L 31 U 433/08

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
31
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 7 U 37/06
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 31 U 433/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1.) Die sogenannten Konsensempfehlungen zur Beurteilung einer banscheibenbedingten Erkrankung als berufsbedingt stellen die herrschende Meinung in der medizinischen Wissenschaft zur Bewertung eines solchen Kausalzusammenhangs dar. Dazu sind derzeit keine weiteren Ermittlungen erforderlich.
2.) Der Vortrag eines Beteiligten unter Bezugnahme auf eine medizinische Mindermeinung, die herrschende Meinung in der medizinischen Wissenschaft sei unzutreffend, kann einer Klage schon grundsätzlich nicht zum Erfolg verhelfen.
3.) Es ist nicht Aufgabe eine Sozialgerichtsverfahrens, die Richtigkeit medizinischer Auffassungen zu überprüfen. Dies ist Aufgabe der fachwissenschaftlichen Diskussion.
4.) Ermittlungen, ob eine allseits bekannte herrschende Meinung in der medizinischen Wissenschaft noch besteht, sind erst veranlasst, wenn ernsthafte Zweifel daran nachvollziehbar sind.
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 06. Dezember 2007 und der Bescheid der Beklagten vom 22. Dezember 2005 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 09. März 2006 aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger wegen der Folgen einer Berufskrankheit Nr. 2108 zur Berufskrankheiten-Verordnung eine Verletztenteilrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 v. H. nach Ablauf der 78. Woche der erfolgten Krankengeldzahlung zu gewähren.

Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des erst- und zweitinstanzlichen Verfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Gewährung von Leistungen wegen einer Berufskrankheit (BK) Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV - bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das
Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können).

Der 1963 geborene Kläger absolvierte von September 1980 bis Juli 1983 eine Ausbildung zum Baufacharbeiter im VEB Gaskombinat S und von November 1986 bis April 1988 seinen Wehrdienst. In der Zeit von Juli 1983 bis Oktober 1986 und im Anschluss an die Wehrdienst-zeit war er als zunächst als Feuerungsmaurer und Gerüstbauer in den VEB Kraftwerken L/V und ab November 1990 - mit zwei kurzzeitigen Unterbrechungen wegen Arbeitslosigkeit – für verschiedene Arbeitgeber nur noch als Gerüstbauer tätig.

Die arbeitstechnische Belastung wurde im Verwaltungsverfahren durch die Technischen Aufsichtsdienste (TAD) der zuständigen Berufsgenossenschaften nach dem Mainz Dortmunder Dosismodell (MDD) mit insgesamt 35,59 MNh wie folgt ermittelt: Die Abteilung Prävention der Unfallkasse des Bundes teilte am 06. Juni 2005 für die Zeit des Grundwehrdienstes eine Gesamtbelastung von 1,59 x 106 Nh mit. Die Ausbildung in der Zeit vom September 1980 bis Juli 1983 bewertete der Technische Aufsichtsbeamte S mit Schreiben vom 21. September 2005 dahin, dass hier eine BK relevante Exposition nicht gegeben gewesen sei, da es an einer ausreichenden Tagesdosis von mehr als 5500 Nh an zirka 120 bis 140 Arbeitsschichten im Jahr gefehlt habe. Die Technische Sachbearbeiterin Dipl. Ing. H vom TAD der Berufsgenossenschaft (BG) der Feinmechanik und Elektrotechnik teilte mit Stellungnahme vom 27. Juli 2005 für die Tätigkeiten in den Kraftwerken L von Juli 1983 bis Oktober 1990 eine Gesamtbelastungsdosis von 13,3 x 106 Nh mit. Für die Zeit der Tätigkeit von November 1990 bis August 2004 kam die Abteilung Prävention der Beklagten mit Stellungnahme des technischen Angestellten L vom 10. Juni 2005 zu dem Ergebnis, dass eine
Gesamtdosis von 20,7 MNh erreicht worden sei.

Im Oktober 2004 wandte sich der Kläger unter Bezugnahme auf eine seit 03. August 2004 bestehende Arbeitsunfähigkeit aufgrund seiner Wirbelsäulenerkrankung und unter Darlegung seiner beruflichen Tätigkeiten an die Beklagte und begehrte die Anerkennung einer BK 2108 sowie die Gewährung einer Verletztenrente. Beigefügt waren u. a. ein Operations- und Entlassungsbericht des C Klinikums C über die operative Behandlung eines subligamentären Bandscheibenvorfalls in Höhe LWK5/SWK1 rechts mediolateral und weniger ausgeprägt in Höhe LWK4/5 medial mit Rechtsbetonung. Im Entlassungsbericht vom 19. August 2004 ist ausgeführt, dass der Kläger seit vielen Jahren an rezidivierenden starken Lumbalgien leide; Ende Juli sei es zu einer Zunahme der Beschwerden und Häufung der Schmerzattacken gekommen. Der Kläger übersandte ferner u. a. seinen Ausweis für Arbeit und Sozialversicherung. Die Beklagte forderte beim C Klinikum C und dem Arbeitsmedizinischen Dienst Cottbus die dort
vorhandenen medizinischen Unterlagen an und holte Befundberichte des behandelnden Facharztes für Orthopädie Dipl. Med. K vom 11. Dezember 2004 und der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. H vom 20. April 2005 ein. Die Klinik B K übersandte einen Reha Entlassungsbericht über eine stationäre Behandlung des Klägers in der Zeit vom 31. August bis 21. September 2004. Eine Untersuchung des Klägers durch den Arbeitsmedizinischen Dienst der Beklagten am 11. Januar 2005 ergab, dass ihm schwere körperliche Arbeit in absehbarer Zeit nicht möglich sei. Zur Anamnese ist hier ausgeführt, dass seit zirka zehn Jahren immer mal Rückenschmerzen bestanden gehabt hätten. Der Facharzt für Arbeitsmedizin Dr. R äußerte sich am 17. Februar 2005 beratungsärztlich dahin, dass ein medizinisch begründeter BK 2108 Verdacht bestehe, da die Zwischenwirbelräume L4/5 (gering) und L5/S1 (deutlich) erniedrigt seien, im Segment L5/S1 fänden sich typische belastungsadaptive knöcherne Veränderungen in Form von Grund- und Deckenplattensklerosierungen.

Die Beklagte zog den Kläger betreffende Vorerkrankungsverzeichnisse der AOK für das Land Brandenburg, der IKK Brandenburg und Berlin und der Bundesknappschaft bei, in denen Arbeitsunfähigkeitszeiten aufgrund eines LWS Syndroms bzw. wegen Lumbago/Lumbalgie/Kreuzschmerzen für Zeiten in November 1992, April 1994, Januar 1996, Juni/Juli 2000, Mai/Juni 2001, Juni 2002 und Juni 2003 vermerkt sind. Der Kläger übersandte in der Folgezeit einen weiteren Entlassungsbericht des C Klinikums C über eine Behandlung in der Zeit vom 14. bis 16. Juni 2005 wegen persistierender akut rezidivierender Lumbago mit ausgeprägter inklinierter Fehlhaltung bei LWS Blockade sowie Arztbriefe über weitere Vorstellungen im C Klinikum Cottbus und dem Klinikum B wegen Wirbelsäulenbeschwerden.

Die Beklagte holte sodann ein Gutachten des Arztes für Orthopädie Dr. E vom 11. Oktober 2005 ein, der zu dem Ergebnis kam, dass beim Kläger zwar eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule (LWS) bestehe, diese sei jedoch nicht durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung verursacht oder mitverursacht worden. Ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Exposition und bandscheibenbedingter Erkrankung sei zwar theoretisch gegeben. Ein von kranial nach kaudal zunehmender Verschleiß der LWS oder belastungsadaptive Zeichen im Sinne reaktiver degenerativer Kantenanbauten seien an den Wirbelkörpern nicht nachzuweisen. Die Röntgenbilder der LWS wiesen in der Etage L3/4 nur minimale degenerative Veränderungen an den Wirbelkörpern bei minimaler Höhenminderung des Bandscheibenraumes auf. Für die Zusammenhangsbeurteilung bedeutsam sei auch ein Zustand nach Entwicklungsstörung der Wirbelsäule im Sinne eine Morbus Scheuermann. Diese habe als außerberuflicher Faktor eine Minderbelastbarkeit der Bandscheiben bedingt und damit zu einem erheblichen Bandscheibenverschleiß in dem Bewegungssegment L4/5/S1 geführt. Als Zeichen einer anlagebedingten Minderbelastbarkeit sei auch der starke Verschleiß der kleinen Wirbelgelenke im nicht belasteten HWS Bereich zu werten.

Nach Anhörung des Landesamtes für Arbeitsschutz, für welches die Fachärztin für Arbeitsmedizin und HNO Krankheiten Dipl. Med. O die Anerkennung einer BK 2108 am 29. November 2005 u. a. mit der Argumentation, dass lt. TAD die arbeitstechnischen Voraus-setzungen für die BK 2108 nicht erfüllt seien, nicht empfahl, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 22. Dezember 2005 die Gewährung einer Entschädigung wegen einer BK 2108 und etwaiger prophylaktischer Maßnahmen gemäß § 3 BKV ab. Den hiergegen erhobenen
Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 09. März 2006 zurück.

Im Klageverfahren hat das Gericht Befundberichte der folgenden behandelnden Ärzte eingeholt: der Fachärztin für Orthopädie, Chirotherapie Dr. D vom 31. Juli 2006, der Fachärztin für Orthopädie S vom 15. August 2006, des Facharztes für Orthopädie, Chirotherapie, Physikalische Medizin Dipl. Med. K vom 29. August 2006, des Arztes F, Klinik für Neurochirurgie des C Klinikums C, vom 18. Dezember 2006 und der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. H vom 30. März 2007. Das Gericht hat ferner Vorerkrankungsverzeichnisse der Krankenkassen des Klägers, die Unterlagen der Klinik B in K über die stationäre Behandlung des Klägers vom 31. August bis 21. September 2004 sowie der Agentur für Arbeit Cottbus beigezogen und ein Gutachten des Arztes für Chirurgie und Sozialmedizin Dr. B vom 22. Mai 2007 eingeholt, der zu dem Ergebnis kam, dass die beim Kläger vorliegenden Beeinträchtigungen nicht ursächlich auf dessen berufliche Tätigkeit zurückzuführen seien. Es bestünden ausschließlich konstitutionelle Faktoren und Vorschäden, ein von oben nach unten zunehmender Schadensprozess sei nicht nachweisbar.

Mit Urteil vom 06. Dezember 2007 hat das Sozialgericht Cottbus die Klage unter Bezugnahme auf die gutachterlichen Feststellungen der Dr. E und Dr. B abgewiesen.

Gegen dieses ihm am 25. Februar 2008 zugegangene Urteil richtet sich die am 11. März 2008 eingegangene Berufung des Klägers. Der Kläger ist der Ansicht, dass ihm unter Zugrundele-gung der in den Konsensempfehlungen niedergelegten Grundsätze ein Anspruch auf eine Ver-letztenteilrente wegen einer BK 2108 zustünde. Das bei ihm bereits im Alter von 41 Jahren aufgetretene schwere Krankheitsbild sei dergestalt keinesfalls in der Allgemeinbevölkerung vergleichbaren Alters zu finden. Ein belastungskonformes Schadensbild sei nicht zu fordern, insoweit gebe es keinen wissenschaftlichen Konsens. Im Übrigen sei die Frage des Vorliegens einer bandscheibenbedingten Erkrankung nach dem präoperativen Zustand zu beurteilen. Die Präventionsabteilungen der Berufsgenossenschaften hätten für ihn die hohe Gesamtbelastungsdosis von insgesamt 35,59 x 106 Nh ermittelt, zusätzlich lägen bei ihm auch hohe Belastungsspitzen nach dem MDD im Sinne der Hälfte der Tagesdosisrichtwerte vor, die von der
Beklagten bislang nicht in korrekter Weise bewertet worden seien.

Der Kläger beantragt:

das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 06. Dezember 2007 und den Bescheid der Beklagten vom 22. Dezember 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 09. März 2006 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen der Folgen einer Berufskrankheit Nr. 2108 zur Berufskrankheiten-Verordnung eine Verletztenteilrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 v. H. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte trägt vor, dass zwar Belastungsspitzen an 30 bis maximal 66 Tagen pro Jahr beim Kläger vorgelegen hätten, diese hätten jedoch keine Spitzenbelastungen im Sinne des
geforderten "besonderen Belastungspotentials" dargestellt. Die Beklagte verweist im Übrigen auf Äußerungen ihres Beratenden Arztes, des Facharztes für Arbeitsmedizin Dr. P, vom 09. März 2009, 24. Juli 2009, 30. November 2009, und vom 12. April 2010. Dr. P führte aus: Die bandscheibenbedingte Erkrankung sei operativ behandelt worden. Bei dem jetzt noch bestehenden Postdiskektomiesyndrom, also anhaltenden Beschwerden nach Bandscheibenoperation, handele es sich nicht mehr um eine bandscheibenbedingte Erkrankung im Sinne des BK Tatbestandes. Beim Kläger liege ein "Allerweltsschaden" vor, der sämtliche Indizien ver-missen lasse, dass er kausal auf die berufliche Tätigkeit rückführbar sei. Es fehle an einer plausiblen zeitlichen Korrelation zwischen der beruflichen Belastung und der vorgetragenen klini-schen Symptomatik, da der Kläger bereits seit 1992, als er zirka 29 Jahre alt war, an LWS Beschwerden leide, sowie an einem so genannten belastungskonformen Schadensbild im Sinne von kranial nach kaudal zunehmenden Schäden. An der oberen LWS und der unteren BWS zeigten sich beim Kläger keine belastungsadaptiven Veränderungen, die auf eine mechanische Überlastung des Achsenorgans hindeuten könnten. Dies sei jedoch einzig und allein bei beruflichen Belastungen, bei denen sich die Gefährdung hauptsächlich aus wiederholten Spitzenbelastungen ergäbe, also bei Pflegekräften, ohne negative Indizwirkung. Angesichts des vom Kläger ausgeübten Berufes stelle das Fehlen einer Begleitspondylose eindeutig ein Negativkriterium dar. Wenn man dennoch eine Eingruppierung in eine Konstellation nach den Konsensempfehlungen vornehme, wo dieses wichtigste Kriterium egalisiert werde, sei dies fahrlässig. Das Fehlen einer Begleitspondylose bei beruflichen Belastungen, bei denen sich die Gefährdung nicht hauptsächlich aus wiederholten Spitzenbelastungen ergebe, habe eine klare negative Indizwirkung. Wenn nach einer ganzheitlichen Abwägung sämtlicher Befunde eine BK 2108 nicht vorliege, dürfe der Fall auch nicht der Fallkonstellation B 2 zugeordnet werden. Die Konsensempfehlungen dienten als wertvolle Orientierungshilfe, seien jedoch nicht aufgestellt worden, um dem Gutachter das Denken abzunehmen oder dessen kritisch-wachen Verstand auszuschalten. Auch liege mit den Residuen des Morbus Scheuermann eine klare konkurrierende Ursache vor, auch wenn die Konsensempfehlungen anders auszulegen seien und wenn es hierzu bislang keine wissenschaftliche Studien über den Zusammenhang zwischen lumbalem Morbus Scheuermann und bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule gäbe.

Das Gericht hat zur Aufklärung des Sachverhaltes ein Gutachten des Facharztes für Orthopädie Dr. W vom 09. Oktober 2008 eingeholt, der zu dem Ergebnis kam, dass beim Kläger folgende Veränderungen am Achsenorgan vorlägen:

- beginnende Osteochondrosen HWK5/6 - Bandscheibenvorfall auf der Etage L4/5 und L5/S1 bei Zustand nach Operation - Osteochondrose der Etage L4/5 - Facettengelenksarthrose der unteren LWS - Zustand nach Morbus Scheuermann der unteren BWS, mittleren und oberen LWS Es liege die Fallkonstellation der Konsensempfehlungen "B 2" mit einem auf die untere LWS bezogenen Bandscheibenschaden (L4 bis S1) vor. Eine dorsale Begleitspondylose habe sich nicht entwickelt, es sei jedoch das Ergänzungskriterium (Befall zweier Wirbelsäulensegmente mit einem Vorfall) erkennbar. Relevante Begleitspondylosen auf mindestens zwei Segmenten fänden sich in der Tat nicht, so dass die Konstellation "B 1" ausscheide. Es müsse darauf hin-gewiesen werden, dass es sich bei den Begleitspondylosen um ein bedeutsames Positivkriterium handele. Im Hinblick auf die Konstellation "B 2" sei jedoch bedeutsam, dass hier auch bei Fehlen einer Begleitspondylose eine kausale Beziehung hergestellt werden könne, wenn Ergänzungskriterien erfüllt seien. Dies sei für den Kläger in Bezug auf das erste genannte Kriterium "Höhenminderung und/oder Prolaps an mehreren Bandscheiben" der Fall. Denn
altersüberschreitende Vorfälle hätten sich auf der Etage L4/5 und L5/S1 nachweisen lassen. Wesentliche konkurrierende Ursachenfaktoren lägen im Falle des Klägers nicht vor. Der Morbus Scheuermann sei nach der Expertenmeinung in den Konsensempfehlungen nur in den seltenen Fällen einer lumbalen Lokalisation mit Keilwirbelbildung und Abweichung von mindestens zehn Grad eine plausible Konkurrenzursache. Übertragen auf den Fall des Klägers sei der Morbus Scheuermann im Bereich der mittleren und oberen LWS damit nicht als konkurrierende Ursache aufzuführen, da sich die Residuen auf die mittleren und oberen LWS Abschnitte lokalisierten und nicht zu Keilwirbeln geführt hätten. Der erforderliche zeitliche Zusammen-hang zwischen Belastung und Entwicklung der Erkrankung sei auch gegeben. Die Angaben zum Entstehungszeitpunkt von Rückenschmerzen divergierten zwar. Lege man das Arbeitsunfähigkeitsverzeichnis der AOK zugrunde, so sei der Kläger bereits 1992 wegen eines LWS Syndroms krankgeschrieben worden, als die Mindestexpositionszeit von zehn Jahren allenfalls grenzwertig erreicht gewesen sei. Kritisch müsse jedoch darauf hingewiesen werden, dass ein LWS Syndrom als Diagnose nicht konkret auf eine frühe Bandscheibenproblematik hinweisen könne. Auch die 1994 und 1996 genannten Erkrankungen (Lumbago) stellten un-spezifische Symptombilder, jedoch keine LWS Erkrankungen dar. Keinesfalls könne dieser Krankheitsverlauf als eindeutige frühe Schadensanlage eingestuft werden. Bei der retrospekti-ven Betrachtung der Krankheitsentwicklung scheine das Jahr 2004 entscheidend zu sein, als erstmalig eindeutig nachgewiesene Nervenwurzelreizerscheinungen bzw. Kompressionssyndrome aufgetreten seien; damit sei im Sommer 2004 eine bandscheibenbedingte Wirbelsäulenerkrankung klinisch in Erscheinung getreten.

Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage 20 v. H. Das Ausmaß der Defizite sei auch nach den Ausführungen des Klägers unterschiedlich, er habe seine Tätigkeit als Gerüstbauer aufgeben müssen und die Arbeitsfähigkeit nicht wiedererlangt. Nennenswerte Nervenwurzelreizerscheinungen lägen jedoch nicht mehr vor.

Die Beklagte hat sodann weitere Stellungnahmen ihrer Abteilung Prävention vom 01. Dezember 2008 und vom 15. Dezember 2008 beigebracht, in denen ausgeführt ist, dass die erreichte Lebensdosis in zehn Beschäftigungsjahren 15,3 MNh betragen habe, die Hälfte des Tagesdosisrichtwertes durch ungewöhnlich hohe Belastungsspitzen (Männer ab 6 kN) sei an 66 Tagen/Jahr lediglich in der Zeit vom 02. November 1991 bis 30. April 1995 erreicht wor-den.

Dr. P führte in seiner Stellungnahme vom 24. Juli 2009 u. a. aus, dass trotz aller gegenteiligen Standpunkte auch der von Dr. W vorgegebene Weg durchaus mit den Konsensempfehlungen vereinbar sei. Der Gutachter habe in sehr detaillierter, klar strukturierter und logischer Weise seine Gedankengänge dargestellt, welche von den Konsensempfehlungen gedeckt seien. Die resultierende Diskrepanz sei dahingehend zu erklären, dass die Konsensempfehlungen dem Gutachter zwar einen groben Rahmen setzten, ihn jedoch nicht in seiner Entscheidungsfreiheit einengten und einen gewissen Interpretationsspielraum übrig ließen. Selbstkritisch solle auch erwähnt werden, dass die von ihm selbst vorgenommene Interpretation nicht nur diskussionswürdig, sondern sicherlich auch kritikwürdig sei.

Mit Rückäußerung zu Dr. P führte Dr. W am 09. Oktober 2009 aus, dass die Auffassung, dass ein Postnukleotomiesyndrom nicht einem bandscheibentypischen Erkrankungsbild entspreche, sehr eigenwillig sei und der Krankheitsentwicklung des Klägers nicht gerecht werde. Postnukleotomiebeschwerden entstünden durch Vernarbungen, sekundäre Segmentinstabilitäten oder reaktive knöcherne Abnutzungsprozesse. Eine gesicherte bandscheibenbedingte
Erkrankung habe beim Kläger vorgelegen, beurteilt werden müsse der Zustand vor der ärztlichen Intervention. In der Tat eröffne zwar die Fallkonstellation B 2 weit reichende Interpretationsspielräume. Er stimme Dr. P insofern zu, als dass die aktuellen Konsensempfehlungen nicht immer der klaren Abgrenzbarkeit dienten. Im konkreten Fall ergäbe sich unter objektiver Abwägung aller Sachargumente jedoch mit genügender Wahrscheinlichkeit die Konstellation B 2. Im Übrigen sei für eine ausgewogene Gesamtabwägung auch auf das Fehlen von Negativindizien hinzuweisen: Es lägen im Falle des Klägers kein Mitbefall der HWS vor, keine Übergewichtigkeit, keine erkennbaren Wirbelsäulenverformungen oder Knochenstoffwechselstörungen, keine metabolischen Begleiterkrankungen oder früheren Traumata.

In seiner Stellungnahme vom 30. November 2009 führte Dr. P erneut aus, dass die Vorgehensweise des Dr. W formal richtig und von den Konsensempfehlungen gedeckt sei. Auch eine Einbeziehung weiterer medizinischer Experten werde das Dilemma der Aporie nicht auflösen können. Die Rechtswissenschaft müsse klären, welche Vorgehensweise, ob die zuordnende oder die abwägende, der Theorie der wesentlichen Bedingungen am ehesten Rechnung trage.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie den der Verwaltungsakte der Beklagten.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig und begründet. Die angefochtenen Bescheide und der erstinstanzliche Gerichtsbescheid sind rechtswidrig und waren daher aufzuheben. Der Kläger hat Anspruch auf die Anerkennung einer BK Nr. 2108 und auf die Gewährung einer Verletztenteilrente wegen der Folgen dieser BK. Hinzuweisen ist allerdings darauf, dass Gegenstand des Verfahrens allein die Gewährung einer Rente aufgrund einer BK 2108 ist. Die erstinstanzlich noch geprüfte BK 2109 konnte zulässigerweise hingegen nicht Gegenstand des Verfahrens sein, da mit dem angefochtenen Bescheid vom 22. Dezember 2005 nur über eine BK 2108 entschieden worden war.

Anspruch auf Rente haben gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 Siebentes Buch Sozialgesetzbuch, Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII), Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit in Folge eines Versicherungsfalles – eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit – um wenigstens 20 vom Hundert gemindert ist. Berufskrankheiten sind gemäß § 9 Abs. 1 SGG VII Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als solche be-zeichnet und die Versicherte in Folge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Zu den vom Verordnungsgeber bezeichneten Berufskrankheiten gehören nach Nr. 2108 der Anlage zur BKV bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten oder langjährige Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.

Die Feststellung dieser Berufskrankheit setzt voraus, dass zum einen die arbeitstechnischen Voraussetzungen in der Person des Klägers gegeben sind und dass zum anderen das typische Krankheitsbild dieser Berufskrankheit vorliegt und dieses im Sinne der unfallrechtlichen Kausalitätslehre wesentlich ursächlich auf die berufliche Tätigkeit zurückzuführen ist. Die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen
einschließlich deren Art und Ausmaß müssen im Sinne des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht grundsätzlich die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit, nicht jedoch die bloße Möglichkeit ausreicht (Bundessozialgericht, BSG, SozR 3-2200, § 551 Nr. 18 m. w. N.).

Dabei ist nach dem Merkblatt zu der BK Nr. 2108 der Anlage zur BKV (BArbBl. 10/2006, Seite 30 ff.) zu berücksichtigen, dass bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule eine multifaktorielle Ätiologie haben, weit verbreitet sind und in allen Altersgruppen, sozialen Schichten und Berufsgruppen vorkommen. Die in dem Merkblatt dargelegten Er-kenntnisse zur Entstehung von Wirbelsäulenerkrankungen können jedenfalls derzeit noch als dem Stand der Wissenschaft entsprechend angewandt werden, auch wenn diese Merkblätter nicht fortgeführt werden. Bei der Kausalitätsbetrachtung sind bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule von konkurrierenden Ursachen abzugrenzen, wobei im Rahmen der Kausalitätsbetrachtung eine Gesamtschau aller möglichen Faktoren anzustellen ist. Für den Ursachenzusammenhang zwischen Einwirkungen und Erkrankungen im Berufskrankheiten-recht gilt, wie auch sonst in der gesetzlichen Unfallversicherung, die Theorie der wesentlichen Bedingung. Danach werden im Sozialrecht als rechtserheblich nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. "Wesentlich" ist nicht gleichzusetzen mit "gleichwertig" oder "annähernd gleichwertig". Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die andere(n) Ursache(n) keine überragende Bedeutung hat (haben). Gesichtspunkte für die Beurteilung der
Wesentlichkeit einer Ursache sind insbesondere die versicherte Ursache bzw. das Ereignis als solches, also Art und Ausmaß der Einwirkung, konkurrierende Ursachen unter Berücksichtigung ihrer Art und ihres Ausmaßes, der zeitliche Ablauf des Geschehens und Rückschlüsse aus dem Verhalten des Verletzten nach den Einwirkungen, Befunde und Diagnosen der erstbehandeln-den Ärzte sowie die gesamte Krankengeschichte. Trotz dieser Ausrichtung am individuellen Versicherten sind der Beurteilung des Ursachenzusammenhangs im Einzelfall der aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand über die Ursachenzusammenhänge zwischen Ereignissen und Gesundheitsschäden zugrunde zu legen. Als aktueller Erkenntnisstand sind solche durch Forschung und praktische Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse anzusehen, die von der großen Mehrheit der auf dem betreffenden Gebiet tätigen Fachwissenschaftler anerkannt werden, über die also, von vereinzelten, nicht ins Gewicht fallenden Gegenstimmen abgesehen, Konsens besteht. Dazu können einschlägige Publikationen, beispielsweise die Merkblätter des zuständigen Bundesministeriums und die wissenschaftliche Begründung des ärztlichen Sachverständigenbeirats, Sektion Berufskrankheiten, zu der betreffenden BK oder Konsensusempfehlungen der mit der Fragestellung befassten Fachmediziner herangezogen werden, sofern sie zeitnah erstellt oder aktualisiert worden sind und sich auf dem neuesten Stand befinden (BSG, Urteil vom 27. Juni 2006, Az. B 2 U 13/05 R, SozR 4-2700 § 9 Nr. 9, zitiert nach juris.de, m. w. N.). Dem im Berufungsverfahren gehörten Sachverständigen Dr. W-R war daher aufgegeben worden, seine Feststellungen anhand der bereits genannten Konsensempfehlungen zur BK Nr. 2108 (Bolm-Audorff u. a., Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Be-rufskrankheiten der Lendenwirbelsäule, Trauma und Berufskrankheit 2005, S. 211 ff. und S. 320 ff.) zu begründen, aus welcher sich der aktuelle medizinische Erkenntnisstand zu dieser BK ergibt.

Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben sind die Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK 2108 erfüllt. Zunächst einmal sind die arbeitstechnischen Voraussetzungen hierfür gegeben. Die Präventionsdienste der Beklagten und der für die übrigen vom Kläger verrichteten Tätigkeiten zuständigen Berufsgenossenschaften haben insgesamt eine Gesamtbelastungsdosis von 35,59 x 106 Nh festgestellt, womit die arbeitstechnischen Voraussetzungen unter Zugrundelegung des Mainz-Dortmunder-Dosismodells klar und unstreitig erfüllt sind.

Auch die medizinischen Voraussetzungen der BK 2108 sind erfüllt. Erforderlich ist zunächst eine bandscheibenbedingte Erkrankung im Sinne dieser BK, also ein Bandscheibenschaden im Sinne einer Höhenminderung und/oder eines Vorfalls, zu dem eine korrelierende klinische Symptomatik hinzutritt (Konsensempfehlungen, a. a. O., S. 215). Ein solcher Schaden lag beim Kläger präoperativ aufgrund des Vorfalls LWK 4/5 und LWK5/SWK1 vor. Entgegen der Auffassung des Klägers und von Dr. W ist für die Beurteilung des Vorliegens einer bandscheibenbedingten Erkrankung allerdings keineswegs stets der präoperative Zustand zugrunde zu legen. Denn nach allgemeinen Grundsätzen ist eine erfolgreich behandelte Krankheit als solche nicht mehr existent. Wenn daher ein Bandscheibenvorfall operativ beseitig worden ist und infolge der Behandlung weder Beschwerden noch Funktionseinschränkungen fortbestehen, besteht auch keine bandscheibenbedingte Erkrankung mehr. Anders als Dr. P in seiner Stellungnahme vom 24. Juli 2009 meint, ist die bandscheibenbedingte Erkrankung des Klägers jedoch gerade nicht erfolgreich behandelt worden. Denn das sich als Postdiskotomiesyndrom zeigende Erkrankungsbild ist unmittelbare Folge der bandscheibenbedingten Erkrankung bzw. ihrer Behandlung und führt nach wie vor zu den von Dr. W im Einzelnen beschriebenen, ganz erheblichen Einschränkungen im Sinne von Schmerzen und Bewegungseinschränkungen mit anhaltender Arbeitsunfähigkeit und folgender Berufsaufgabe. Eine erfolgreiche Behandlung liegt in einem derartigen Falle nicht vor.

Diese bandscheibenbedingte Erkrankung ist auch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit im Sinne der Wesentlichkeitstheorie ursächlich auf die berufliche Belastung des Klägers zurückzuführen. Das Gericht folgt diesbezüglich den umfassenden und überzeugenden Ausführungen des Dr. W in dessen Gutachten vom 09. Oktober 2008 und dessen Rückäußerung vom 09. Oktober 2009. Dr. W hat nach sorgfältiger Anamneseerhebung und Auswertung des umfangreichen in den Akten befindlichen Befundmaterials und unter Anwendung der in den
Konsensempfehlungen (Bolm Audorff u. a., Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule, Trauma und Berufskrankheit 2005, 211 ff. und 320 ff.) niedergelegten Grundsätze überzeugend dargelegt, dass und weshalb die beim Kläger vorliegende Erkrankung durch dessen berufsbedingte Belastungen wesentlich verursacht worden ist.

Dr. W hat zunächst zu Recht die Konstellation B 2 der Konsensempfehlungen geprüft und deren Vorliegen bejaht. Die Konstellation B 2 hat folgende Voraussetzungen
(Konsensempfehlungen, a. a. O., S. 217):

- wesentliche konkurrierende Ursachenfaktoren erkennbar: nein - Begleitspondylose: nein - entweder: Höhenminderung und/oder Prolaps an mehreren Bandscheiben - bei monosegmentaler/m Chondrose/Vorfall in L5/S1 oder L4/L5 "black disk" im Magnetresonanztomogramm in mindestens zwei angrenzenden Segmenten oder besonders intensive Belastung; Anhaltspunkt: Erreichen des Richtwertes für die Le-bensdosis in weniger als zehn Jahren, oder besonderes Gefährdungspotential durch hohe Belastungsspitzen; Anhaltspunkt: Erreichen der Hälfte des MDD-Tagesdosis-Richtwertes durch hohe Belastungsspitzen (Männer ab 6 kN).

In diesen Fällen ist nach den Konsensempfehlungen ein Zusammenhang wahrscheinlich.

Der Kläger erfüllt diese Voraussetzungen. Wesentliche konkurrierende Ursachenfaktoren sind nicht erkennbar. Insbesondere die Residuen des Morbus Scheuermann sind, wie Dr. W zu Recht ausführt, nach den Konsensempfehlungen im Falle des Klägers nicht als konkurrierender Faktor zu werten. Die Konsensempfehlungen enthalten zur Bewertung des Morbus Scheuermann umfangreiche Ausführungen, die mit dem auch schon von Dr. W dargelegten Resümee schließen, dass es nur für den seltenen Fall einer lumbalen Lokalisation des Morbus
Scheuermann mit Keilwirbelbildung und Abweichung von mindestens zehn Grad plausibel ist, dass die Erkrankung als anlagebedingter Faktor wirksam wird mit der Folge der Notwendigkeit einer individuellen Bewertung. Eine derartige Lokalisation des Morbus Scheuermann lag beim Kläger jedoch nicht vor, auch gab es keine Keilwirbelbildung und Abweichung von mindestens zehn Grad. Die entgegenstehende Auffassung von Dr. P widerspricht bereits nach seinen eigenen Ausführungen sowohl den Konsensempfehlungen als auch dem herrschenden medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand, so dass auf diese nicht abgestellt werden konnte. Auch andere konkurrierende Erkrankungen liegen beim Kläger nicht vor, wie Dr. W am Ende seiner Rückäußerung vom 09. Oktober 2009 nochmals klargestellt hat.

Eine Begleitspondylose, die allgemein als Zeichen dafür gewertet wird, dass eine langjährige Belastung bzw. Beanspruchung der Wirbelsäule tatsächlich in Form belastungsadaptiver Umbauten wirksam geworden ist, liegt beim Kläger zwar nicht vor. Dies ist nach den Konsensempfehlungen in der Konstellation B 2 jedoch ausdrücklich nicht schädlich. Soweit Dr. P wie-derholt ausführt, dass das Fehlen von belastungsadaptiven Reaktionen jeglicher Einordnung in eine Fallgruppe und insbesondere einer solchen in die B 2 entgegenstünde, widerspricht dies den genannten klaren Vorgaben der Konstellation B 2. Letztlich ist auch das Ergänzungskriterium der Konstellation B 2 im Sinne eines Prolapses an mehreren Bandscheiben erfüllt, denn beim Kläger lag präoperativ ein Prolaps an den Bandscheiben L4/L5 und L5/S1 vor, dessen Folgen – wie ausgeführt – letztlich nicht erfolgreich beseitigt werden konnten.

Der entgegenstehenden Auffassung des Dr. P konnte nicht gefolgt werden. Dr. P hat zu Recht erkannt und ausdrücklich bestätigt, dass der von Dr. W vorgegebene Weg mit den Konsensempfehlungen vereinbar ist, während seine eigene Auffassung "nicht nur diskussionswürdig, sondern sicherlich auch kritikwürdig" sei. Der Vortrag eines Beteiligten unter Bezugnahme auf eine medizinische Mindermeinung, die herrschende Meinung in der medizinischen Wissenschaft sei unzutreffend, kann einer Klage schon grundsätzlich nicht zum Erfolg verhelfen. Es ist nicht Aufgabe eines Sozialgerichtsverfahrens, die Richtigkeit medizinischer Auffassungen zu überprüfen. Dies ist Aufgabe der fachwissenschaftlichen Diskussion. Ermittlungen, ob eine allseits bekannte herrschende Meinung in der medizinischen Wissenschaft noch besteht, sind erst dann veranlasst, wenn ernsthafte Zweifel daran nachvollziehbar dargelegt sind. Dies war vorliegend aufgrund des Vorbringens des Dr. P nicht der Fall.

Entgegen Dr. P hat Dr. W über die bloße Subsumtion unter die Konstellation B 2 hinaus auch durchaus auch eine Gesamtabwägung vorgenommen, indem er auch andere Kriterien, wie sie in den Konsensempfehlungen vor der Erörterung der einzelnen Konstellationen dargestellt sind, geprüft und kritisch gewürdigt hat. Ein belastungskonformes Schadensbild sah Dr. W aufgrund des mehrsegmentalen Bandscheibenschadens im unteren LWS Bereich noch als ausreichend gegeben an. Insbesondere sprach auch die zeitliche Krankheitsentwicklung im Verhältnis zur beruflichen Belastung durchaus für eine berufsbedingte Verursachung. Dr. W hat hier unter Auswertung insbesondere der Vorerkrankungsverzeichnisse überzeugend ausgeführt, dass die seit 1992 zunächst lediglich in zweijährigen Abständen und auch nur kurzzeitig aufge-tretenen Arbeitsunfähigkeitszeiten wegen eines LWS Syndroms bzw. Lumbago in keiner Weise Rückschlüsse darauf erlauben, dass seinerzeit bereits eine bandscheibenbedingte Erkrankung vorgelegen habe. Die bandscheibenbedingte Wirbelsäulenerkrankung trat vielmehr erst im Sommer 2004 klinisch in Erscheinung, also nach, aber im direkten Anschluss an die erhebliche berufsbedingte Exposition.

Entgegen der Einschätzung des Dr. P ist es für die Auslegung der Konsensempfehlungen weder erforderlich noch sinnvoll, grundsätzlich entweder einer zuordnenden oder einer abwägenden Vorgehensweise den Vorrang zu geben. Bereits die Konsensempfehlungen selbst eröffnen nicht die Möglichkeit, ausschließlich den einen oder den anderen Weg zu verfolgen. Die in den Konsensempfehlungen im Einzelnen dargestellten Konstellationen sind lediglich typische Fallkonstellationen, die nicht abschließend sind. Eine abwägende Gesamtbeurteilung dürfte auch bei Vorliegen aller Kriterien einer bestimmten Fallkonstellation nie ausgeschlossen sein. So ist es z. B. denkbar, dass bei Fehlen jeglichen vertretbaren zeitlichen Zusammenhangs zwischen beruflicher Belastung und Eintreten der Erkrankung trotz Vorliegens der Voraussetzungen einer einzelnen Konstellation die Ursächlichkeit zu verneinen ist. Wenn jedoch wie im vorliegenden Fall einerseits die Voraussetzungen einer bestimmten Konstellation klar gegeben sind und danach ein Zusammenhang wahrscheinlich ist und andererseits auch eine Gesamtabwägung durchaus für die Ursächlichkeit der berufsbedingten Belastung spricht und allenfalls einzelne Aspekte innerhalb dieser Gesamtabwägung diskussionswürdig sind, so besteht kein Grund, entgegen dem für eine bestimmte Konstellation von der herrschenden wissenschaftlichen Meinung gefundenen Konsens abzuweichen.

Soweit Dr. P den beim Kläger vorliegenden Schaden als "Allerweltsschaden" bezeichnet, ist dies schlechthin nicht nachvollziehbar. Die beim Kläger im Alter von zirka 41 Jahren
aufgetretene Erkrankung hat diesen zur Aufgabe seiner Tätigkeit als Baufacharbeiter gezwungen. Das Lebensalter beim Auftreten der Schädigung ist jedoch auch nach den Konsensempfehlungen (a. a. O., Seite 212) im Rahmen der von Dr. P geforderten Gesamtabwägung durchaus zu berücksichtigen.

Den im vorliegenden Verfahren noch gehörten Gutachtern Dr. E und Dr. B konnte ebenfalls nicht gefolgt werden. Dr. E ging in seinem Gutachten vom 11. Oktober 2005 noch nicht von den Vorgaben der Konsensempfehlungen aus, was sich insbesondere wegen seiner Bewertung des Morbus Scheuermann als konkurrierende Ursache auf die von ihm vorgenommene Gesamtabwägung ausgewirkt hat. Dr. B fehlt im Vergleich zu der ausführlichen Auseinandersetzung zwischen Dr. W und Dr. P vorliegend die notwendige Argumentationshöhe im Hinblick auf die zu erörternden Aspekte.

Die aufgrund der Folgen des Bandscheibenschadens bestehende MdE beträgt 20 v. H. Eine MdE von 20 v. H. ist nach der medizinisch-wissenschaftlichen Literatur (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage 2010, Seite 511) bei einem lokalen LWS Syndrom oder lumbalen Wurzelkompressionssyndrom mit mittelgradigen belastungsabhängigen Beschwerden oder einer Lumboischialgie mit belastungsabhängigen Beschwerden, deutlichen Funktionseinschränkungen oder bei mittelgradigen
Funktionseinschränkungen und Beschwerden nach Operation gegeben. Das Vorliegen derartiger mittelgradiger belastungsabhängiger Beschwerden kann nach den Ausführungen des Dr. W zu dem beim Kläger bestehenden Beschwerdebild nachvollzogen werden. Einwände gegen die MdE Bemessung sind auch weder seitens des Klägers noch seitens der Beklagten erhoben worden.

Der Rentenbeginn folgt aus § 72 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII, wonach Renten von dem Tag an gezahlt werden, an dem der Anspruch auf Verletztengeld endet. Anspruch auf Verletztengeld bestand für die Dauer der gewährten Krankengeldzahlung.

Nach alledem war daher die Berufung des Klägers daher erfolgreich.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG), sie folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG lagen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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