L 2 R 6/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 15 R 2527/11
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 R 6/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 29. Dezember 2011 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe der Rente des Klägers wegen voller Erwerbsminderung im Streit.

Mit Bescheid vom 13. November 2006 bewilligte die Beklagte dem am 14. Juli 1961 geborenen Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 1. Juni 2003 auf Dauer. Zum Zeitpunkt der Rentenbewilligung stand der Kläger - bereits seit 3. September 2003 - unter Betreuung (Beschluss des Amtsgerichts Heidelberg vom 3. September 2003 - 40 XVII E 285/03). Als Berufsbetreuer war Herr Rechtsanwalt K./H. bestellt. Diese Betreuung hob das Amtsgericht H. mit Beschluss vom 1. September 2008 auf.

Gegen den Rentenbescheid vom 13. November 2006 erhob der Betreuer des Klägers am 14. Dezember 2006 Widerspruch. Begehrt wurde die Berücksichtigung eines Zugangsfaktors in Höhe von 1,0 und damit eine abschlagsfreie Zahlung der Rente wegen voller Erwerbsminderung. Mit Schreiben vom 18. Januar 2007 teilte die Beklagte über den Betreuer dem Kläger mit, über die Frage des Zugangsfaktors bei Renten wegen Erwerbsminderung vor Vollendung des 60. Lebensjahres seien derzeit Musterprozesse anhängig. Es werde daher vorgeschlagen, den Widerspruch solange ruhen zu lassen, bis über die Musterprozesse abschließend entschieden worden sei. Die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16. Mai 2006 (B 4 RA 22/05 R), in der die Rechtsauffassung des Klägers vertreten worden sei, entspreche nicht der Rechtsauffassung der Beklagten.

Am 24. Februar 2008 erhob der Kläger persönlich beim Sozialgericht Mannheim (SG) Klage (S 12 R 661/08). Auf Aufforderung des SG legte der Betreuer des Klägers mit Schreiben vom 13. Juni 2008 eine Zustimmung zum Ruhen des Widerspruchverfahrens vor. Am 19. August 2008 nahm der Betreuer des Klägers die Untätigkeitsklage beim SG zurück.

Am 19. Juli 2011 hat der Kläger erneut Klage beim SG erhoben. Zur Begründung hat er vorgetragen, das BSG habe mit Urteil vom 16. Mai 2006 entschieden, dass bei Renten wegen Erwerbsminderung vor Vollendung des 60. Lebensjahres der Zugangsfaktor von 1,0 nicht gemindert werde. Seit 1. Juli 2003 habe die Beklagte jedoch keine abschlagsfreie Rente wegen Erwerbsminderung gezahlt. Der Widerspruch vom 12. Dezember 2006 sei bislang nicht beschieden. Die Beklagte ist der Untätigkeitsklage entgegengetreten. Mit dem damaligen Betreuer des Klägers sei das Ruhen des Widerspruchsverfahrens vereinbart worden. Untätigkeit liege daher nicht vor.

Mit Widerspruchsbescheid vom 22. September 2011 (Bl. 33 SG-Akte) wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers gegen den Rentenbescheid vom 13. November 2006 zurück. Zur Begründung führte sie aus, das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe am 11. Januar 2011 über die zwischen dem Kläger und ihr strittige Rechtsfrage entschieden (Aktenzeichen: 1 BvR 3588/08 und 1 BvR 555/09). Danach sei die Kürzung der Erwerbsminderungsrente auch beim einem Rentenbeginn vor dem 60. Lebensjahr verfassungsgemäß.

Mit am 30. November 2011 beim SG eingegangenen Schreiben hat der Kläger erklärt, die Untätigkeitsklage nunmehr als Verpflichtungsklage fortführen zu wollen.

Mit Gerichtsbescheid vom 29. Dezember 2011 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger sei befugt gewesen seine Untätigkeitsklage in eine kombinierte Verpflichtungs- und Leistungsklage zu ändern. Die Klage sei jedoch unbegründet, da ein Anspruch des Klägers auf Gewährung der ihm bewilligten Rente wegen voller Erwerbsminderung ohne Kürzung des Zugangsfaktors nach § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) nicht bestehe. Nach § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI sei der Zugangsfaktor für Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer Rente gewesen seien bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 65. Lebensjahres in Anspruch genommen werde, um 0,003 niedriger als 1,0. Beginne eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 62. Lebensjahrs, sei die Vollendung des 62. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend (§ 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Nach § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI i.d.F. vom 19. Februar 2002, gültig im Zeitraum vom 1. Januar 2002 bis 31. Juli 2004, sei die Vollendung des 63. Lebensjahres maßgeblich. Nach § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI i.d.F. vom 19. Februar 2002 gelte bei Beginn einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors als maßgebend. Mit Beschluss vom 11. Januar 2011 (1 BvR 3588/08 und 1 BvR 555/09) habe das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die Kürzung des Zugangsfaktors bei Renten wegen Erwerbsminderung nach § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI in der ab 1. Januar 2001 geltenden Fassung des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20. Dezember 2000 mit dem Grundgesetz vereinbar sei, auch wenn der Rentenbezug vor der Vollendung des 60. Lebensjahres beginne. § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI sei eine verhältnismäßige Inhaltsbestimmung des Artikel 14 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz, da diese einem legitimen Zweck, nämlich die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung zu sichern, diene. Die Absenkung des Zugangsfaktors sei auch zumutbar. Zum einen sei der Abschlag der Höhe nach begrenzt; zum anderen profitiere der Betroffene zudem von zusätzlichen Entgeltpunkten. Die Abschläge bei Renten wegen Erwerbsminderung seien darüber hinaus erheblich geringer als jene, die im Falle der vorzeitigen Inanspruchnahme von Altersrenten griffen. Mit Rücksicht auf die Übergangsregelung des § 264 c SGB VI sei auch der Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht verletzt. Eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes oder des Diskriminierungsverbotes des Artikel 3 Abs. 3 Satz 3 Grundgesetz liege nicht vor. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts binde gem. § 31 Abs. 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes alle Gericht und Behörden.

Gegen den dem Kläger mit Postzustellungsurkunde am 31. Dezember 2011 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 2. Januar 2012 schriftlich beim Landessozialgericht Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt er vor, eine Entscheidung mit Gerichtsbescheid sei nicht zulässig gewesen. Die Erklärungen seines damaligen Betreuers seien nichtig und deswegen seine Untätigkeitsklage zulässig gewesen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts erkenne er nicht an. Es unterscheide nicht zwischen freiwilligem und unfreiwilligem Rentenbezug.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 29. Dezember 2011 aufzuheben sowie die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheids vom 13. November 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. September 2011 zu verurteilen, ihm Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 1. Juni 2003 unter Zugrundelegung des Zugangsfaktors 1,0 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten (3 Bde.), die Akte des SG (S 15 R 2527/11) und die Berufungsakte des Senats (L 2 R 6/12) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist gem. §§ 143, 144 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft; die Berufung betrifft wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als 1 Jahr (vgl. § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG). Die Berufung ist auch im Übrigen zulässig, sie ist unter Beachtung der maßgeblichen Form- und Fristvorschriften (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegt worden. Der Senat konnte in der mündlichen Verhandlung vom 22. Februar 2012 in Abwesenheit des Klägers über den Rechtsstreit entscheiden, da der Kläger ordnungsgemäß mit Postzustellungsurkunde vom 1. Februar 2012 zum Termin geladen und in der Ladung darauf hingewiesen worden war, dass auch im Falle seines Ausbleibens verhandelt und entschieden werden kann.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet.

Zunächst leidet das Verfahren des SG nicht an einem wesentlichen Mangel (vgl. § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Wesentlich ist ein Mangel dann, wenn die Entscheidung (hier der Gerichtsbescheid) auf ihm beruhen kann (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, § 159 RdNr. 3 a). Vorliegend liegt kein wesentlicher Verfahrensfehler darin, dass das SG durch den Kammervorsitzenden als Einzelrichter mittels Gerichtsbescheid ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter (§ 12 Abs. 1 Satz 2, 2. Alternative SGG) entscheiden hat; die Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG lagen nämlich vor.

Gem. § 12 Abs. 1 Satz 1 SGG entscheidet das SG grundsätzlich in Kammerbesetzung durch den Kammervorsitzenden und 2 ehrenamtliche Richter. § 12 Abs. 1 Satz 2, 2. Alternative SGG gibt dem Kammervorsitzenden die Kompetenz, (ausnahmsweise) als Einzelrichter ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter durch Gerichtsbescheid zu entscheiden. Voraussetzung für diese Verfahrensweise ist aber das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzung des § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG. Danach darf die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweisen und der Sachverhalt muss geklärt sein. Darüber hinaus sind die Beteiligten vorher zu hören (§ 105 Abs. 1 Satz 2 SGG). Die vorliegende Sache (das Begehren des Klägers auf höhere Rente wegen voller Erwerbsminderung bei Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0) weist keine Schwierigkeiten in tatsächlicher oder rechtlicher Art auf; der Sachverhalt ist geklärt. Vorliegend ist der entscheidungserhebliche Sachverhalt einfach gelagert; es spielen keine wirtschaftlichen, sozialen, medizinischen oder technischen Hintergründe des Falles eine Rolle, die nicht leicht abzuschätzen wären. In tatsächlicher Hinsicht ist lediglich von Bedeutung, dass dem Kläger mit Bescheid der Beklagten vom 13. November 2006 Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 1. Juni 2003 gewährt worden ist. Der zweite Umstand in tatsächlicher Hinsicht, der von Bedeutung ist, ist der Kalendermonat und das Jahr, ab dem der Kläger die Rente wegen voller Erwerbsminderung bezieht und die sich daraus ergebende Anzahl von Kalendermonaten, für die der Kläger bereits eine Rente wegen voller Erwerbsminderung vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. bzw. 60. Lebensjahres bezieht. Insofern sind im Rahmen der Amtsermittlungspflicht (vgl. § 103 SGG) keine entscheidungserheblichen tatsächlichen Umstände noch offen. Auch besondere rechtliche Schwierigkeiten bietet die vorliegende Sache nicht. Durch das Begehren des Klägers werden keine komplizierten Rechtsfragen aufgeworfen, die höchstrichterlich noch nicht entschieden sind. Ganz im Gegenteil liegt im Hinblick auf die für das Begehren des Klägers ausschlaggebende Rechtsfrage, ob nämlich § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI in der Fassung vom 19. Februar 2002 eine verfassungsgemäße Regelung darstellt, eine höchstrichterliche Klärung durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Januar 2011 bereits vor.

Auch in sachlicher Hinsicht ist das Begehren des Klägers unbegründet. Der Kläger hat wegen der Regelung in § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 i. V. m. § 264c SGB VI und der Anlage 23 zum SGB VI in der bis zum 31. Dezember 2007 geltenden Fassung keinen Anspruch auf Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 1. Juni 2003 unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0. Zutreffend hat die Beklagte im Rentenbescheid vom 13. November 2006 unter Anwendung von § 264c SGB VI i. V. m. der Anlage 23 zum SGB VI - anstelle der Vollendung des 60. Lebensjahres ist die Vollendung des in Anlage 23 angegebenen Lebensalters maßgebend: bei Rentenbeginn im Juni 2003 60 Jahre und 6 Monate - eine Minderung des Zugangsfaktors um 0,003 für jeden Kalendermonat nach dem 31. Januar 2022 bis zum Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres vorgenommen; dies sind 30 Kalendermonate, womit eine Verminderung um 0,090 auf einen Zugangsfaktor von 0,910 von der Beklagten zutreffend vorgenommen worden ist.

Diese Minderung des Zugangsfaktors für die Rente des Klägers wegen voller Erwerbsminderung unter Anwendung von § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 SGB VI i. V. m. § 264c SGB VI ist rechtmäßig. Wie bereits angeführt, hat das BVerfG mit Beschluss vom 11. Januar 2011 (1 BvR 3588/08 und 1 BvR 555/09) entschieden, dass die Kürzung des Zugangsfaktors bei Renten wegen Erwerbsminderung nach § 77 SGB VI in der vom 1. Januar 2001 an geltenden Fassung des Gesetzes zur Reform der Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20. Dezember 2000 mit dem Grundgesetz vereinbar ist, auch wenn der Rentenbezug vor der Vollendung des 60. Lebensjahres beginnt. Nach § 31 Abs. 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes binden die Entscheidungen des BVerfG auch alle Gericht und Behörden, somit auch das Landessozialgericht Baden-Württemberg.

Die Berufung des Klägers war deshalb zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision nicht zugelassen (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved