L 18 AS 72/11 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 116 AS 37612/10 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AS 72/11 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 20. Dezember 2010 aufgehoben, soweit das Sozialgericht den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz abgelehnt hat.

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Übernahme der Kosten für die Anmietung der Wohnung SB – Wohnungs-Nr. – zuzusichern.

Die weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller im gesamten Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes wird zurückgewiesen.

Gründe:

Über die Beschwerde und den Antrag auf Prozesskostenhilfe (PKH) für das Beschwerdeverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes hat der Berichterstatter in entsprechender Anwendung von § 155 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entschieden.

Die Beschwerde, mit der die Antragsteller ihr erstinstanzliches Begehren weiter verfolgen, den Antragsgegner im Wege einer gerichtlichen Regelungsanordnung iSv § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zu verpflichten, eine Zusicherung zu den Kosten der im Tenor bezeichneten Unterkunft zu erteilen, und mit der sie sich zudem gegen die Ablehnung der Bewilligung von PKH durch das Sozialgericht (SG) wenden, ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Im Übrigen ist sie nicht begründet und war zurückzuweisen.

Die Antragsteller haben einen Anspruch auf die begehrte Zusicherung. Die tatbestandlichen Voraussetzungen für einen Anordnungsanspruch sind hinreichend glaubhaft gemacht. So gilt nach § 22 Abs. 2 Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) für einen Wohnungswechsel, dass der erwerbsfähige Hilfebedürftige (bzw. der erwerbsfähige Hilfebedürftige und die mit ihm eine Bedarfsgemeinschaft bildenden Personen, § 7 Abs. 2 und 3 SGB II) vor Abschluss eines Vertrages über eine neue Unterkunft die Zusicherung des kommunalen Trägers zu den Aufwendungen für die neue Unterkunft einholen soll. Dieser ist zur Zusicherung verpflichtet, wenn der Umzug erforderlich ist und die Aufwendungen für die neue Unterkunft angemessen sind. Dabei ist die Erteilung der Zusicherung keine Anspruchsvoraussetzung, die erfüllt sein muss, um überhaupt einen Anspruch auf Kosten für Unterkunft und Heizung (KdU) für eine neu bezogene Wohnung zu begründen. Insoweit - anderes mag für die in § 22 Abs. 3 SGB II geregelten sonstigen Kosten eines Wohnungswechsels gelten - hat sie nur die Bedeutung einer Obliegenheit (vgl BSG SozR 4-4200 § 22 Nr 7); sie nicht zu beachten bleibt bzgl. der Übernahme der Wohnungskosten ggf. folgenlos. Wird die Zusicherung (=Mietkostenübernahmeerklärung) erteilt, dh die Erforderlichkeit des Umzugs (und die Angemessenheit der Kosten) von der Behörde akzeptiert und festgestellt, begründet sie den Anspruch auf die Übernahme der vollen Kosten der neuen Wohnung. Wird sie nicht erteilt, besteht (ab Einzug) ein Anspruch auf die gesamten KdU, sofern diese angemessen sind nur, wenn der Umzug erforderlich war. Ansonsten verbleibt es bei den KdU der aufgegebenen Wohnung (§ 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II in der seit dem 01. August 2006 geltenden Fassung des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitslose vom 20. Juli 2006 (BGBl I 1706)). Letzteres begründet vorliegend - sh. dazu unten - zugleich den Anordnungsgrund für die begehrte Anordnung.

Die von den Antragstellern vorgetragenen Wohnverhältnisse (sh auch den vorgelegten Grundriss der derzeit bewohnten Unterkunft) und Lebensumstände begründen die Erforderlichkeit des Umzuges in eine andere (größere) Wohnung. Die Kosten der in Aussicht genommenen Unterkunft sind auch "angemessen" iSv § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Mit der Erforderlichkeit, die nach allgemeiner Auffassung bedeutungsgleich mit der Notwendigkeit des Umzuges iSv § 22 Abs. 3 Satz 2 SGB II ist (Kahlhorn in Hauck/Noftz, SGB II, § 22 RdNr 29; Rothkegel in Gagel, SGB III, zu § 22 SGB II RdNr 66), ist die erste Voraussetzung an eine Kostenübernahmezusicherung als unbestimmter Rechtsbegriff gefasst, der der Auslegung bedarf. Er besagt nach dem Normzusammenhang zunächst, dass erwerbsfähige Hilfebedürftige schon auf der Ebene der Aufwendungen für ihre Unterkunft (die mit einem Umzug verbundenen Kosten werden in § 22 Abs. 3 SGB II selbständig geregelt) Beschränkungen auch dann hinnehmen müssen, wenn sie einen Wechsel zwischen Wohnungen beabsichtigen, deren Kosten angemessen sind. Dem Hilfebedürftigen wird auferlegt, auf Gestaltungen, die er als Verbesserung seiner Lebensumstände ansieht, zu verzichten und Wünsche (die auch im Bereich der Bedarfsdeckung durch staatliche Gewährungen nach dem Sozialgesetzbuch – Sozialhilfe - (SGB XII) beachtlich sind - § 9 Abs. 2 SGB XII) zurückzustellen, auch wenn er nicht mehr anstrebt als bei einem bereits bestehenden oder aus zwingenden Gründen neu abzuschließenden Mietvertrag als Leistung nach den §§ 19, 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II zu erbringen ist. Dies gebietet – wie bereits der Wortlaut, wonach nicht etwa zwingende Gründe zu verlangen sind – eine Auslegung, die nur maßvolle Beschränkungen mit sich bringt. Sachgerecht ist es, die Erforderlichkeit als eine (sonst nur im Zusammenhang mit §§ 22 Abs. 3 SGB II gegebene) Schranke dafür anzusehen, dass konsolidierte Verhältnisse (auf dem Niveau des § 22 Abs. 1 SGB II) weiter verbessert oder ohne zureichenden Grund umgeschichtet werden. Überdies dürfte auch im aktuellen Normkontext der vom Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) überzeugend entwickelte Gedanke zu berücksichtigen sein, dass der finanzielle Mehraufwand in ein Verhältnis zum Gewicht des Grundes für den Umzug und zum Ausmaß der Verbesserungen zu setzen ist (BVerwGE 97, 110). Die Voraussetzung der Erforderlichkeit kann aber nicht dazu dienen, einen Umzug auszuschließen, der gewollt ist, und für den objektive Gründe von Gewicht sprechen. Ob ein solcher Grund vorliegt, ist nach den Verhältnissen des Einzelfalls zu beurteilen. Hier ist er gegeben. Entgegen der von dem Antragsgegner auf die – das Gericht nicht bindenden - Ausführungsvorschriften zur Ermittlung angemessener Kosten der Wohnung gemäß § 22 SGB II der Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz des Landes Berlin vom 07. Juni 2005 (Amtsblatt (ABl) 3743), zuletzt geändert mit Verwaltungsvorschriften vom 30. Mai 2006 (ABl 2062; im Folgenden: AV-Wohnen) gestützten Auffassung ist die von den Antragstellern derzeit bewohnte 50,8 qm große 1,5-Zimmer-Wohnung für einen Erwachsenen, ein Kleinkind und ein weiteres Kind im Alter von acht Monaten im Hinblick auf den nahenden Beginn des Krabbelalters zu klein. Das Defizit ist ein ausreichender Grund, in eine 2,5-Zimmer große Wohnung umzuziehen. Darin liegt eine entscheidende Verbesserung, die höhere Kosten rechtfertigen würde. Da vorliegend die einzelfallbezogene Würdigung der gegebenen Verhältnisse die Erforderlichkeit begründet, kann offen bleiben, ob immer dann, wenn die Zahl der Zimmer hinter der Zahl der Bewohner zurückbleibt, ein Umzugswunsch gerechtfertigt ist und ob – wie unter Nr. 9.4 AV-Wohnen geschehen - allgemeingültige Mindestwerte für die Wohnfläche angegeben werden können, deren Unterschreitung zum Umzug "berechtigen". Die Angabe allgemeingültiger Mindestwerte für die Wohnfläche, deren Unterschreitung zum Umzug "berechtigen", dürfte jedoch schwerlich möglich sein, auch wenn die Wohnoberflächengrenzen im Rahmen der Angemessenheitsprüfung des § 22 Abs. 1 SGB II abstrakt auf Grundlage der im sozialen Mietwohnungsbau anerkannten Wohnraumgrößen zu bestimmen sind. Dies schon deshalb, weil die Zimmeraufteilung und verschiedenste den "Wohnwert" bestimmende Umstände höchst unterschiedlich sein können. Im Übrigen bezieht sich die Angabe von einer Mindestwohnfläche für zwei Personen von 30 qm ohne Nebenräume zur Bestimmung einer unzumutbaren Enge in den AV-Wohnen offensichtlich auf die Richtlinien für den öffentlich geförderten sozialen Wohnungsbau (Wohnungsbauförderungsbestimmungen 1990 - WFB 1990 -) vom 16. Juli 1990 (Amtsblatt für Berlin 1990, 1379 ff) in der Fassung der Verwaltungsvorschriften zur Änderung der WFB 1990 vom 13. Dezember 1992 (VVÄndWFB 1990; Amtsblatt für Berlin 1993, 98 f), wonach die Wohnfläche für den vorgeschriebenen Raum zur Erfüllung allgemeiner Wohnzwecke (Wohnzimmer) 18 qm nicht unterschreiten soll und jedes weitere Zimmer nicht kleiner als 12 qm sein soll, eine 2-Zimmer-Wohnung mithin eine Mindestwohnfläche ohne Nebenräume von 30 qm haben soll (vgl. Abschnitt II Ziff. 1 Buchst b) der Anlage 1 zur WFB 1990). Demzufolge dürfte der Zuschnitt der von den Antragstellern bewohnten 1,5-Zimmer-Wohnung gerade noch den Anforderungen für einen Zwei-Personen-Haushalt entsprechen, da das Wohnzimmer 20,43 qm und das weitere Zimmer 9,7 qm groß ist. Für einen 3-Personen-Haushalt stellen sich die geschilderten Verhältnisse jedoch als auf Dauer nicht tragbar dar, denn in dem eigentlich zu Erfüllung allgemeiner Wohnzwecke gedachten Zimmer müsste die Antragstellerin zu 1. schlafen und zusätzlich noch ihre Kleidung aufbewahrt werden, da das sehr kleine weitere Zimmer nur Platz für das Kinderbett und die Ausstattung der Antragstellerin zu 2) bietet. Selbst wenn für eine Übergangszeit hinzunehmen wäre, dass der Antragsteller zu 3) im Zimmer der Antragstellerin zu 1) bzw. der Antragstellerin zu 2) schläft, kann im Hinblick auf den zukünftig zunehmenden Bewegungsdrang des Antragstellers zu 3), der naturgemäß in der elterlichen Wohnung ausgelebt wird, eine fortdauernde räumliche Begrenzung der Antragsteller auf eine gerade noch für zwei Personen akzeptable Wohnungsgröße nicht als zumutbar angesehen werden. Demnach ist der Umzug in eine 2,5-Zimmer große Wohnung erforderlich iSv § 22 Abs. 2 Satz 2 SGB II als auch notwendig iSv § 22 Abs. 3 Satz 2 SGB II. Die KdU der von den Antragstellern anvisierten 2,5-Zimmer-Wohnung sind auch – was zwischen den Beteiligten im Übrigen nicht streitig ist - angemessen iSv § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Die Prüfung der Angemessenheit setzt nach der Rechtsprechung des BSG (ua Urteil vom 7. November 2006 - B 7b AS 10/06 R - juris) eine Einzelfallprüfung voraus. Dabei ist zunächst die maßgebliche Größe der Unterkunft zu bestimmen, und zwar typisierend (mit der Möglichkeit von Ausnahmen) anhand der landesrechtlichen Ausführungsbestimmungen über die Förderung des sozialen Mietwohnungsbaus. In Berlin erscheint damit für eine aus drei Personen bestehende Bedarfsgemeinschaft eine 2,5 bis 3-Zimmer-Wohnung (vgl. Ziff. 8 Abs. 1 der zur Umsetzung von § 5 Wohnungsbindungsgesetz (WobindG) iVm § 27 Abs. 1 bis 5 Wohnraumförderungsgesetz (WoFG) erlassenen Arbeitshinweise der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung vom 15. Dezember 2004 (Mitteilung Nr. 8/2004)) mit einer Größe bis zu 75 qm (Abschnitt II Zif. 1 Buchst a der Anlage 1 der WFB 1990idF der VVÄndWFB 1990) als abstrakt angemessen. Sodann ist der Wohnstandard festzustellen, wobei dem Hilfebedürftigen lediglich ein einfacher und im unteren Segment liegender Ausstattungsgrad der Wohnung zusteht. Letztlich kommt es darauf an, dass das Produkt aus Wohnfläche und dem diesem Standard entsprechenden qm-Preis, das sich in der Wohnungsmiete niederschlägt, der Angemessenheit entspricht (so genannte Produkttheorie). Dabei ist der räumliche Vergleichsmaßstab für den Mietwohnungsstandard so zu wählen, dass dem grundsätzlich zu respektierenden Recht des Leistungsempfängers auf Verbleib in seinem sozialen Umfeld ausreichend Rechnung getragen wird. Zur näheren Bestimmung der abstrakt angemessenen Bruttokaltmieten in Berlin wird auf das Konzept des SG Berlin Bezug genommen (veröffentlicht in ARCHIV für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 1/2010 S. 28), dem das Gericht folgt und aus dem sich für einen Drei-Personen-Haushalt eine abstrakt angemessene Bruttokaltmiete in Berlin iHv 482,40 EUR ergibt. Diese beläuft sich bei der in Aussicht genommenen Wohnung auf 455,40 EUR und ist daher angemessen. Die Heizkosten sind ebenfalls als angemessen anzusehen. Ein Abwarten auf die Entscheidung im Hauptsacheverfahren ist den Antragstellern nicht zuzumuten, da die Wohnung nur noch bis Ende Januar 2011 von der Vermieterin vorgehalten wird. Dies wurde in einem Telefonat vom heutigen Tag dem Berichterstatter gegenüber bestätigt. Die Antragsteller könnten zwar die Wohnung auch ohne vorherige Zusicherung anmieten und dann die KdU, so diese nicht in vollem Umfang vom Antragsgegner übernommen werden, ggf im Wege einstweiligen Rechtsschutzes auch gerichtlich geltend machen. Auch hier wäre dann aber zwingend zu prüfen (vgl § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II), ob der Umzug erforderlich war, da ansonsten nur die bisherigen KdU-Leistungen weiter zu gewähren sind. Die Antragsteller haben zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes daher ein schützenswertes Interesse, die Erforderlichkeit im vorgenannten Sinne bereits im Zusicherungsverfahren zu klären. Eine Verweisung auf den möglicherweise noch entspannten Wohnungsmarkt in B kommt ebenfalls nicht in Betracht, da andernfalls die Erteilung einer Zusicherung zu den künftigen KdU im einstweiligen Rechtsschutzverfahren von vornherein ausgeschlossen wäre, ein Abwarten auf die Entscheidung im Hauptsacheverfahren aber regelmäßig zu "spät" ist, da der (künftige) Vermieter die Wohnung regelmäßig nicht so lange vorhält. Jedenfalls im vorliegenden Fall wäre bei einem Abschluss des Hauptsacheverfahrens die Wohnung für die Antragsteller nicht mehr verfügbar. Die PKH-Beschwerde war zurückzuweisen, da durch die getroffene Kostengrundentscheidung und den sich daraus ergebenden Erstattungsanspruch der Antragsteller hinsichtlich der anfallenden außergerichtlichen Kosten die Bedürftigkeit der Antragsteller entfallen ist. Gleiches gilt für den PKH-Antrag für das Beschwerdeverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG. Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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