Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
20
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 8 (16,8,12) SO 7/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 20 SO 31/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Es wird festgestellt, dass der Rechtsstreit durch Rücknahme der Berufung des Klägers am 04.06.2009 erledigt ist.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der durch seinen Betreuer vertretene Kläger führte im Verfahren L 20 SO 51/08 vor dem Senat Berufung gegen das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts Münster vom 25.04.2008. Streitgegenstand waren Leistungen für einen Mehrbedarf des Klägers, der Leistungen nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe - (SGB XII) bezieht, wegen Erwerbsunfähigkeit, ohne dass ein Schwerbehindertenausweis mit dem Merkzeichen "G" erteilt ist.
Nachdem der Senat einen Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 08.06.2009 bestimmt hatte, nahm der Betreuer mit Schriftsatz vom 04.06.2009 die Berufung zurück.
Der Senat teilte dem Betreuer mit Schreiben vom 05.06.2009 (entsprechend einer im weiteren Verfahren des Klägers L 20 SO 50/08 im Zusammenhang mit der auch dort erklärten Berufungsrücknahme geäußerten Bitte des Betreuers) mit, im Verfahren L 20 SO 51/08 sei für die Zeit ab dem 01.01.2004 (gemeint: 2005) gestritten worden, ob zu den gewährten Leistungen nach dem SGB XII zusätzlich ein Mehrbedarfszuschlag zu gewähren sei. § 42 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII mache hierfür zur Voraussetzung, dass zusätzlich zur Erwerbsunfähigkeit das Merkzeichen "G" zuerkannt sei; dem Kläger sei dieses aber nicht zuerkannt worden. Eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Fortleistung des bis zum 31.12.2004 gewährten Zuschlags bestehe nicht. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Schreiben vom 05.06.2009 Bezug genommen.
Mit Schriftsatz vom 12.06.2009 teilte der Betreuer des Klägers mit, er fasse das gerichtliche Schreiben vom 05.06.2009 als Hinweis nach § 139 Zivilprozessordnung (ZPO) auf und nehme dazu als weitere Berufungsbegründung Stellung. Er habe überdacht, ob die Berufungsrücknahme mit Betreuungsrecht übereinstimme, und sei dabei auf § 1812 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) gestoßen, der auf die Betreuung nach § 1896 BGB gem. § 1908i Abs. 1 BGB entsprechend anwendbar sei. Fehle eine Genehmigung i.S.v. § 1812 BGB, sei die Verfügung unwirksam. Aus diesem Grund sei die Berufungsrücknahme ohne vormundschaftliche Genehmigung nicht wirksam. In der Sache selbst sei auszuführen, dass der Mehrbedarf nach dem BSHG bei älteren bzw. kranken Menschen Nachteile habe ausgleichen sollen. Der Kläger sei schon vor dem 01.08.1996 erwerbsunfähig gewesen. Bei dauerhaft erwerbsunfähigen Menschen, welche sich niemals selbst von der Erwerbsunfähigkeit befreien könnten, müsse sich das Existenzminimum um einen Mehrbedarfszuschlag erhöhen, weil anders das Ziel des Art. 1 i.V.m. Art. 20 Grundgesetz (GG), ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, nicht erreicht werde. Es handele sich mithin bei der Mehrbedarfsleistung um einen sozialrechtlichen Anspruch von Verfassungsrang, der über Jahrzehnte gewachsen sei; sein plötzlicher Wegfall berühre Art. 14 GG zumindest in dessen Abs. 3, so dass auch der Besitzstand zu wahren sei. Auch mit dem Sozialstaatsprinzip sei es im Hinblick auf das Vertrauen in Maßnahmen des Staates nicht vereinbar, wenn ein jahrzehntelang anerkannter Bedarf an zusätzliche Bedingungen (Schwerbehindertenausweis und Merkzeichen "G") geknüpft werde. Der Kläger sei schließlich genauso erwerbsunfähig wie schwerbehinderte Personen mit Merkzeichen "G", so dass es auch gegen Art. 3 GG verstoße, ihn plötzlich vom Mehrbedarfszuschlag auszuschließen.
Der Kläger beantragt,
das Berufungsverfahren fortzusetzen und das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 25.04.2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger unter Änderung des Bescheides vom 31.05.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.12.2005 für die Zeit ab 01.01.2005 zusätzlich zu den gewährten Leistungen einen Mehrbedarfszuschlag wegen Erwerbsunfähigkeit i.H.v. 20 % des geleisteten Regelsatzes zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
festzustellen, dass der Rechtsstreit durch Rücknahme der Berufung des Klägers am 04.06.2009 erledigt ist,
hilfsweise,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Der Inhalt war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Das Berufungsverfahren kann nicht fortgesetzt werden, da es durch Rücknahme der Berufung des Klägers im Schriftsatz seines Betreuers vom 04.06.2009 beendet worden ist.
Der Kläger sieht zwar die Rücknahme der Berufung als nicht wirksam erklärt an. Bei einem solchen Streit über die Wirksamkeit der Berufungsrücknahme wird das Verfahren vor dem Landessozialgericht (LSG) weitergeführt; das LSG entscheidet durch Urteil, ob der Rechtsstreit durch die Rücknahme der Berufung erledigt ist. Ist dies der Fall, stellt es die Erledigung fest; nur wenn die Rücknahme nicht oder nicht wirksam erklärt ist, entscheidet es zur Sache selbst (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 156 Rn. 6 m.N. der Rspr. des BSG).
Eine Rücknahme der Berufung ist als Prozesshandlung grundsätzlich weder widerrufbar noch anfechtbar. Derartige prozessgestaltende Erklärungen (als ein Verhalten, dessen Voraussetzungen und Wirkungen vom Prozessrecht geregelt werden, vgl. Keller, a.a.O., vor § 60 Rn. 10) binden vielmehr das Gericht und die Beteiligten; das gilt selbst dann, wenn der Rechtsstreit materiell-rechtlich nicht erledigt wurde (BSG, Urteil vom 17.05.1966 - 7 RAr 7/66). Denn das Prozessrecht will die Verfahrenslage weitgehend vor Unsicherheit schützen und lässt deshalb einen Widerruf oder eine Anfechtung derartiger Prozesserklärungen nur in Ausnahmefällen zu (BGH, Urteil vom 27.05.1981 - IVb ZR 589/80). Eine solche - im Falle des Klägers nicht einschlägige - Ausnahme besteht allein dann, wenn die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens gem. § 179 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. §§ 578 bis 591 ZPO vorliegen (BSG, Urteil vom 20.12.1995 - 6 RKa 18/95 m.w.N.).
Allerdings sieht der Kläger die Rücknahme der Berufung durch seinen Betreuer als von vornherein nicht wirksam erklärt an, weil sie einer vormundschaftsgerichtlichen (nach der aktuellen Gesetzesfassung ab 01.09.2009: familiengerichtlichen) Genehmigung nach § 1908i Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 1812 BGB bedurft hätte.
Schreibt diese Regelung eine Genehmigung für Verfügungen über eine Forderung oder ein anderes Recht, kraft dessen der Mündel bzw. der Betreute eine Leistung verlangen kann, vor, so bleibt offen, ob es sich bei dem vom Kläger gerichtlich verfolgten Anspruch (mangels Existenz des vom Kläger geltend gemachten Anspruchs auf einen Mehrbedarf für Erwerbsunfähigkeit trotz fehlender Zuerkennung des Merkzeichen "G") überhaupt um eine Leistung handelt, die der Kläger i.S.v. § 1812 Abs. 1 Satz 1 BGB von der Beklagten "verlangen kann" (in diesem Sinne wohl Lafontaine, in: jurisPK-BGB, 4. Aufl. 2008, § 1812 Rn. 24).
Denn auf Prozesshandlungen - wie die vom Betreuer des Klägers erklärte Berufungsrücknahme - findet § 1908i Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 1812 BGB von vornherein keine Anwendung. Derlei Prozesshandlungen stellen bereits keine "Verfügung" i.S.d. § 1812 BGB dar. Ihre Voraussetzungen und Wirkungen regelt nicht das Bürgerliche Recht, sondern allein das Prozessrecht (Ellenberger, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 68. Aufl. 2009, Einf. vor § 104, Rn. 37 m.w.N.). Deshalb benötigt der Betreuer für die Rücknahme eines Rechtsmittels keine Genehmigung, auch wenn er mit dieser Rücknahme faktisch die weitere gerichtliche Verfolgbarkeit eines zuvor geltend gemachten Anspruchs aufgibt. Zwar kann in diesem Aufgeben hinsichtlich des Anspruchs durchaus zugleich eine rechtsgeschäftliche Handlung und damit auch eine Verfügung i.S.d. § 1812 BGB zum Ausdruck kommen. Die Prozesshandlung als solche ist jedoch hinsichtlich ihrer rechtlichen Wirksamkeit von der rechtsgeschäftlichen Verfügung zu trennen; eine diesbezügliche Diskrepanz kann deshalb allenfalls schadensersatzpflichtig machen, nicht jedoch zur Unwirksamkeit der Prozesshandlung führen (vgl. Diederichsen, in: Palandt, a.a.O., § 1812 Rn. 11 m.N. der Rspr. des BGH). Ob bei sog. Prozesshandlungen mit Doppelnatur (z.B. Prozessvergleiche) anderes zu gelten hat (vgl. hierzu Ellenberger und Diederichsen, jeweils a.a.O.), kann offen bleiben, da jedenfalls der Rücknahme der Berufung eine solche Doppelnatur nicht zukommt; sie bezieht sich nur auf den mit der Berufung geltend gemachten prozessualen Anspruch und ist entsprechend ihrer Regelung in § 156 SGG reine Prozesshandlung (vgl. für den vergleichbaren Fall des prozessualen Anerkenntnisses BGH, Urteil vom 27.05.1981 - IVb ZR 589/80; siehe auch Ellenberger sowie Diederichsen, jeweils a.a.O.).
Ist nach allem die Berufung durch den Betreuer des Klägers am 04.06.2009 wirksam zurückgenommen worden, so bewirkt diese Zurücknahme nach § 156 Abs. 2 Satz 1 SGG den Verlust des Rechtsmittels. Das Urteil des Sozialgerichts Münster ist deshalb mit der Rücknahmeerklärung rechtskräftig geworden. Dem Senat ist aus diesem Grund nach der Berufungsrücknahme jede weitere Auseinandersetzung mit dem vom Kläger ursprünglich geltend gemachten Anspruch auf Mehrbedarfsleistungen wegen Erwerbsunfähigkeit verwehrt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG bestehen nicht.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der durch seinen Betreuer vertretene Kläger führte im Verfahren L 20 SO 51/08 vor dem Senat Berufung gegen das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts Münster vom 25.04.2008. Streitgegenstand waren Leistungen für einen Mehrbedarf des Klägers, der Leistungen nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe - (SGB XII) bezieht, wegen Erwerbsunfähigkeit, ohne dass ein Schwerbehindertenausweis mit dem Merkzeichen "G" erteilt ist.
Nachdem der Senat einen Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 08.06.2009 bestimmt hatte, nahm der Betreuer mit Schriftsatz vom 04.06.2009 die Berufung zurück.
Der Senat teilte dem Betreuer mit Schreiben vom 05.06.2009 (entsprechend einer im weiteren Verfahren des Klägers L 20 SO 50/08 im Zusammenhang mit der auch dort erklärten Berufungsrücknahme geäußerten Bitte des Betreuers) mit, im Verfahren L 20 SO 51/08 sei für die Zeit ab dem 01.01.2004 (gemeint: 2005) gestritten worden, ob zu den gewährten Leistungen nach dem SGB XII zusätzlich ein Mehrbedarfszuschlag zu gewähren sei. § 42 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII mache hierfür zur Voraussetzung, dass zusätzlich zur Erwerbsunfähigkeit das Merkzeichen "G" zuerkannt sei; dem Kläger sei dieses aber nicht zuerkannt worden. Eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Fortleistung des bis zum 31.12.2004 gewährten Zuschlags bestehe nicht. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Schreiben vom 05.06.2009 Bezug genommen.
Mit Schriftsatz vom 12.06.2009 teilte der Betreuer des Klägers mit, er fasse das gerichtliche Schreiben vom 05.06.2009 als Hinweis nach § 139 Zivilprozessordnung (ZPO) auf und nehme dazu als weitere Berufungsbegründung Stellung. Er habe überdacht, ob die Berufungsrücknahme mit Betreuungsrecht übereinstimme, und sei dabei auf § 1812 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) gestoßen, der auf die Betreuung nach § 1896 BGB gem. § 1908i Abs. 1 BGB entsprechend anwendbar sei. Fehle eine Genehmigung i.S.v. § 1812 BGB, sei die Verfügung unwirksam. Aus diesem Grund sei die Berufungsrücknahme ohne vormundschaftliche Genehmigung nicht wirksam. In der Sache selbst sei auszuführen, dass der Mehrbedarf nach dem BSHG bei älteren bzw. kranken Menschen Nachteile habe ausgleichen sollen. Der Kläger sei schon vor dem 01.08.1996 erwerbsunfähig gewesen. Bei dauerhaft erwerbsunfähigen Menschen, welche sich niemals selbst von der Erwerbsunfähigkeit befreien könnten, müsse sich das Existenzminimum um einen Mehrbedarfszuschlag erhöhen, weil anders das Ziel des Art. 1 i.V.m. Art. 20 Grundgesetz (GG), ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, nicht erreicht werde. Es handele sich mithin bei der Mehrbedarfsleistung um einen sozialrechtlichen Anspruch von Verfassungsrang, der über Jahrzehnte gewachsen sei; sein plötzlicher Wegfall berühre Art. 14 GG zumindest in dessen Abs. 3, so dass auch der Besitzstand zu wahren sei. Auch mit dem Sozialstaatsprinzip sei es im Hinblick auf das Vertrauen in Maßnahmen des Staates nicht vereinbar, wenn ein jahrzehntelang anerkannter Bedarf an zusätzliche Bedingungen (Schwerbehindertenausweis und Merkzeichen "G") geknüpft werde. Der Kläger sei schließlich genauso erwerbsunfähig wie schwerbehinderte Personen mit Merkzeichen "G", so dass es auch gegen Art. 3 GG verstoße, ihn plötzlich vom Mehrbedarfszuschlag auszuschließen.
Der Kläger beantragt,
das Berufungsverfahren fortzusetzen und das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 25.04.2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger unter Änderung des Bescheides vom 31.05.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.12.2005 für die Zeit ab 01.01.2005 zusätzlich zu den gewährten Leistungen einen Mehrbedarfszuschlag wegen Erwerbsunfähigkeit i.H.v. 20 % des geleisteten Regelsatzes zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
festzustellen, dass der Rechtsstreit durch Rücknahme der Berufung des Klägers am 04.06.2009 erledigt ist,
hilfsweise,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Der Inhalt war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Das Berufungsverfahren kann nicht fortgesetzt werden, da es durch Rücknahme der Berufung des Klägers im Schriftsatz seines Betreuers vom 04.06.2009 beendet worden ist.
Der Kläger sieht zwar die Rücknahme der Berufung als nicht wirksam erklärt an. Bei einem solchen Streit über die Wirksamkeit der Berufungsrücknahme wird das Verfahren vor dem Landessozialgericht (LSG) weitergeführt; das LSG entscheidet durch Urteil, ob der Rechtsstreit durch die Rücknahme der Berufung erledigt ist. Ist dies der Fall, stellt es die Erledigung fest; nur wenn die Rücknahme nicht oder nicht wirksam erklärt ist, entscheidet es zur Sache selbst (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 156 Rn. 6 m.N. der Rspr. des BSG).
Eine Rücknahme der Berufung ist als Prozesshandlung grundsätzlich weder widerrufbar noch anfechtbar. Derartige prozessgestaltende Erklärungen (als ein Verhalten, dessen Voraussetzungen und Wirkungen vom Prozessrecht geregelt werden, vgl. Keller, a.a.O., vor § 60 Rn. 10) binden vielmehr das Gericht und die Beteiligten; das gilt selbst dann, wenn der Rechtsstreit materiell-rechtlich nicht erledigt wurde (BSG, Urteil vom 17.05.1966 - 7 RAr 7/66). Denn das Prozessrecht will die Verfahrenslage weitgehend vor Unsicherheit schützen und lässt deshalb einen Widerruf oder eine Anfechtung derartiger Prozesserklärungen nur in Ausnahmefällen zu (BGH, Urteil vom 27.05.1981 - IVb ZR 589/80). Eine solche - im Falle des Klägers nicht einschlägige - Ausnahme besteht allein dann, wenn die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens gem. § 179 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. §§ 578 bis 591 ZPO vorliegen (BSG, Urteil vom 20.12.1995 - 6 RKa 18/95 m.w.N.).
Allerdings sieht der Kläger die Rücknahme der Berufung durch seinen Betreuer als von vornherein nicht wirksam erklärt an, weil sie einer vormundschaftsgerichtlichen (nach der aktuellen Gesetzesfassung ab 01.09.2009: familiengerichtlichen) Genehmigung nach § 1908i Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 1812 BGB bedurft hätte.
Schreibt diese Regelung eine Genehmigung für Verfügungen über eine Forderung oder ein anderes Recht, kraft dessen der Mündel bzw. der Betreute eine Leistung verlangen kann, vor, so bleibt offen, ob es sich bei dem vom Kläger gerichtlich verfolgten Anspruch (mangels Existenz des vom Kläger geltend gemachten Anspruchs auf einen Mehrbedarf für Erwerbsunfähigkeit trotz fehlender Zuerkennung des Merkzeichen "G") überhaupt um eine Leistung handelt, die der Kläger i.S.v. § 1812 Abs. 1 Satz 1 BGB von der Beklagten "verlangen kann" (in diesem Sinne wohl Lafontaine, in: jurisPK-BGB, 4. Aufl. 2008, § 1812 Rn. 24).
Denn auf Prozesshandlungen - wie die vom Betreuer des Klägers erklärte Berufungsrücknahme - findet § 1908i Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 1812 BGB von vornherein keine Anwendung. Derlei Prozesshandlungen stellen bereits keine "Verfügung" i.S.d. § 1812 BGB dar. Ihre Voraussetzungen und Wirkungen regelt nicht das Bürgerliche Recht, sondern allein das Prozessrecht (Ellenberger, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 68. Aufl. 2009, Einf. vor § 104, Rn. 37 m.w.N.). Deshalb benötigt der Betreuer für die Rücknahme eines Rechtsmittels keine Genehmigung, auch wenn er mit dieser Rücknahme faktisch die weitere gerichtliche Verfolgbarkeit eines zuvor geltend gemachten Anspruchs aufgibt. Zwar kann in diesem Aufgeben hinsichtlich des Anspruchs durchaus zugleich eine rechtsgeschäftliche Handlung und damit auch eine Verfügung i.S.d. § 1812 BGB zum Ausdruck kommen. Die Prozesshandlung als solche ist jedoch hinsichtlich ihrer rechtlichen Wirksamkeit von der rechtsgeschäftlichen Verfügung zu trennen; eine diesbezügliche Diskrepanz kann deshalb allenfalls schadensersatzpflichtig machen, nicht jedoch zur Unwirksamkeit der Prozesshandlung führen (vgl. Diederichsen, in: Palandt, a.a.O., § 1812 Rn. 11 m.N. der Rspr. des BGH). Ob bei sog. Prozesshandlungen mit Doppelnatur (z.B. Prozessvergleiche) anderes zu gelten hat (vgl. hierzu Ellenberger und Diederichsen, jeweils a.a.O.), kann offen bleiben, da jedenfalls der Rücknahme der Berufung eine solche Doppelnatur nicht zukommt; sie bezieht sich nur auf den mit der Berufung geltend gemachten prozessualen Anspruch und ist entsprechend ihrer Regelung in § 156 SGG reine Prozesshandlung (vgl. für den vergleichbaren Fall des prozessualen Anerkenntnisses BGH, Urteil vom 27.05.1981 - IVb ZR 589/80; siehe auch Ellenberger sowie Diederichsen, jeweils a.a.O.).
Ist nach allem die Berufung durch den Betreuer des Klägers am 04.06.2009 wirksam zurückgenommen worden, so bewirkt diese Zurücknahme nach § 156 Abs. 2 Satz 1 SGG den Verlust des Rechtsmittels. Das Urteil des Sozialgerichts Münster ist deshalb mit der Rücknahmeerklärung rechtskräftig geworden. Dem Senat ist aus diesem Grund nach der Berufungsrücknahme jede weitere Auseinandersetzung mit dem vom Kläger ursprünglich geltend gemachten Anspruch auf Mehrbedarfsleistungen wegen Erwerbsunfähigkeit verwehrt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG bestehen nicht.
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