvermutung für eine unverantwortbare Gefährdung bestehe. Vielmehr sei die Hauptinfektionsgefahr der enge Körperkontakt und die damit verbundene Gefahr der Schmier- und Tröpfcheninfektion. Die Infektionsgefahr durch engen Kontakt falle nicht in den Schutzzweck des MuSchG. Eine Gefahr durch Biostoffe komme allerdings durch die Infektionsgefahr mit Hepatitis B- und C-Infektionen sowie potentielle Infektion mit dem Hl-Virus in Betracht. Gegen Hepatitis B sei eine Impfung möglich. HIV-Infektionen könnten durch Blut, wesentlich seltener auch durch die Muttermilch auf das Kind übertragen werden. Eine unverantwortbare Gefährdung könne allerdings durch Schutzmaßnahmen ausgeschlossen werden, also durch das Tragen von Masken, Schutzbrillen, Handschuhen und Schutzkitteln. Selbst bei einer potentiellen Infektion bzw. des Verdachts einer Infektion wie nach Nadelstich- oder Schnittverletzungen sei es möglich, eine Gefährdung des Kindes durch vorläufiges Aussetzen des Stillens oder notfalls eine Beendigung des Stillens zu vermeiden. Es sei hinsichtlich der Versicherten zu berücksichtigen, dass der Schutz des Stillens nach dem ersten Lebensjahr des Kindes abnehme, zumal eine Ernährung durch Beikost o. ä. dann in Betracht komme. Zudem sei es neben Schutzmaßnahmen auch möglich gewesen, dass die Versicherte lediglich bestimmte Tätigkeiten mit hohem Infektionsrisiko nicht mehr ausführte. So hätte die Versicherte Aufgaben im Bereich der ästhetischen Zahnheilkunde oder auch bei der Anleitung von Auszubildenden zur Zahnarzthelferin übernehmen können. Sonstige gefährdende Arbeitsbedingungen seien nicht ersichtlich. Im Übrigen – ohne dass es darauf noch ankomme - habe der Kläger die Höhe des Mutterschutzlohnes fehlerhaft berechnet, weil in die Berechnung nicht berücksichtigungsfähige Einmalzahlungen eingeflossen seien und die Zahlung eines monatlichen Bonus zweifelhaft sei.
Gegen das am 1. November 2023 zugestellte Urteil hat der Kläger am 1. Dezember 2023 Berufung eingelegt.
Er meint, der Auffassung des Sozialgerichts, dass es bei der Tätigkeit der Versicherten als Zahnärztin schon an einer unverantwortbaren Gefährdung im Sinne des MuSchG fehle, sei unzutreffend. Das Sozialgericht stütze sich zur Begründung seiner Entscheidung maßgeblich auf Erkenntnisse und Arbeitshilfen der Regierungspräsidien Baden-Württemberg aus 2022, die im relevanten Zeitpunkt für das von ihm ausgesprochene Beschäftigungsverbot noch gar nicht vorgelegen hätten und zudem von hessischen Landesbehörden und der Zahnärztekammer Hessen bis heute so nicht vertreten würden. So habe sich die Bundeszahnärztekammer im August 2019 gegen eine Lockerung des Beschäftigungsverbots bei Zahnärztinnen gewandt wegen der spezifischen Gefährdung durch blutübertragbare Hepatitis C und Hi-Viren. Aus einer im März 2020 veröffentlichten Stellungnahme des Hessischen Ministerium für Soziales und Integration, welches auch heute noch auf der Homepage des Ministeriums sowie auch der Homepage der Landeszahnärztekammer Hessen zur Verfügung gestellt werde, gehe hervor, dass eine Beschäftigung am Stuhl für Zahnärztinnen nicht in Betracht komme. Dieses Beschäftigungsverbot entspreche auch der gelebten systematischen Verwaltungspraxis der Krankenkassen. Für den Kläger habe mangels entgegenstehender Hinweise und auch mangels entgegenstehender Anforderungen durch die Beklagte daher überhaupt keinen Anlass bestanden, seine bereits getroffene Entscheidung für das erteilte Beschäftigungsverbot nochmals zu überdenken. Dies gelte umso mehr, als die Beklagte die Erstattung der Mutterschutzlohnkosten zu Beginn der Corona-Pandemie verweigert habe, als es noch keinen Impfstoff gegen SARS-Cov-2 gegeben habe. Das Hessische Ministerium für Soziales und Integration habe in einer Publikation vom 24. März 2020 offiziell davor gewarnt, schwangere und stillende Frauen mit Patientenkontakt oder Publikumsverkehr zu beschäftigen, da die Auswirkungen des Virus zum damaligen Zeitpunkt noch völlig unbekannt gewesen seien. Die Beklagte habe das arbeitgeberseitige Beschäftigungsverbot unbestritten akzeptiert und zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt, geschweige denn sonstige weiteren Anforderungen an den Kläger gestellt. Im Gegenteil habe sie den vom Kläger an die Versicherte gezahlten Mutterschutzlohn auch bis Ende Februar 2020 vollumfänglich erstattet und damit einen erheblichen Vertrauenstatbestand geschaffen, auf den sich der Kläger habe verlassen dürfen.
Unrichtig sei die Annahme des Sozialgerichts, dass es sich bei den vorliegenden Vergütungsbestandteilen, die in die Berechnung einbezogen wurden, um Einmalzahlungen handele, die nicht in die Durchschnittsberechnung einzufließen hätten. Es habe sich um regelmäßig gezahlte leistungsabhängige Entgeltbestandteile gehandelt. Auch die vom Sozialgericht geäußerten Zweifel an der Zahlung der monatlichen Prämie seien nicht gerechtfertigt. Er habe die entsprechenden Lohnabrechnungen vorgelegt, aus denen sich die Auszahlung und auch die Angabe, dass es sich um laufenden Bezug handele, eindeutig ergebe.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgericht Frankfurt am Main vom 15. September 2023 und den Bescheid vom 18. April 2020 in der Fassung vom 22. Juli 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Dezember 2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger den für die Versicherte in der Zeit vom 1. März 2020 bis zum 30. November 2020 geleisteten Mutterschutzlohn in voller Höhe von monatlich jeweils 24.668,75 €, somit ein Gesamtbetrag i.H.v. 222.018,75 € zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt die Entscheidung des Sozialgerichts. Der Kläger habe kein Beschäftigungsverbot ausgesprochen, geschweige denn dokumentiert. Zudem liege es fern, die Dokumentationspflicht nach § 14 MuSchG im Rahmen der hier vorliegenden Anspruchsgrundlage des § 1 Abs. 2 AAG gänzlich auszublenden.
Der Senat hat die Gehaltsabrechnungen der Versicherten für das Jahr 2016 und die Verwaltungsvorgänge der Beklagte betreffend die Zahlung des Mutterschutzlohns ab 2017 beigezogen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten der Beklagten, der Gegenstand der Entscheidung des Senats war, Bezug genommen. Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Der Senat entscheidet über die Berufung im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG).
Die Berufung des Klägers hat überwiegend Erfolg. Das Urteil des Sozialgerichts kann keinen Bestand haben. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Dieser hat Anspruch auf Erstattung der Aufwendungen des der Versicherten von März bis November 2020 gezahlten Arbeitsentgelts, allerdings nicht in dem beantragten Umfang, sondern nur in der aus dem Tenor ersichtlichen Höhe. In dem darüber hinausgehenden Umfang war die Berufung zurückzuweisen.
Angefochten ist bei sachgerechter Auslegung des Antrags des Klägers (§ 123 SGG) der Bescheid vom 18. April 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Dezember 2020. Bei dem Schreiben der Beklagten vom 22. Juli 2020 handelt es sich, wie bereits das Sozialgericht zutreffend festgestellt hat, nicht um einen Verwaltungsakt, sondern um die Darlegung einer Rechtsauffassung der Beklagten. Soweit der Kläger dieses Schreiben in seinem Berufungsantrag dennoch aufführt, handelt es sich ersichtlich um einen Übertragungsfehler. Dies ergibt sich aus der Berufungsbegründung, in der ausdrücklich nur auf den Bescheid vom 18. April 2020 Bezug genommen wird.
Anspruchsgrundlage für das Begehren des Klägers ist § 1 Abs. 2 Nr. 2 Aufwendungs- und Ausgleichsgesetz (AAG). Danach erstatten die Krankenkassen mit Ausnahme der landwirtschaftlichen Krankenkasse den Arbeitgebern in vollem Umfang das vom Arbeitgeber nach § 18 des Mutterschutzgesetzes (MuSchG) bei Beschäftigungsverboten gezahlte Arbeitsentgelt (sog. U2-Verfahren). Nach § 18 S. 1 und 2 MuSchG gilt: Eine Frau, die wegen eines Beschäftigungsverbots außerhalb der Schutzfristen vor oder nach der Entbindung teilweise oder gar nicht beschäftigt werden darf, erhält von ihrem Arbeitgeber Mutterschutzlohn. Als Mutterschutzlohn wird das durchschnittliche Arbeitsentgelt der letzten drei abgerechneten Kalendermonate vor dem Eintritt der Schwangerschaft gezahlt.
Nach § 12 Abs. 1 S. 1 MuSchG darf der Arbeitgeber eine stillende Frau keine Tätigkeiten ausüben lassen und sie keinen Arbeitsbedingungen aussetzen, bei denen sie in einem Maß Gefahrstoffen ausgesetzt ist oder sein kann, dass dies für sie oder für ihr Kind eine unverantwortbare Gefährdung darstellt. Als unverantwortbare Gefährdung benennt die Vorschrift im Weiteren insbesondere bestimmte Gefahrstoffe, die als reproduktionstoxisch für Wirkungen auf oder über die Laktation zu bewerten sind, Blei und Bleiderivate, soweit die Gefahr besteht, dass diese Stoffe vom menschlichen Körper aufgenommen werden können, sowie der mögliche Kontakt mit Biostoffen der Risikogruppen 2, 3 oder 4 im Sinne der Biostoffverordnung.
Bei der Versicherten handelte es sich im Sinne dieser Vorschrift im streitgegenständlichen Zeitraum um eine stillende Frau, denn sie hat ausweislich ihrer Zeugenaussage vor dem Sozialgericht und den damit korrespondierenden Bescheinigungen ihrer Frauenärztin noch bis November 2020 ihr Kind gestillt.
Unter Beachtung der in § 13 MuSchG normierten Rangfolge der durch den Arbeitgeber vorzunehmenden Schutzmaßnahmen bestand danach für die Versicherte ein Beschäftigungsverbot. § 13 Abs. 1 MuSchG normiert:
Werden unverantwortbare Gefährdungen im Sinne von §§ 9, 11 oder 12 festgestellt, hat der Arbeitgeber für jede Tätigkeit einer schwangeren oder stillenden Frau Schutzmaßnahmen in folgender Rangfolge zu treffen:
1. Der Arbeitgeber hat die Arbeitsbedingungen für die schwangere oder stillende Frau durch Schutzmaßnahmen nach Maßgabe des § 9 Absatz 2 umzugestalten.
2. Kann der Arbeitgeber unverantwortbare Gefährdungen für die schwangere oder stillende Frau nicht durch die Umgestaltung der Arbeitsbedingungen nach Nummer 1 ausschließen oder ist eine Umgestaltung wegen des nachweislich unverhältnismäßigen Aufwandes nicht zumutbar, hat der Arbeitgeber die Frau an einem anderen geeigneten Arbeitsplatz einzusetzen, wenn er einen solchen Arbeitsplatz zur Verfügung stellen kann und dieser Arbeitsplatz der schwangeren
oder stillenden Frau zumutbar ist.
3. Kann der Arbeitgeber unverantwortbare Gefährdungen für die schwangere und stillende Frau weder durch Schutzmaßnahmen nach Nummer 1 noch durch einen Arbeitsplatzwechsel nach Nummer 2 ausschließen, darf er die schwangere oder stillende Frau nicht weiter beschäftigen.
Vorliegend bestanden am Arbeitsplatz der Versicherten in diesem Sinne unverantwortbare Gefährdungen, welche weder durch Umgestaltung der Arbeitsbedingungen noch durch einen Arbeitsplatzwechsel zu beseitigen waren und damit ein Beschäftigungsverbot auslösten.
Eine Gefährdung ist nach § 9 Abs. 2 S. 2 MuSchG unverantwortbar und damit vom Arbeitgeber auszuschließen, wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit einer Gesundheitsbeschädigung angesichts der zu erwartenden Schwere des möglichen Gesundheitsschadens nicht hinnehmbar ist. Die Eintrittswahrscheinlichkeit muss umso größer sein, je geringer der mögliche Gesundheitsschaden ist, während bei einem schwerwiegenden möglichen Gesundheitsschaden bereits eine geringe Eintrittswahrscheinlichkeit genügt (Bundesverwaltungsgericht – BVerwG -, Urteil vom 27. Mai 1993 - 5 C 42/89, NJW 1994, S. 401f.). Bei der Gefahr besonders großer Schäden für besonders gewichtige Schutzgüter genügt für die Bejahung einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit daher bereits die entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts (vgl. BVerwG, aaO, juris Rn. 14). Eine solche besteht bei den mutterschutzrechtlichen Beschäftigungsverboten, mit denen Infektionsgefahren vorgebeugt werden soll. Die Schädigung von Mutter und Kind durch berufsbedingte Infizierung mit Krankheitserregern kann im Einzelfall äußerst schwerwiegend sein. Speziell in Bezug auf die Tätigkeit in einer Zahnarztpraxis hat das BVerwG daher gefordert, dass eine Möglichkeit, trotz zahnärztlicher Schutzkleidung wie Handschuhen, Mundschutz und Brille mit infiziertem Blut und Speichel eines Patienten in Berührung zu kommen, nach den Maßstäben praktischer Vernunft ausgeschlossen sein muss. Selbst eine nur geringe Wahrscheinlichkeit einer Infektion der werdenden Mutter mit Aids- oder Hepatitisviren reicht daher für ein Beschäftigungsverbot aus (BVerwG aaO, juris Rn. 13).
Sobald die stillende Frau dem Arbeitgeber mitteilt, dass sie stillt, muss gemäß § 10 Abs. 1 und 2 MuSchG der Arbeitgeber eine Gefährdungsbeurteilung durchführen und die nach Maßgabe der Gefährdungsbeurteilung oder nach Maßgabe von § 13 MuSchG erforderlichen Schutzmaßnahmen festlegen. Hierbei ist aufgrund von § 12 MuSchG der Maßstab bei stillenden Frauen allerdings ein anderer als derjenige des § 11 MuSchG bei schwangeren Frauen, denn die Gefährdungen für eine heranwachsende Leibesfrucht sind vielfältiger und größer als die Gefährdungsmöglichkeiten beim Stillen. Bezüglich der Stillzeit der Versicherten ist folglich eine gesonderte Beurteilung der Gefährdungssituation vornehmen. Diese Gefährdungsbeurteilung durch den Arbeitgeber ist jedoch – anders als die Beklagte meint – nicht konstitutiv für ein Beschäftigungsverbot. Denn bei den Beschäftigungsverboten des MuSchG handelt es sich um Vorschriften zur Gefahrenabwehr, nämlich zum Schutz von Leib und Leben der Mutter und des Kindes (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Mai 1993 – 5 C 42/89 –, juris Rn. 11). Dieser Schutzzweck schließt es aus, den Eintritt des Beschäftigungsverbots von einer Entscheidung des Arbeitgebers, einem entsprechenden Ersuchen der Beschäftigten oder einer aufsichtsbehördlichen Verbotsverfügung im Einzelfall abhängig zu machen. Vielmehr tritt das Beschäftigungsverbot, wie sich auch aus der Bußgeldbewehrung in § 32 Abs. 1 Nr. 1 MuSchG ergibt, unmittelbar kraft Gesetzes ein (hierzu BVerwG, aaO unter Bezug auf Beschluss vom 19. Mai 1992 - BVerwG 6 P 5.90 -). Dementsprechend ist das Beschäftigungsverbot auch unabhängig davon, ob der Arbeitgeber seinen Dokumentations- und Informationspflichten nach § 14 MuSchG hinsichtlich der Gefährdungsbeurteilung und der Festlegung der erforderlichen Schutzmaßnahmen nachgekommen ist. Dies wie auch die Nichtdurchführung einer Gefährdungsbeurteilung hat lediglich insofern Bedeutung, als eine Verletzung dieser Pflichten eine Ordnungswidrigkeit oder ggf. Straftat darstellt (vgl. § 32, 33 MuSchG); zudem kann die Aufsichtsbehörde bei Verletzungen der Arbeitgeberpflichten entsprechende Anordnungen treffen (§ 29 Abs. 3 S. 1 MuSchG).
Vorliegend bestand nach diesen Maßstäben bei der Versicherten auch im streitigen Zeitraum ab März 2020 ein gesetzliches Beschäftigungsverbot. Maßstab ist insoweit § 9 Abs. 4 MuSchG: Alle Maßnahmen des Arbeitgebers nach diesem Unterabschnitt sowie die Beurteilung der Arbeitsbedingungen nach § 10 müssen dem Stand der Technik, der Arbeitsmedizin und der Hygiene sowie den sonstigen gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechen. Der Arbeitgeber hat bei seinen Maßnahmen die vom Ausschuss für Mutterschutz ermittelten und nach § 30 Abs. 4 MuSchG im Gemeinsamen Ministerialblatt veröffentlichten Regeln und Erkenntnisse zu berücksichtigen; bei Einhaltung dieser Regeln und bei Beachtung dieser Erkenntnisse ist davon auszugehen, dass die in diesem Gesetz gestellten Anforderungen erfüllt sind.
Seitens des Ausschusses für Mutterschutz gibt es für Beschäftigte in Zahnarztpraxen bis heute keine veröffentlichten Regeln. Eine von ihm herausgegebene Mitteilung vom 21. März 2023 „Gefährdungsbeurteilung“ befasst sich lediglich allgemein mit Maßnahmen der Gefährdungsbeurteilung.
Maßgebend sind damit die gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse im Zeitpunkt der Gefährdungsbeurteilung hinsichtlich der Gefährdung der Versicherten und ihres Kindes bei einer Beschäftigung als Zahnärztin mit Tätigkeiten am Behandlungsstuhl. Hierbei ist auf die Erkenntnismöglichkeiten eines gewissenhaft und sorgfältig handelnden Arbeitgebers abzustellen. Dabei können „gesicherte wissenschaftlichen Erkenntnisse“ nur solche sein, die im Zeitpunkt der Gefährdungsbeurteilung publiziert sind und damit für den Arbeitgeber als Entscheidungsgrundlage zur Verfügung stehen.
An derartigen gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen, wonach bei Tätigkeiten als Zahnärztin eine auch nur geringe Wahrscheinlichkeit einer Infektion der stillenden Mutter mit Biostoffen, hier insbesondere Aids- oder Hepatitisviren, ausgeschlossen werden konnte, fehlte es im März 2020. Das Sozialgericht stützt sich für seine Auffassung, eine unverantwortbare Gefährdung durch Biostoffe sei bei der Tätigkeit einer Zahnärztin nicht gegeben, maßgeblich auf die „Arbeitshilfe Gefährdungsbeurteilung Stillzeit für beschäftigte stillende Frauen in zahnmedizinischen Praxen“, herausgegeben von den Regierungspräsidien Baden-Württemberg, in der die Auffassung vertreten wird, dass in aller Regel eine Weiterbeschäftigung der stillenden Frau in einer Zahnarztpraxis mit geeigneten Schutzmaßnahmen möglich sei. Diese Arbeitshilfe stammt allerdings erst vom 8. Juli 2021. Bis dahin stand von Seiten der Regierungspräsidien Baden-Württemberg lediglich eine Stellungnahme des „Ad-hoc-Arbeitskreis Stillschutz“ (Stand November 2019) „Hinweise und Empfehlungen zum Schutz stillender Frauen vor einer unverantwortbaren Gefährdung durch Gefahr- und Biostoffe insbesondere im Hinblick auf eine Wirkung auf oder über die Laktation“ zur Verfügung. Dieses kam zu dem Ergebnis, dass eine Gefahr durch Biostoffe nur in „besonderen Fällen“ bestehe, weil Tätigkeiten und Arbeitsbedingungen im Hinblick auf Biostoffe während der Stillzeit anders zu bewerten seien als während der Schwangerschaft; bei Einhaltung der vorgeschriebenen Arbeitsschutzmaßnahmen sei ein erhöhtes Risiko für das gestillte Kind durch eine akute Infektion der stillenden Frau nicht zu erwarten. Diese Stellungnahme verhielt sich allerdings allgemein zu stillbezogenen Gefährdungen durch Gefahrstoffe und Biostoffe und enthielt keine Bewertungen in Bezug auf einzelne Berufe, sondern lediglich allgemeine Einschätzungen und Handlungsempfehlungen. Eine eindeutige wissenschaftliche Erkenntnislage in Bezug auf den Beruf einer Zahnärztin lässt sich daraus nicht ableiten.
Demgegenüber publizierte das Hessische Ministerium für Soziales und Integration im März 2020 einen Flyer, in dem speziell bezogen auf Tätigkeiten in Zahnarztpraxen ausgeführt wird, es sei zu beachten, dass die schwangere oder stillende Frau bei allen Tätigkeiten gefährdet sei, bei denen die Schutzwirkung der persönlichen Schutzausrüstung aufgehoben werden könne (z.B. Arbeiten mit schneidenden, stechenden, zerbrechlichen und rotierenden Werkzeugen und Geräten). Dies bedeute, dass z.B. folgende Tätigkeiten nicht ausgeführt werden dürften: Behandlung und Assistenz am Stuhl, sofern Arbeiten mit schneidenden, stechenden, zerbrechlichen oder rotierenden Werkzeugen und Geräten ausgeführt würden; professionelle Zahnreinigung; Abräumen und Reinigen von benutzten Instrumenten. Diese Publikation stand auch auf der Homepage des Ministeriums zur Verfügung und war ebenfalls über die Homepage der Landeszahnärztekammer Hessen abrufbar. Eine entsprechende Einschätzung findet sich einer Veröffentlichung des Ministeriums für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2015 „Mutterschutz in Arztpraxen“ (https://www.mags.nrw/system/files/media/document/file/arbeitsschutz_mutterschutz_zahnarztpraxen_0.pdf.). Die Bundeszahnärztekammer führte in einer Stellungnahme aus März 2022 „Der betriebliche Gesundheitsschutz in der Zahnarztpraxis – Zum Beschäftigungsverbot für angestellte Zahnärztinnen in der Stillzeit“ aus, da die zahnärztliche Tätigkeit bereits bei Kontrolluntersuchungen regelmäßig den Einsatz von üblichen zahnärztlichen Instrumenten erfordere, könne regelmäßig auch der potentielle Kontakt mit Blut und Speichel des Patienten nicht hinreichend ausgeschlossen werden. Ein vollständiges Screening auf relevante Krankheitserreger sei in Zahnarztpraxen nicht möglich. Im Hinblick auf die abweichende Auffassung einiger Landesbehörden wie z.B. in Baden-Württemberg forderte die Bundeszahnärztekammer ein bundeseinheitliches Vorgehen sowie eine Empfehlung des Ausschusses für Mutterschutz zur Herstellung von Rechtssicherheit ein.
Angesichts dieses Diskussionsstandes kann bezogen auf März 2020 keinesfalls von einer gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnis gesprochen werden, dass für eine stillende Frau bei einer Tätigkeit als Zahnärztin am Behandlungsstuhl eine auch nur geringe Wahrscheinlichkeit einer Infektion der stillenden Mutter mit Biostoffen ausgeschlossen werden konnte. Vielmehr mussten die betroffenen Arbeitgeber insbesondere aufgrund der amtlichen Verlautbarung des für den Arbeitsschutz zuständigen Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration davon ausgehen, dass eine stillende Zahnärztin am Behandlungsstuhl in aller Regel nicht beschäftigt werden durfte.
Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren Erörterung der Frage, ob eine unverantwortbare Gefährdung der Versicherten im März 2020 auch im Hinblick auf die gerade begonnene Sars-Cov-2-Pandemie anzunehmen war.
Eine Möglichkeit, die Gefährdungssituation der Versicherten durch Einsatz an einem anderen geeigneten Arbeitsplatz (§ 13 Abs. 1 Nr. 2 MuSchG) abzuwenden, hatte der Kläger nicht. Nach dem Ergebnis der gerichtlichen Beweisaufnahme gibt es keine Anhaltspunkte, dass in der Praxis des Klägers ab März 2020 jenseits der eigentlichen zahnärztlichen Behandlungstätigkeit am Stuhl anderweitige, für die Versicherte zumutbare Beschäftigungsmöglichkeiten bestanden. Im streitgegenständlichen Zeitraum bestand die Praxis – abgesehen von der Versicherten – aus zwei Zahnärzten und etwa drei Zahnarzthelferinnen. Die Versicherte war als Zahnärztin mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden eingestellt und musste als solche nur Tätigkeiten ausüben, welche ihrem beruflichen Status entsprachen. Eine unterwertige Tätigkeit (z.B. als Telefonkraft oder Rezeptionistin) durfte der Kläger der Versicherten nicht zuweisen. In einer relativ kleinen Zahnarztpraxis sind ansonsten statusangemessene Beschäftigungsmöglichkeiten für eine in Vollzeit angestellte Zahnärztin nicht erkennbar. Die Erstellung von Abrechnungen und Kostenvoranschlägen wurde in der Praxis von den Zahnarzthelferinnen erledigt. Die vom Sozialgericht angesprochenen Tätigkeiten im Bereich der ästhetischen Zahnheilkunde, wie etwa das Bleaching, das Auftragen von Veneers oder die Zahnfleischbehandlung bei Parodontose, sind solche am Behandlungsstuhl mit direktem Patientenkontakt. Auch die vom Sozialgericht genannten Tätigkeiten im Rahmen der Ausbildung der Zahnarzthelferinnen fallen im Wesentlichen während der Behandlung der Patienten an.
Die Beklagte kann dem nicht entgegenhalten, dass der Kläger diesbezüglich keine den Anforderungen der §§ 10 Abs. 2 S. 4, 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 MuSchG entsprechende Dokumentation der Gefährdungsbeurteilung und der danach möglichen Veränderungen des Arbeitsplatzes bzw. eines Arbeitsplatzwechsels vorgenommen hat. Zwar kann die Nichterstellung einer Gefährdungsbeurteilung die Beweislage des Arbeitgebers verschlechtern, wenn die Bedingungen des Arbeitsplatzes zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr zu rekonstruieren sind. Die Verletzung dieser Pflicht ist aber – wie bereits dargelegt – für den Eintritt des Beschäftigungsverbots nicht konstitutiv, weil unter den Voraussetzungen des § 13 Abs. 1 Nr. 3 MuSchG das Beschäftigungsverbot kraft Gesetzes eintritt. Ob Maßnahmen nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 und 2 MuSchG (Schutzmaßnahmen am Arbeitsplatz oder ein Arbeitsplatzwechsel) in Betracht kommen, ist Teil der nach § 13 Abs. 1 Nr. 3 MuSchG vorzunehmenden (ggf. gerichtlichen) Prüfung. Ergibt diese wie im vorliegenden Fall, dass solche Maßnahmen nicht möglich sind, ist es unbeachtlich, ob der Arbeitgeber seinen Pflichten nach §§ 10 Abs. 2 S. 4, 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 MuSchG genügt hat.
Soweit die Beklagte im Verwaltungsverfahren noch die Auffassung vertreten hat, aus § 7 Abs. 2 MuSchG ergebe sich eine zeitliche Begrenzung der Zahlung des Mutterschutzlohns auf die ersten 12 Lebensmonate des Kindes, hat das Sozialgericht dies mit überzeugender Begründung zurückgewiesen. Denn die in § 7 Abs. 2 MuSchG vorgesehene zeitliche Begrenzung bezieht sich nur auf den Anspruch auf bezahlte Stillzeiten während der Arbeitszeit („Stillpausen“). Die Vorschrift ist dagegen nicht (auch nicht entsprechend) anwendbar, wenn ein Beschäftigungsverbot nach § 13 Abs. 1 Nr. 3 MuSchG eingreift. In diesem Fall geht es nicht um Freistellungsansprüche für Stillzeiten während der Arbeitszeit, sondern um den Mutterschutzlohn nach § 18 MuSchG wegen einer unverantwortbaren Gefährdung der stillenden Frau. Insofern ist dem Arbeitgeber auch über die 12-Monats-Frist des § 7 Abs. 2 MuSchG hinaus ein Schutz des Stillens zuzumuten (allgemeine Meinung, vgl. Erfurter Kommentar/Schlachter, 25. Auf. 2025, § 7 MuSchG Rn. 4; HK-MuSchG/Pepping, 6. Aufl. 2022, MuSchG § 7 Rn. 23; Beck OK ArbSchR/Aligbe, 22. Ed. 1.4.2025, MuSchG § 7 Rn. 23; ausführlich SG Nürnberg, Urteil vom 4. August 2020, juris).
Der Anspruch des Klägers besteht allerdings nicht in der geltend gemachten Höhe. Denn der Kläger hat in die Berechnung des durchschnittlichen Arbeitsentgelts aus den letzten drei abgerechneten Kalendermonaten vor dem Eintritt der Schwangerschaft (§ 18 S. 2 MuSchG) Entgeltbestandteile eingerechnet, die nicht berücksichtigungsfähig sind.
Maßgeblich ist § 21 Abs. 2 Nr. 1 MuSchG. Diese am 1. Januar 2018 in Kraft getretene Vorschrift findet auf den hier vorliegenden Versicherungsfall, in dem das Kind im März 2019 geboren wurde, Anwendung. Danach bleibt für die Ermittlung des durchschnittlichen Arbeitsentgelts für die Leistungen nach den §§ 18 bis 20 einmalig gezahltes Arbeitsentgelt im Sinne von § 23a des Vierten Buches Sozialbuch (SGB IV) unberücksichtigt. Einmalig gezahlte Entgelte sind Zuwendungen, die nicht für die Arbeit in einem einzelnen Entgeltabrechnungszeitraum gezahlt werden (§ 23a Abs. 1 S. 1 SGB IV). Darunter zählen u.a. Gratifikationen, Provisionen und ähnliche Leistungen ohne Bezug auf bestimmte Entgeltabrechnungszeiträume (BeckOK Sozialrecht/Wagner, Stand 1.3.2025, § 23a SGB IV Buchst. C).
Für die Berechnung ist auf das Entgelt der Versicherten in den Monaten November 2016 bis Januar 2017 als ihrem letzten Beschäftigungszeitraum abzustellen. Im November 2016 erzielt die Versicherte eine Vergütung von 19.306,36 € brutto (30% von 64.354,53 € Umsatz) zzgl. 700,00 brutto arbeitsleistungsbezogene monatliche Sonderzahlung (gesamt: 20.006,36 €). Im Dezember 2016 betrug die Vergütung 21.621,28 € brutto (30% von 72.070,94 € Umsatz) zzgl. 1.200,00 € brutto arbeitsleistungsbezogene monatliche Sonderzahlung (gesamt: 22.821,28 €). Die Tatsache, dass der ursprüngliche Arbeitsvertrag lediglich eine Umsatzbeteiligung von 20% vorsah, ist dabei ohne Belang, denn der Kläger und die Versicherte haben übereinstimmend erklärt, dass dieser Prozentsatz im Verlauf des Arbeitsverhältnisses einvernehmlich auf 30% angehoben worden ist.
Soweit das Sozialgericht Zweifel an der Zahlung der monatlichen Sonderzahlung geäußert hat, weil sich die Versicherte bei ihrer zeugenschaftlichen Befragung an diese Zahlungen nicht mehr erinnern konnte, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Die vorliegenden Entgeltnachweise wurden von dem Steuerbüro des Klägers erstellt und weisen entsprechende Abrechnungs- und Überweisungsbeträge aus. Aus den vom Senat noch beigezogenen Gehaltsabrechnungen der Versicherten für das Kalenderjahr 2016 ergibt sich zudem, dass die monatliche Sonderzahlung in jedem einzelnen Monat gezahlt wurde. Angesichts dessen vermag der Umstand, dass sich die Versicherte bei ihrer Befragung durch das Sozialgericht im Jahr 2023 an Einzelheiten der Gehaltszahlungen aus den Jahren 2016/2017 nicht mehr erinnern konnte, keine Zweifel an der Korrektheit der Abrechnungen zu begründen. Die beigezogenen Gehaltsabrechnungen der Jahre 2016 weisen im Übrigen auch ansonsten Gehalts- und Bonizahlungen in ähnlicher Höhe wie im hier maßgeblichen Zeitraum aus, so dass sich für den Senat insgesamt kein Anhalt für eine manipulative Gestaltung der Gehaltsabrechnungen ergibt.
Unzutreffend ist dagegen die von dem Kläger vorgenommene Berechnung des Arbeitsentgelts für Januar 2017. Aus der Gehaltsabrechnung der Versicherten ergibt sich für diesen Monat: 12.849,90 € Festbezug Gehalt; 5.617,35 € Urlaubsvergütung /lfd.; 16.500 € Jahresbonus; 800,00 € Monatsbonus; 2.000,00 € Steigerungsbonus. Hiervon sind der Festbezug und die Urlaubsvergütung sowie der Monatsbonus in Höhe von insg. 19.260,25 € berücksichtigungsfähig. Hingegen stellen sowohl der Jahresbonus als auch der Steigerungsbonus einmalige Leistungen in dem dargestellten Sinne dar, denen der Bezug auf bestimmte Entgeltabrechnungszeiträume fehlt.
Somit ergibt sich folgende Berechnung: (20.006,36 + 22.821,28 + 19.260,25 : 3) = 20.695,96 € durchschnittliches monatliches Arbeitsentgelt x 9 Monate = 186.372,76 €. Diesen Betrag hat die Beklagte als Mutterschutzlohn an den Kläger zu zahlen; in dem darüber hinausgehenden Umfang war die Berufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. In Verfahren über die Erstattung von Aufwendungen für die Entgeltfortzahlung ind die Arbeitgeber als „Leistungsempfänger“ anzusehen (BSG SozR 4-1500 § 183 Nr 3, Rn. 9; Urteil vom 27. Oktober 2009, B 1 KR 12/09 R, juris Rn. 22).
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.