L 3 AL 83/07

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 6 AL 678/03
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 3 AL 83/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 15. März 2007 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt eine Bewilligung von höherem Insolvenzgeld unter Berücksichtigung der Vergütung für 124,7 Überstunden.

Die 1951 geborene Klägerin war seit dem 4. September 1978 bei der 1. C. B. mbH bzw. deren Rechtsvorgänger als Mitarbeiterin Kalkulation zuletzt mit einem monatlichen Bruttoentgelt von 2.095,00 EUR und einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 39 Stunden beschäftigt. Am 1. Juni 2002 wurde über das Vermögen der Gesellschaft das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beigeladene als Insolvenzverwalter bestellt. Der Beigeladene kündigte das Arbeitsverhältnis der Klägerin mit Schreiben vom 26. Juni 2002 zum 30. September 2002, welches dieser am 27. Juni 2002 zuging. Im Kündigungsschreiben heißt es unter anderem: "Die Ihnen gegenüber bereits erklärte Freistellung vom 29.05.2002 bleibt ausdrücklich aufrechterhalten. Höchstvorsorglich stelle ich Sie nochmals mit sofortiger Wirkung von der Arbeitsverpflichtung frei, unter Anrechnung gegebenenfalls bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses bestehender – nicht durch Insolvenzgeld abgegoltener – Urlaubsansprüche/Ansprüche aus Überstunden – bzw. Arbeitszeitguthaben. Ab Freistellung haben Sie bei Vorliegen der Voraussetzungen einen Anspruch auf Gewährung von Arbeitslosengeld gegenüber dem zuständigen Arbeitsamt (§ 143 Abs. 3 SGB III)."

Das Kündigungsschutzverfahren vor dem Arbeitsgericht Chemnitz (Az.: 5 Sa 408/03) endete durch einen Vergleich, wonach nach das Arbeitsverhältnis zum 30. September 2002 endete und vereinbart wurde, dass die Klägerin zusätzlich eine Abfindung in Höhe von 1.000,00 EUR zum Abfindungsanspruch aus dem Sozialplan erhielt.

Die Klägerin trat ihren Nettolohnanspruch für den Monat März 2002 mit Zustimmung des Arbeitsamtes Chemnitz an die Bayrische Landesbank ab.

Der Insolvenzverwalter stellte am 12. Juli 2003 für die Klägerin und die anderen Arbeitnehmer einen Sammelantrag auf Bewilligung von Insolvenzgeld. Der Insolvenzverwalter erstellte unter dem 17. Juni 2002 für die Klägerin eine Insolvenzgeldbescheinigung, in welcher er die offenen Löhne für den Monat März 2002 mit 2.123,00 EUR brutto (= 1.320,51 EUR netto), für April 2002 mit 2.013,19 EUR brutto (= 1.423.66 EUR netto) und für Mai 2002 mit 2.047,00 EUR brutto (= 1.434,17 EUR) angab.

Mit Bescheid vom 19. Juli 2002 bewilligte die Beklagte der Klägerin 2.857,83 EUR (also nur für die Zeiträume 1. April 2002 bis zum 31. Mai 2002) Insolvenzgeld und setzte, da Insolvenzgeldvorschussleistungen in Höhe von 2.857,83 EUR gezahlt wurden, den Auszahlungsbetrag auf "Null" fest.

Hiergegen richtete sich der am 9. August 2002 bei der Beklagten eingegangene Widerspruch der Klägerin vom 7. August 2002, den die Klägerin damit begründete, dass sie bereits unter dem 6. Juni 2002 für März und April 898,74 EUR brutto für 58 geleistete Überstunden á 12,40 EUR mal 125 %, geltend gemacht habe. Sie habe im Monat März 40 Stunden und im Monat April 18 Stunden Mehrarbeit geleistet. Sie habe in diesen Monaten termingebundene Aufträge erledigt und Objekte fertig zu stellen gehabt. Die zur Erledigung dieser Arbeiten erforderliche Mehrarbeit sei angeordnet worden. Die Klägerin berief sich darauf, dass der Rahmentarifvertrag für die Angestellten und Poliere des Baugewerbes vom 4. Juli 2002 (RTV Bau) aufgrund Nachwirkung Anwendung findet. Der Widerspruchsbegründung lagen Mitarbeiterprotokolle für die Monate März und April 2002 bei. Aus dem Mitarbeiterprotokoll für März 2002 ergibt sich ein Guthaben von 0 Überstunden, ein Saldovortrag von 50 Stunden, eine Saldoänderung auf 40 Stunden und eine Kappung von 40 Stunden sowie ein aufgelaufener Saldo von 50 Stunden. Das Mitarbeiterprotokoll für den Monat April 2002 enthält dieselben Angaben. Eine Änderung gab es lediglich in der Saldoänderung auf 18 Stunden sowie bei der Kappung auf 18 Stunden.

Mit Schreiben vom 21. Mai 2003 teilte der Beigeladene mit, dass zum einen der Rahmentarifvertrag für die technischen und kaufmännischen Angestellten des Baugewerbes nicht greife, da dieser Tarifvertrag im Gegensatz zum Baurahmentarifvertrag nicht allgemeinverbindlich sei. Eine Betriebsvereinbarung, dass Angestellte als Gehaltsempfänger Überstunden bezahlt bekommen, habe nicht bestanden. Die Stundenerfassung für die Angestellten sei lediglich eine Gleitzeiterfassung gewesen, damit die geleisteten Überstunden in den darauffolgenden Monaten wieder abgesetzt werden konnten. In der betrieblichen Praxis sei teilweise ein Absetzen der erfassten Überstunden nicht möglich gewesen, wobei die Insolvenzschuldnerin auch schon in der Vergangenheit diese auflaufenden Überstunden wegen der hierfür fehlenden Rechtsgrundlagen nie bezahlt habe. Eine Änderung der Insolvenzgeldbescheinigung komme daher nicht in Betracht.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 26. Mai 2003 als unbegründet zurück. Sie bezog sich auf die Ausführungen des Insolvenzverwalters in Schreiben vom 21. Mai 2003.

Dagegen hat die Klägerin am 2. Juni 2003 Klage erhoben. Bereits im Einstellungsvertrag vom 26. September 1994 sei in den allgemeinen Bestimmungen vereinbart worden: "Für das Arbeitsverhältnis gelten die für die Firma gültigen Tarifverträge, Betriebsvereinbarungen, Betriebs-/Arbeitsordnungen in ihrer jeweiligen Fassung, soweit im Einzelfall ausdrücklich nichts anderes vereinbart worden ist." In § 5 des Einstellungsvertrages heiße es: "Die Dauer der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit ist durch Tarifvertrag geregelt." Es läge also eine einzelvertragliche Bezugnahme auf den Tarifvertrag vor. Daher sei davon auszugehen, dass die Arbeitsvertragsparteien auf den Rahmentarifvertrag für die technischen und kaufmännischen Angestellten und die Poliere des Baugewerbes vom 2. März 1998 in den jeweiligen Fassungen Bezug nehmen wollten. In diesem Tarifvertrag sei unter anderem eine wöchentliche Arbeitszeit von 39 Stunden geregelt. Daher habe sie einen Anspruch auf Vergütung der Überstunden. Die Mehrarbeit sei angeordnet worden, da termingebundene Aufträge und Objekte fertig zu stellen gewesen seien. Sie sei aufgrund der Betriebsstilllegung zum 31. August 2002 nicht mehr in der Lage gewesen, die Überstunden abzusetzen. Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, dass durch die Mitarbeiterprotokolle die geleisteten Überstunden anerkannt worden seien. Sie seien auch im betrieblichen Alltag bezahlt worden, wenn sie nicht beim Geschäftsführer beantragt und von diesem genehmigt worden seien. Die Betriebsvereinbarung sei zwar am 9. Januar 1992 abgeschlossen worden, aber im betrieblichen Alltag im Laufe der Zeit immer weniger beachtet worden. Auf den Inhalt der betrieblichen Vereinbarung zur Gleitzeitarbeit komme es überhaupt nicht an. Es sei unstreitig, dass im Insolvenzgeldzeitraum Überstunden durch sie geleistet worden seien, nämlich insgesamt 124 Stunden. Die Betriebsvereinbarung könne nicht die Bezahlung der Überstunden verhindern. Die Betriebsvereinbarung könne gemäß § 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) ihre Individualansprüche weder vermindern noch ausschließen.

Das Sozialgericht hat den Insolvenzverwalter beigeladen, welcher sich auf eine Betriebsvereinbarung für sogenannte "Gleitzeitarbeit" der Insolvenzschuldnerin berufen hat. In dieser Betriebsvereinbarung sei vorgesehen, dass die Kappungsgrenze für Mehrstunden bei 50 Arbeitsstunden liege. Zudem sei im dritten Nachtrag zur Betriebsvereinbarung "Regelung zur Durchführung von Überstunden" unter Nummer 3 geregelt, dass für Überstunden zur Bezahlung in jedem Fall die Beantragung und Anweisung des Vorgesetzten gelte, was nicht der Fall gewesen sei.

Die Beklagte und der Beigeladene haben vorgetragen, dass es zwar unstreitig sei, dass die Klägerin im März 2002 40 Stunden, im April 2002 18 und im Mai 2002 66,70 "Mehrarbeitsstunden" geleistet habe. Aus den Mitarbeiterprotokollen ergebe sich jedoch nicht, dass die Überstunden ausdrücklich angeordnet oder anerkannt worden sein. Die Beantragung und Anweisung der Überstunden durch den Vorgesetzten sei aber nach dem 3. Nachtrag zur Betriebsvereinbarung "Regelung zur Durchführung von Überstunden" vom 26. August 1996, Voraussetzung für einen Zahlungsanspruch. Eine solche habe die Klägerin weder vorgetragen noch unter Beweis gestellt.

Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 15. März 2007 die Klage abgewiesen. Ein höherer Insolvenzgeldanspruch scheitere daran, dass offene Ansprüche aus Arbeitsentgelt trotz der unstreitig geleisteten Überstunden im Insolvenzgeldzeitraum nicht bestünden. Die Klägerin habe der Betriebsvereinbarung "Gleitzeitarbeit" unterlegen, wonach grundsätzlich die Abgeltung der Überstunden durch Freizeit erfolgt sei und Überstunden, die über eine Anzahl von 50 hinausgegangen seien, gekappt worden seien. Eine Bezahlung der Überstunden sei nur möglich gewesen, wenn diese ausdrücklich angeordnet worden seien. Dies habe die Klägerin nicht nachgewiesen.

Gegen das am 2. April 2007 zugestellte Urteil richtet sich die am 18. April 2007 eingegangene Berufung der Klägerin. Selbst wenn es eine entsprechende Betriebsvereinbarung gegeben habe, hätte eine Abgeltung von Überstunden, vorausgesetzt, dass sie, die Klägerin, innerhalb des dort bestehenden Beschäftigungsverhältnisses die Möglichkeit gehabt hätte, einen solchen Freizeitausgleich zu erhalten. Dies sei jedoch aufgrund der Tatsache, dass das Beschäftigungsverhältnis aufgrund der vom Insolvenzverwalter erklärten Freistellung zum 29. Mai 2002 geendet habe, bereits aus zeitlichen Gründen nicht mehr möglich gewesen. Sie wisse nicht, ob ihre Arbeitgeberin tarifgebunden gewesen sei, sie gehe jedoch von einer einzelvertraglichen Vereinbarung der einschlägigen Tarifverträge aus. Wegen der klaren tarifvertraglichen Vorgaben sei eine Kappung der Überstunden durch eine Betriebsvereinbarung gemäß § 4 Abs. 3 des Tarifvertragesgesetzes (TVG) und § 77 Abs. 3 BetrVG nicht möglich gewesen. Sie sei im Zeitraum Februar 2002 bis Mai 2002 Vorsitzende des Wahlvorstandes des im Betrieb ihrer Arbeitgeberin zu wählenden Betriebsrats gewesen. Diese Tätigkeit habe sie neben ihrer eigentlich zu leistenden Tätigkeit durchgeführt. Sie habe hierfür gegenüber der Arbeitgeberin einen Freistellungs- bzw. Vergütungsanspruch gehabt. Insoweit könne kein Zweifel bestehen, dass bei ihr zusätzliche Mehrarbeit angefallen ist. Es könne auch dahingestellt bleiben, ob es sich bei den 124,70 Arbeitsstunden um Überstunden oder gegebenenfalls um Gleitzeitguthaben gemäß § 2 Nr. 2.7 der Betriebsvereinbarung über Gleitzeit vom 26. August 1994 gehandelt habe. Eine Vergütungspflicht bestünde in jedem Fall. Ein Ausgleich durch Freizeitgewährung habe aufgrund der Insolvenz der Arbeitgeberin aber nicht mehr erfolgen können. Auch nach der Insolvenzeröffnung und der Freistellungserklärung durch den Insolvenzverwalter habe sie ihren Aufgaben als Betriebsratsvorsitzende nachgehen müssen. Sie sei ungefähr an 10 Tagen im Betrieb gewesen, um ihre Funktion als Betriebsratsvorsitzende auszuüben. Daher habe ein Ausgleich durch Vergütung der Überstunden zu erfolgen. Dies ergebe sich aus § 3 Nr. 1.32 RTV Bau. Hiernach seien Guthabenstunden, die sich auf einem Arbeitszeitkonto befinden, bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses abzugelten. Ausschlussfristen würden gemäß § 13 RTV Bau nicht für Zahlungsansprüche, die während eines Kündigungsschutzprozesses fällig werden und von seinem Ausgang abhängen, gelten. Tarifvertragliche Ausschlussfristen seien nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens ohnehin nicht mehr heranzuziehen. Sie habe die Überstundenabgeltung in Höhe von 898,74 EUR am 9. Oktober 2002 beim Insolvenzverwalter der Gemeinschuldnerin angemeldet. Zwar sei richtig, dass sie durch das Kündigungsschreiben vom 26. Juni 2002 unter Anrechnung noch bestehender Ansprüche auf Überstunden freigestellt war. Gemäß der tarifvertraglichen Regelung § 3 Nr. 1.32 RTV Bau, die einen Ausgleich etwaiger Guthaben bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses und somit eine Auszahlung des Guthabens der Angestellten zwingend vorsieht, sei eine Freistellung durch den Insolvenzverwalter unzulässig und habe damit den Anspruch der Klägerin auf Auszahlung nicht beseitigen können.

Die Klägerin beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Chemnitz vom 15. März 2007 den Bescheid der Beklagten vom 19. Juli 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Mai 2003 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, an sie weiteres Insolvenzgeld für 124,7 Überstunden zu zahlen.

Die Beklagte und der Beigeladene beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte ist der Auffassung, dass Ansparstunden keinen Anspruch auf Insolvenzgeld begründen können. Immer wenn ein verstetigter Monatslohn gezahlt werde, habe der Arbeitgeber mit der Zahlung dieses Lohns den Anspruch auf den Monatslohn erfüllt. Es sei unerheblich, ob der Arbeitnehmer mehr oder weniger als die vorgeschriebene Zahl von Sollarbeitsstunden in dem jeweiligen Monat gearbeitet hat. Es gebe keine rechtliche Möglichkeit, über den Monatslohn hinaus Insolvenzgeld für eine Forderung aus einem bereits angesparten Arbeitszeitguthaben zu gewähren.

Der Beigeladene trägt vor, dass der Tarifvertrag lediglich Kraft einzelvertraglicher Vereinbarung gegolten habe. Im § 1 des Arbeitsvertrages sei geregelt, dass "die Regelung des Arbeitsverhältnisses sich nach den gültigen Tarifverträgen und den Betriebsvereinbarungen richte", also auch nach den bei der Arbeitgeberin geltenden Betriebsvereinbarungen. Es sei nicht nachvollziehbar, in welchem Umfang Betriebsratstätigkeit verrichtet worden sei. Die Auffassung der Klägerin, dass sich aus dem Rahmentarifvertrag eine Verpflichtung zur Bezahlung von Mehrarbeit ergeben solle, sei unrichtig. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die von der Klägerin dargelegte Mehrarbeit ursprünglich als Guthaben auf dem Zeitkonto gutzuschreiben gewesen wäre, wäre das Arbeitszeitkonto im Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ausgeglichen gewesen, da die Klägerin ab dem 1. Juni 2002 freigestellt gewesen sei. Die Arbeitsleistung der Klägerin sei ab dem 1. Juni 2002 nicht mehr entgegengenommen worden. Dies habe einen entsprechenden Abbau von Zeitguthaben zur Folge gehabt, was bis zum Zeitpunkt der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses, also bis zum 30. September 2002, möglich gewesen sei.

Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, der beigezogenen Akte des Arbeitsgerichts Chemnitz (Az.: 5 Sa 408/03) und der Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

I. Die Berufung ist zulässig, insbesondere statthaft. Der Wert des Beschwerdegegenstands ist auf eine Geldleistung gerichtet, die 500 EUR übersteigt (§§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]). Die Klägerin hat in der letzten mündlichen Verhandlung erster Instanz geltend gemacht, dass 124,7 Überstunden bei der Berechnung des Insolvenzgeldes nicht berücksichtigt worden seien. Diese Überstunden sind nach Vortrag der Klägerin in dem Zeitraum vom 1. März 2002 bis zum 31. Mai 2002 abgeleistet worden. Ausgehend von einem Stundenlohn in Höhe von 12,40 EUR und einem Überstundenzuschlag von 25 % ergibt sich ein um 1.932,85 EUR höherer Bruttolohn, der Basis des nachzuzahlenden Insolvenzgeldes sein soll. Gemäß § 185 Abs. 1 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – (SGB III) ist für das Insolvenzgeld das Nettoarbeitsentgelt maßgebend. Es ist offensichtlich, dass die Grenze von 500 EUR in der hier noch anzuwendenden, bis zum 31. März 2008 geltenden Fassung des § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG überschritten sind.

II. Die Berufung ist aber unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Insolvenzgeldbescheid vom 19. Juli 2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 16. Mai 2003 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten im Sinne von § 54 Abs. 2 SGG, weil der Klägerin über den von der Beklagten bereits bewilligten Betrag von 2.857,83 EUR hinaus kein weiterer Anspruch auf Insolvenzgeld zusteht.

1. Gemäß § 183 Abs. 1 Satz 1 SGB III haben Arbeitnehmer unter anderem Anspruch auf Insolvenzgeld, wenn sie im Inland beschäftigt waren und bei der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen ihres Arbeitgebers für die vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt haben.

a) Der maßgebende Dreimonatszeitraum dauerte vorliegend vom 1. März 2002 bis zum 31. Mai 2002. Den sich daraus ergebenden Insolvenzgeldanspruch der Klägerin hat die Beklagte zutreffend auf der Grundlage der vom Insolvenzverwalter bescheinigten Nettolohnansprüche erfüllt. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Vergütung der auch von der Beklagten bei der Berechnung des Insolvenzgeldes unberücksichtigt gelassenen "angesammelter" Plusstunden. Ein zu ihren Gunsten bestandenes Zeitguthaben von 124,7 Stunden ist durch die Freistellung bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit Schreiben vom 29. Mai 2002 und die gleichlautende Formulierung im Kündigungsschreiben des Insolvenzverwalters vom 26. Juni 2002 erloschen (vgl. § 362 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches [BGB]). Dabei spielt es entgegen der Ansicht der Klägerin keine Rolle, ob die Freistellung unwiderruflich oder im Hinblick auf etwaige Betriebsratsarbeit widerruflich erfolgte.

b) Ein Insolvenzereignis im Sinne des § 183 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB III lag vor. Über das Vermögen der Arbeitgeberin der Klägerin wurde zum 1. Juni 2002 das Insolvenzverfahren eröffnet. Die Zweimonatsfrist des § 324 Abs. 3 Satz 1 SGB III wurde durch den Insolvenzgeldantrag des Insolvenzverwalters vom 12. Juli 2002 gewahrt. Es bestehen keine rechtlichen Bedenken dagegen, sich bei der Stellung eines Insolvenzgeldantrages vertreten zu lassen. Die Klägerin war auch Arbeitnehmerin im Sinne des § 183 Abs. 1 Satz 1 SGB III.

c) Arbeitszeitguthaben waren bereits in der bis zum 31. Dezember 2003 geltenden Fassung des § 183 Abs. 1 Satz 4 SGB III grundsätzlich insolvenzgeldfähig. Wenn bei flexibler Arbeitszeit monatliches Arbeitsentgelt in gleichbleibender Höhe übers Jahr geschuldet würde, ist gemäß § 183 Abs. 1 Satz 4 SGB III für die Zuordnung der Zeitraum maßgebend, für den die Leistung zum Lebensunterhalt bestimmt ist. Das heißt, vom Insolvenzgeld werden maximal 3/12 der rückständigen Jahresvergütung erfasst. Bei nicht verstetigter Arbeitsentgeltzahlung bleibt das Prinzip des Erarbeitens maßgebend (vgl. Krodel, in: Niesel, SGB III [4. Aufl., 2007], § 183 Rdnr. 62, 67; BSG, Urteil vom 25. Juni 2002 – B 11 AL 90/01 RBSGE 89, 289 [290 f.] = SozR 3-4100 § 141b Nr. 24 S. 117 = JURIS-Dokument Rdnr 16).

2. Für den Monat März 2002 hat die Klägerin bereits deswegen keinen Anspruch auf Insolvenzgeld, weil sie ihre Nettolohnansprüche mit Zustimmung des Arbeitsamtes im Rahmen der Vorfinanzierung gemäß § 188 Abs. 4 SGB III abgetreten hatte. Die Klägerin ist also für den März 2002 nicht Inhaberin des Lohnanspruches und damit auch nicht Inhaberin des Insolvenzgeldanspruches. Allerdings bestanden auch – ebenso wie für die Monate April und Mai 2002 (siehe 3.) keine offen Lohnansprüche der Klägerin für den Monat März 2002.

3. Für die Monate April und Mai 2002 hat die Klägerin keinen Anspruch auf Insolvenzgeld, weil der Anspruch auf Arbeitsentgelt in Folge Erfüllung erloschen ist.

a) Vorliegend kann dahingestellt bleiben, ob die Klägerin Mehrarbeit geleistet hat, die ausdrücklich angeordnet oder geduldet war, und ob sie trotz des vereinbarten Grundsatzes, dass statt Vergütung ein Freizeitausgleich zu gewähren ist, überhaupt einen arbeitsvertraglichen Anspruch auf Vergütung hatte, wenn ein Freizeitausgleich nicht erfolgen konnte.

b) Es ist arbeitsrechtlich anerkannt (vgl. BAG, Urteil vom 19. Mai 2009 – 9 AZR 433/08DB 2009, 2103 – JURIS-Dokument Rdnr. 24 ff., m. w. N.), dass eine Erfüllung im Sinne des § 362 BGB durch einen Freizeitausgleich zum Ausgleich eines Guthabens auf dem Gleitzeit-Freizeitkonto mittels einer Freistellungserklärung erfolgen kann. Eine Freistellungserklärung eines Arbeitgebers ist als einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung nach § 133 BGB aus der objektivierten Sicht des Empfängers auszulegen. Notwendig ist die endgültige, nicht unter dem Vorbehalt eines Widerrufs stehende Befreiung des Arbeitnehmers von der Arbeitspflicht (vgl. BAG, a. a. O., JURIS-Dokument Rdnr. 17, m. w. N.). Eine solche Erklärung wurde durch den Insolvenzverwalter spätestens im Kündigungsschreiben abgeben. Die Klägerin hatte durch Nichterscheinen am Arbeitsplatz dieses Angebot des Arbeitgebers auch angenommen. Arbeitgeber war im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung der Insolvenzverwalter. Er nahm kraft Gesetzes die Arbeitgeberbefugnisse für die Schuldnerin wahr, konnte also auch eine Freistellungserklärung abgeben. Der Beigeladene hatte also durch die Freistellung etwaige Ansprüche der Klägerin auf Freizeitausgleich erfüllt.

Entgegen der Auffassung der Klägerin war eine Erfüllung durch Freizeitgewährung bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses möglich. Das Arbeitsverhältnis wird durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht beendet. Vielmehr bedurfte es, wie auch vorliegend geschehen, einer Kündigungserklärung des Insolvenzverwalters. Das Arbeitsverhältnis endete daher erst zum 30. September 2002. Daher ist der Einwand der Klägerin, dass ein Freizeitausgleich wegen der Insolvenzeröffnung nicht mehr erfolgen konnte, rechtlich nicht haltbar.

Die Klägerin beruft sich auch ohne Erfolg darauf, dass ein Freizeitausgleich nicht wirksam habe erfolgen können, wenn sie jederzeit damit habe rechnen müssen, zur Betriebsratsarbeit herangezogen zu werden. Es ist bereits zweifelhaft, ob aufgrund dieses Umstandes die ausdrücklich vom Insolvenzverwalter unwiderruflich erklärte Freistellung von der Arbeit wegen der zu erwartenden ehrenamtlichen Tätigkeit als Betriebsratsvorsitzende zu einer widerruflichen Freistellung wurde, da auch dann durch die Freistellung angesammelte Überstunden durch einen Freizeitausgleich erfüllt worden wären. Die Erfüllung eines sich aus einem Arbeitszeitkonto ergebenden Freizeitausgleichsanspruchs erfolgt durch Freistellung des Arbeitnehmers von seiner Pflicht, Arbeitsleistungen zu erbringen (vgl. BAG, Urteil vom 11. Februar 2009 – 5 AZR 341/08 – JURIS-Dokument Rdnr. 13). Wenn der Arbeitgeber die widerrufliche Freistellung erklärt, behält er sich vor, den Arbeitnehmer jederzeit an den Arbeitsplatz zurückzuholen. Ein Arbeitnehmer, der widerruflich freigestellt ist, muss regelmäßig mit dem Widerruf rechnen. Auch eine solche widerrufliche Freistellung ist entgegen der Auffassung der Klägerin geeignet zu bewirken, dass der Anspruch auf Freizeitausgleich nach § 362 Abs. 1 BGB erlischt (vgl. BAG, Urteil vom 19. März 2002 – 9 AZR 16/01 – EzA BGB § 615 Nr. 108 [zu II 2 b bb (3) der Gründe] = BB 2002, 1703 = JURIS-Dokument Rdnr. 37; BAG, Urteil vom 19. Mai 2009 – 9 AZR 433/08DB 2009, 2103 = JURIS-Dokument Rdnr. 27).

Entgegen der Auffassung der Klägerin ist insoweit zwischen Urlaubsanspruch und Anspruch auf Freizeitausgleich zu unterscheiden. Nach dem Mindesturlaubsgesetz für Arbeitnehmer (Bundesurlaubsgesetz) besteht kein Anspruch des Arbeitgebers gegen den Arbeitnehmer, den gewährten Urlaub abzubrechen oder zu unterbrechen (vgl. BAG, Urteil vom 20. Juni 2000 – 9 AZR 405/99BAGE 95, 104 [zu II 2 b aa der Gründe] = JURIS-Dokument Rdnr. 26). Wird demgegenüber zum Abbau eines zugunsten des Arbeitnehmers bestehenden Zeitsaldos Freizeitausgleich gewährt, handelt es sich regelmäßig nur um eine Weisung zur Verteilung der Arbeitszeit im Sinne von § 106 Satz 1 der Gewerbeordnung.

Dass die Klägerin als Betriebsratsvorsitzende damit rechnen musste, dass Betriebsratstätigkeit während der Freistellungsphase verrichtet werden musste, ist mit der Interessenlage solcher Arbeitnehmer, die widerruflich freigestellt sind, vergleichbar. Die Klägerin soll gemäß § 78 Satz 2 BetrVG durch ihre Betriebsratstätigkeit nicht schlechter – aber auch nicht besser – als andere Arbeitnehmer gestellt werden. Für die Bewertung von Zeiten, die ein Betriebsratsmitglied zur Wahrnehmung von Betriebsratsaufgaben aufwendet, können danach keine anderen Maßstäbe gelten als für Zeiten, die ein Arbeitnehmer im Zusammenhang mit der Erfüllung seiner Arbeitspflicht aufwendet (vgl. BAG, Urteil vom 12. August 2009 – 7 AZR 218/08 – JURIS-Dokument Rdnr 12). Die Klägerin war seit ihrer Freistellung seit 1. Juni 2002 nach ihren eigenen Angaben lediglich an ungefähr 10 Tagen zur Erledigung der Betriebsratstätigkeit im Betrieb anwesend. An den verbleibenden Arbeitstagen bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 30. September 2002 blieb sie von ihrer Verpflichtung zur Erbringung der Arbeitsleistung freigestellt, also an weit mehr Arbeitstagen als es den angesammelten 124,7 Überstunden (ca. 16 Arbeitstage = 124,7 Stunden: [39 Stunden/Woche: 5 Arbeitstage]) entspricht.

c) Dem stehen auch nicht tarifvertragliche Regelungen entgegen. Zugunsten der Klägerin unterstellt, dass der RTV Bau zur Anwendung kommt, ergibt sich ausdrücklich aus dessen § 3 Nr. 1.32, dass die Einführung eines Arbeitszeitkontos möglich ist. Zwar sind nach der tarifvertraglichen Bestimmung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses etwaige Guthaben oder Schulden auszugleichen. Solche bestanden aber im Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 30. September 2002, wie bereits dargelegt nicht mehr.

d) Anscheinend vertritt die Klägerin die Auffassung, dass eine Erfüllung von Arbeitslohnansprüchen nach Insolvenzeröffnung oder nach einer Betriebsstilllegung nicht mehr möglich ist. Dies wird aber, soweit ersichtlich, weder in der arbeitsgerichtlichen noch in der sozialgerichtlichen Rechtssprechung vertreten. Lediglich das Bestimmungsrecht des Arbeitgebers gemäß § 366 BGB ist insoweit eingeschränkt, dass nach Ablauf des Insolvenzgeldzeitraums erfolgte Zahlungen auf Arbeitsentgelt vorrangig Ansprüchen zuzurechnen sind, die vor dem Insolvenzgeldzeitraum liegen (vgl. BSG, Urteil vom 25. Juni 2002 – B 11 AL 90/01 RBSGE 89, 289 [293] = SozR 3-4100 § 141b Nr. 24 S. 119 = JURIS-Dokument Rdnr 23). Eine Erfüllung von Schulden aus einem Arbeitsverhältnis ist aber auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens möglich, insbesondere wenn die Insolvenzmasse nicht belastet wird, wie dies bei einem Freizeitausgleich regelmäßig der Fall ist.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

IV. Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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