Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
20
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 20 SO 142/13
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 SO 195/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 02.10.2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.07.2013 verurteilt, der Klägerin 2.061,80 EUR zu erstatten. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt die Beklagte.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Kosten einer Konduktiven Förderung nach Petö (Petö-Therapie) im Juli 2012 in Ungarn aus Mitteln der Sozialhilfe; die Klägerin macht 2.061,80 EUR geltend.
Die am 00.00.0000 geborene Klägerin leidet an infantiler Cerebralparese (ICP) mit Tetraspastik, zahlreichen Kontrakturen, Innenrotationsgang, Knickfuß, Zustand nach Arthrodese beider Füße, gestörter Koordination der Körperhaltung und Motorik. Sie spricht schlecht, ist hilflos und bedarf ständiger Aufsicht. Sie als Schwerbehinderte anerkannt nach einem Grad der Behinderung von 100 (Merkzeichen G, aG, H, RF, B).
In der Vergangenheit wurde die Klägerin wiederholt nach dem Konzept Petö (Petö-Therapie) gefördert. Diesem Konzept liegt ein ganzheitlicher Behandlungsansatz zugrunde, der medizinisch-therapeutische, psychologische und pädagogische Elemente enthält. Ziel ist es, auf den motorischen Grundlagen des zu behandelnden Kindes aufbauend, eine Verbesserung der Mobilität, Motorik und kognitiven Fähigkeiten zu erreichen. Dabei finden in der Regel wöchentliche Behandlungen statt, die normalerweise etwa zweimal jährlich durch intensive Blocktherapiezeiten ergänzt werden. In diesem Umfang nahm auch die Klägerin in der Vergangenheit seit 1994 an Therapiemaßnahmen am Zentrum für Konduktive Therapie in Ungarn teil. Die gesetzliche Krankenkasse der Klägerin zahlte die Kosten bis zum Jahr 2000; ab 2001 lehnte sie die Kostenübernahme für weitere Therapien ab (vgl. dazu das Verfahren S 4 [6] KR 15/05 – SG Aachen). Die Gemeinde S. übernahm daraufhin die Kosten der Petö-Therapie im Oktober 2003 und im Januar 2004 (Bescheid vom 07.07.2004), im Herbst 2004 (Bescheid vom 21.12.2004), im Januar/Februar 2005 (Bescheid vom 13.04.2005) und letztmals im Herbst 2005 (Bescheid vom 19.01.2007) als Eingliederungshilfe nach dem Recht der Sozialhilfe.
Am 05.06.2012 beantragte die Klägerin die Übernahme der Kosten weiterer Petö-Therapien im Zeitraum von Juni 2012 bis Mai 2013. Sie legte hierzu ein Attest der Klinik W. vom 14.06.2012 vor, in dem die Therapie als geeignete und erforderliche Maßnahme empfohlen wurde, um ihr den Weg in die Selbstständigkeit und in eine selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Ausweislich einer zwischen der Klägerin und dem ungarischen Therapiezentrum getroffenen Kostenvereinbarung ("Agreement of participation") hatte die Klägerin zunächst einen Kostenvorschuss von 80 % der Gesamtsumme, nämlich 1.310,00 EUR zu leisten und die restlichen 20 % bei Beginn der Therapie (01.07.2012) zu zahlen. Am 23.05.2012 überwies sie 1.310,00 EUR, am 29.06.2012 weitere 538,50 EUR nach Ungarn. Nach dem Entwicklungsbericht des Budapester Therapiezentrums vom 12.07.2012 waren die Ziele der Maßnahme vom 01.07. bis 13.07.2012 eine allgemeine Muskelverstärkung, die Ausbesserung der Körperhaltung, das Lockern der Muskeln, das Ausbessern der Qualität des Laufens sowie die Förderung der Selbstständigkeit (z.B. Essen, Zähneputzen). In einem Bericht der Caritas-Behindertenwerkstatt vom 27.07.2012 heißt es, dass nach der zweiwöchigen Petö-Therapie bei der Klägerin ein deutlich positiv verändertes Stand- und Gangbild habe beobachtet werden können; vor allem falle auf, dass sie nun viel eher bereit sei, selbstständige Wege zurückzulegen, die Toilette aufzusuchen oder Gegenstände an ihrem Platz zu bringen; sie wirke insgesamt selbstbewusster und motivierter bei allen Aktionen des täglichen Lebens.
Durch Bescheid vom 02.10.2012 lehnte die Beklagte die beantragte Kostenübernahme ab. Zur Begründung führte sie aus, die Petö-Therapie sei eine Maßnahme zur Behandlung von Personen mit Schädigung des Gehirns; sie umfasse Elemente der Pädagogik, der physikalischen Therapie, der Stimm-Sprech- und Sprachtherapie, der Ergotherapie und der sozialen Anleitung. Wichtigstes Ziel der konduktiven Förderung sei es, die selbstständige Eingliederung in die Gesellschaft zu erreichen. Aufgrund der Zielsetzung handele es sich grundsätzlich um eine Maßnahme der medizinischen Rehabilitation und um ein Heilmittel. Als solches sei sie nach dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung nicht verordnungsfähig. Als medizinische Rehabilitation im Rahmen der Eingliederungshilfe komme sie nicht in Betracht, weil insoweit die Eingliederungshilfe auf den Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung beschränkt sei.
Dagegen erhob die Klägerin am 30.10.2012 Widerspruch. Sie verwies auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 29.09.2009 (B 8 SO 19/08 R), wonach die Petö-Therapie als Leistung zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und damit als Maßnahme der sozialen Rehabilitation in Betracht komme. Das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (LSG NRW) habe dies inzwischen bestätigt. Die Klägerin machte Kosten in Höhe von 2.489,10 EUR geltend (Fahrkosten für 2400 km á 0,30 EUR: 720,00 EUR; Mautgebühren: 90,00 EUR; Kosten der Unterkunft der Eltern: 369,70 EUR; Kosten der Therapie: 1.310,00 EUR).
Durch Widerspruchsbescheid vom 22.07.2013 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Sie vertrat die Auffassung, die Petö-Therapie habe in der Zeit vom 01.07. bis 13.07.2012 ausschließlich der medizinischen Rehabilitation gedient, wie sich aus den vorgelegten Berichten ergebe.
Dagegen hat die Klägerin am 20.08.2013 Klage erhoben. Sie trägt vor, bei der Petö-Therapie handele es sich um eine ganzheitliche Therapieform, durch die körperbehinderte Menschen durch intensive Förderung in die Lage versetzt werden, aktiv am Leben in der Gesellschaft teilzuhaben. Durch die Therapie sollten selbstständige Fertigkeiten erlernt und nachhaltig gespeichert sowie die Selbstständigkeit und das Selbstbewusstsein gestärkt werden. Wesentliches Ziel der – speziell im Juli 2012 durchgeführten – Therapie sei u.a. die Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit sowie die Förderung der Selbstständigkeit gewesen. Keineswegs habe die im Juli 2012 durchgeführte Förderung ausschließlich medizinischen Zwecken gedient; vielmehr sei es das Ziel gewesen, die Klägerin zu motivieren und Fähigkeiten bei der Bewältigung von Alltagssituationen sowie die Wahrnehmungs- und Kommunikationsfähigkeit zu fördern. Somit habe die Therapie durchaus in erster Linie die Eingliederung der Klägerin in die Gesellschaft bezweckt. Selbst wenn sie auch oder sogar überwiegend medizinischen Charakter gehabt hätte, würde dies eine Förderung nach dem Eingliederungshilferecht nicht ausschließen.
Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 02.10.2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.07.2013 zu verurteilen, ihr 2.061,80 EUR zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bleibt bei ihrer Einschätzung, die Petö-Therapie im Juli 2012 habe ausschließlich der medizinischen Rehabilitation gedient. Jedenfalls ergebe sich aus den Entwicklungs- und sonstigen Berichten, dass die medizinische Rehabilitation eindeutig im Vordergrund gestanden habe; dann aber sei sie nach der Rechtsprechung des LSG NRW und LSG Schleswig-Holstein allein der medizinischen Rehabilitation zuzuordnen.
Zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts, insbesondere zu den Zielen und Inhalten der im Juli 2012 durchgeführten Petö-Therapie hat das Gericht Auskünfte und Stellungnahmen von der Caritas-Behindertenwerkstatt, der Klinik W. und dem Hausarzt Dr. L. eingeholt. Wegen des Ergebnisses wird auf die Berichte und Stellungnahmen vom 14.11.2013, 14.01.2014 und 09.02.2014 verwiesen ...
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten der Beklagten und der Gerichtsakten S 4 (6) KR 15/05 und S 4 R 341/12 (SG Aachen), die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Die Klägerin hat den geltend gemachten Erstattungsbetrag hinsichtlich der Kosten der vom 01.07. bis 13.07.2012 in Ungarn durchgeführten Petö-Therapie nach Hinweisen des Gerichts in der mündlichen Verhandlung auf 2.061,80 EUR beschränkt. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten, durch die sie eine Übernahme der Kosten der Petö-Therapie abgelehnt hat, sind rechtswidrig. Die Klägerin hat Anspruch auf Erstattung der Kosten in der geltend gemachten Höhe.
Als erstangegangener Rehabilitationsträger war die Beklagte gem. § 14 Abs. 1 und 2 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) für die Bescheidung des Antrags vom 05.06.2012 formell zuständig, da sie den Antrag nicht an einen anderen Reha-Träger weitergeleitet hat. Insofern hatte sie den Antrag nach allen in Betracht kommenden rehabilitationsrechtlichen Rechtsgrundlagen zu prüfen und zu bescheiden (vgl. BSG, Urteil vom 24.01.2013 – B 3 KR 5/12 R – m.w.N.).
Ein Anspruch nach dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, der gegenüber einem Anspruch nach dem Recht der Sozialhilfe nachrangig wäre (vgl. §§ 2, 53, 54 Abs. 1 Satz 2 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch – SGB XII) besteht nicht. Das BSG (Urteile vom 03.09.2003 – B 1 KR 34/01 R und B 1 KR 19/02 R) hat diese Therapie als (neues) Heilmittel im Sinne der §§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, 32 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) eingestuft. Der dafür zuständige Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat die Petö-Therapie in die Anlage der nichtverordnungsfähigen Heilmittel zu den gem. § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V erlassenen Heilmittelrichtlinien aufgenommen. Sie kann daher nicht als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem SGB V beansprucht werden. Die Klassifizierung der Petö-Therapie als Heilmittel im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung mit der Folge, dass eine Leistungserbringung als Heilmittel wegen der Vorschrift des § 54 Abs. 1 Satz 2 SGB XII auch nicht im Rahmen der im medizinischen Rehabilitation gem. § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 26 SGB IX möglich ist, bedeutet jedoch nicht, dass eine Leistungserbringung nicht unter einer anderen Zielsetzung möglich wäre (so: BSG, Urteil vom 29.09.2009 – B 8 SO 19/08 R).
Die Klägerin hat Anspruch auf Erstattung der geltend gemachten Kosten für die im Juli 2012 durchgeführte Petö-Therapie als Leistung der Eingliederungshilfe nach §§ 53 Abs. 1, 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 55 SGB IX. Gem. § 53 Abs. 1 SGB XII erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung von 100, der u.a. an den Folgen einer infantilen Cerebralparese mit Tetraspastik, zahlreichen Kontrakturen, gestörter Koordination leidet und bei dem die Nachteilsausgleichsmerkmale "G", "aG", "H", "RF" und "B" anerkannt sind, gehört die Klägerin unstreitig zu dem Kreis der Leistungsberechtigten im Sinne des § 53 Abs. 1 SGB XII. Besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es insbesondere, behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern (§ 53 Abs. 3 Satz 2 SGB XII). Für die Leistungen zur Teilhabe gelten die Vorschriften des SGB IX, soweit sich aus dem SGB XII und den aufgrund dieses Buches erlassenen Rechtsverordnungen nichts abweichendes ergibt (§ 53 Abs. 4 Satz 1 SGB XII).
Gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII umfassen die Leistungen der Eingliederungshilfe u.a. Leistungen nach § 55 SGB IX. Nach dieser Vorschrift werden Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft erbracht, die behinderten Menschen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglichen oder sichern oder sie soweit wie möglich unabhängig von Pflege machen (§ 55 Abs. 1 SGB IX). Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft sind insbesondere Hilfen zum Erwerb praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten, die erforderlich und geeignet sind, behinderten Menschen die für sie erreichbare Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen, Hilfen zur Förderung der Verständigung mit der Umwelt sowie Hilfen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben (§ 55 Abs. 2 Nrn. 3, 4 und 7 SGB IX).
Die Abgrenzung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation von Leistungen zur sozialen Rehabilitation erfolgt nicht nach den in Betracht kommenden Leistungsgegenständen; entscheidend ist vielmehr der Leistungszweck. Leistungszwecke des SGB V bzw. der medizinischen Rehabilitation und der sozialen Rehabilitation nach dem SGB XII können sich überschneiden. Die Zwecksetzung der Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ist mit der Zwecksetzung der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung nicht identisch (BSG, Urteil vom 19.09.2009 – B 8 SO 19/08 R – m.w.N.). Im Fall der Klägerin sind mit der im Juli 2012 durchgeführten Petö-Therapie auch Leistungen der sozialen Rehabilitation erbracht worden, weil die durchgeführten Maßnahmen über die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung hinaus reichten und über die Zwecke der gesetzlichen Krankenversicherung hinaus gingen. Wie dem Entwicklungsbericht vom 12.07.2012 zu entnehmen ist, war eines der Ziele der seinerzeit durchgeführten Therapiemaßnahme die Förderung der Selbstständigkeit (z.B. Essen, Zähneputzen). Aufgrund der durchgeführten Therapiemaßnahmen hat es die Klägerin im Verlaufe der Maßnahme geschafft, selbstständiger mit dem Rollator zu laufen, einmal bis zum Strand; sie konnte mit weniger Hilfe auf einer Treppe laufen; in der zweiten Woche wollte sie Früchte allein essen; sie war sehr begeistert. Diese Feststellungen sind von der Caritas-Behindertenwerkstatt, die die Klägerin aus langjähriger Zusammenarbeit kennt, im Bericht vom 27.07.2012 bestätigt worden. Diese Feststellungen und Beurteilungen belegen zur Überzeugung der Kammer hinreichend, dass mit der im Juli 2012 durchgeführten Petö-Therapie auch Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft im Sinne von § 55 SGB IX verfolgt und erreicht worden sind. Noch deutlicher wird dies aus der Beurteilung des behandelnden Arztes Dr. L. in dessen Befundbericht vom 09.02.2014.
Der Beklagten ist zuzugeben, dass im Rahmen der Petö-Therapie im Juli 2012 auch medizinische Rehabilitation erfolgt ist; dies ergibt sich ebenfalls aus den vorgelegten Berichten und Stellungnahmen. Für die Förderung als Leistung zur sozialen Rehabilitation ist es jedoch unschädlich, wenn sich Leistungszwecke der medizinischen und sozialen Rehabilitation überschneiden, ja sogar, wenn es sich bei der Petö-Therapie ihrem Schwerpunkt nach um eine medizinische Maßnahme im Sinne eines Heilmittels handeln würde (LSG NRW, Urteil vom 10.02.2011 – L 9 SO 11/08). Nur dann, wenn die Maßnahme in konkreten Einzelfall ausschließlich der medizinischen Rehabilitation dient, ist ein Eingliederungshilfeanspruch nach dem SGB XII ausgeschlossen. So lag es in den vom LSG NRW und dem LSG Schleswig-Holstein in den Urteilen vom 20.08.2012 (L 20 SO 25/09) bzw. vom 27.02.2013 (L 9 SO 17/11) entschiedenen Fällen, auf die sich die Beklagte beruft. Der vorliegend von der Kammer zur entscheidende konkrete Fall der Klägerin unterscheidet sich jedoch wesentlich von den in diesen Urteilen behandelten Sachverhalten. Während in den beiden zitierten LSG-Entscheidungen die Therapiemaßnahmen einen (rein) medizinischen Leistungszweck verfolgten, diente die im Juli 2012 durchgeführte Petö-Therapie in nicht unerheblichem Maße auch Zielen der sozialen Rehabilitation im Sinne von § 55 SGB IX. Denn es ging dort, wie den Berichten zu entnehmen ist, der Förderung der Selbstständigkeit, der Stärkung des Selbstbewusstseins und der Motivation sowie der Förderung der Kognition, der Sprache und der Lebenspraxis. So ist es ausführlich auch im Befundbericht des behandelnden Arztes Dr. L. vom 09.02.2014 beschrieben.
Die Klägerin hat dementsprechend Anspruch auf Erstattung der Kosten, die ihr im Zusammenhang mit der im Juli durchgeführten Petö-Therapie entstanden sind und die sie in der mündlichen Verhandlung auf einen Betrag von 2.061,80 EUR begrenzt hat. Hierin enthalten sind die Therapiekosten, die sich nach der mit der Einrichtung in Ungarn geschlossenen Vereinbarung auf einen Gesamtbetrag von 1.637,50 EUR belaufen. An Fahrtkosten können für 2400 km, die für vier Fahrten der Eltern entstanden sind (Hin- und Rückfahrt bei Beginn der Maßnahme sowie Hin- und Rückfahrt nach dem Ende der Maßnahme) entsprechend § 5 Abs. 1 des Bundesreisekostengesetzes 20 Cent je Kilometer zurückgelegter Strecke, höchstens jedoch 130,00 EUR, berücksichtigt werden. Hieraus ergibt sich für die vier Strecken ein erstattungsfähiger Betrag von insgesamt 480,00 EUR. Die ursprünglich von der Klägerin angesetzten Kosten für Mautgebühren und Unterkunft sind von ihr mangels entsprechender Belege nicht mehr geltend gemacht worden. Von den nach den vorstehenden Darlegungen erstattungsfähigen 2.117,50 EUR ist ein Betrag von 55,70 EUR für anteilige Ernährungskosten in Abzug zu bringen. Dieser Betrag ergibt sich aus dem anteilig auf dreizehn Tage umgerechneten Betrag, der im Regelbedarf für 2012 für Nahrungsmittel (132,79 EUR) enthalten war. Nach alledem ergeben sich erstattungsfähige Kosten der im Juli 2012 durchgeführten Petö-Therapie in Höhe von 2.061,80 EUR, die die Klägerin zuletzt geltend gemacht und die die Beklagte zu erstatten hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Kosten einer Konduktiven Förderung nach Petö (Petö-Therapie) im Juli 2012 in Ungarn aus Mitteln der Sozialhilfe; die Klägerin macht 2.061,80 EUR geltend.
Die am 00.00.0000 geborene Klägerin leidet an infantiler Cerebralparese (ICP) mit Tetraspastik, zahlreichen Kontrakturen, Innenrotationsgang, Knickfuß, Zustand nach Arthrodese beider Füße, gestörter Koordination der Körperhaltung und Motorik. Sie spricht schlecht, ist hilflos und bedarf ständiger Aufsicht. Sie als Schwerbehinderte anerkannt nach einem Grad der Behinderung von 100 (Merkzeichen G, aG, H, RF, B).
In der Vergangenheit wurde die Klägerin wiederholt nach dem Konzept Petö (Petö-Therapie) gefördert. Diesem Konzept liegt ein ganzheitlicher Behandlungsansatz zugrunde, der medizinisch-therapeutische, psychologische und pädagogische Elemente enthält. Ziel ist es, auf den motorischen Grundlagen des zu behandelnden Kindes aufbauend, eine Verbesserung der Mobilität, Motorik und kognitiven Fähigkeiten zu erreichen. Dabei finden in der Regel wöchentliche Behandlungen statt, die normalerweise etwa zweimal jährlich durch intensive Blocktherapiezeiten ergänzt werden. In diesem Umfang nahm auch die Klägerin in der Vergangenheit seit 1994 an Therapiemaßnahmen am Zentrum für Konduktive Therapie in Ungarn teil. Die gesetzliche Krankenkasse der Klägerin zahlte die Kosten bis zum Jahr 2000; ab 2001 lehnte sie die Kostenübernahme für weitere Therapien ab (vgl. dazu das Verfahren S 4 [6] KR 15/05 – SG Aachen). Die Gemeinde S. übernahm daraufhin die Kosten der Petö-Therapie im Oktober 2003 und im Januar 2004 (Bescheid vom 07.07.2004), im Herbst 2004 (Bescheid vom 21.12.2004), im Januar/Februar 2005 (Bescheid vom 13.04.2005) und letztmals im Herbst 2005 (Bescheid vom 19.01.2007) als Eingliederungshilfe nach dem Recht der Sozialhilfe.
Am 05.06.2012 beantragte die Klägerin die Übernahme der Kosten weiterer Petö-Therapien im Zeitraum von Juni 2012 bis Mai 2013. Sie legte hierzu ein Attest der Klinik W. vom 14.06.2012 vor, in dem die Therapie als geeignete und erforderliche Maßnahme empfohlen wurde, um ihr den Weg in die Selbstständigkeit und in eine selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Ausweislich einer zwischen der Klägerin und dem ungarischen Therapiezentrum getroffenen Kostenvereinbarung ("Agreement of participation") hatte die Klägerin zunächst einen Kostenvorschuss von 80 % der Gesamtsumme, nämlich 1.310,00 EUR zu leisten und die restlichen 20 % bei Beginn der Therapie (01.07.2012) zu zahlen. Am 23.05.2012 überwies sie 1.310,00 EUR, am 29.06.2012 weitere 538,50 EUR nach Ungarn. Nach dem Entwicklungsbericht des Budapester Therapiezentrums vom 12.07.2012 waren die Ziele der Maßnahme vom 01.07. bis 13.07.2012 eine allgemeine Muskelverstärkung, die Ausbesserung der Körperhaltung, das Lockern der Muskeln, das Ausbessern der Qualität des Laufens sowie die Förderung der Selbstständigkeit (z.B. Essen, Zähneputzen). In einem Bericht der Caritas-Behindertenwerkstatt vom 27.07.2012 heißt es, dass nach der zweiwöchigen Petö-Therapie bei der Klägerin ein deutlich positiv verändertes Stand- und Gangbild habe beobachtet werden können; vor allem falle auf, dass sie nun viel eher bereit sei, selbstständige Wege zurückzulegen, die Toilette aufzusuchen oder Gegenstände an ihrem Platz zu bringen; sie wirke insgesamt selbstbewusster und motivierter bei allen Aktionen des täglichen Lebens.
Durch Bescheid vom 02.10.2012 lehnte die Beklagte die beantragte Kostenübernahme ab. Zur Begründung führte sie aus, die Petö-Therapie sei eine Maßnahme zur Behandlung von Personen mit Schädigung des Gehirns; sie umfasse Elemente der Pädagogik, der physikalischen Therapie, der Stimm-Sprech- und Sprachtherapie, der Ergotherapie und der sozialen Anleitung. Wichtigstes Ziel der konduktiven Förderung sei es, die selbstständige Eingliederung in die Gesellschaft zu erreichen. Aufgrund der Zielsetzung handele es sich grundsätzlich um eine Maßnahme der medizinischen Rehabilitation und um ein Heilmittel. Als solches sei sie nach dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung nicht verordnungsfähig. Als medizinische Rehabilitation im Rahmen der Eingliederungshilfe komme sie nicht in Betracht, weil insoweit die Eingliederungshilfe auf den Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung beschränkt sei.
Dagegen erhob die Klägerin am 30.10.2012 Widerspruch. Sie verwies auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 29.09.2009 (B 8 SO 19/08 R), wonach die Petö-Therapie als Leistung zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und damit als Maßnahme der sozialen Rehabilitation in Betracht komme. Das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (LSG NRW) habe dies inzwischen bestätigt. Die Klägerin machte Kosten in Höhe von 2.489,10 EUR geltend (Fahrkosten für 2400 km á 0,30 EUR: 720,00 EUR; Mautgebühren: 90,00 EUR; Kosten der Unterkunft der Eltern: 369,70 EUR; Kosten der Therapie: 1.310,00 EUR).
Durch Widerspruchsbescheid vom 22.07.2013 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Sie vertrat die Auffassung, die Petö-Therapie habe in der Zeit vom 01.07. bis 13.07.2012 ausschließlich der medizinischen Rehabilitation gedient, wie sich aus den vorgelegten Berichten ergebe.
Dagegen hat die Klägerin am 20.08.2013 Klage erhoben. Sie trägt vor, bei der Petö-Therapie handele es sich um eine ganzheitliche Therapieform, durch die körperbehinderte Menschen durch intensive Förderung in die Lage versetzt werden, aktiv am Leben in der Gesellschaft teilzuhaben. Durch die Therapie sollten selbstständige Fertigkeiten erlernt und nachhaltig gespeichert sowie die Selbstständigkeit und das Selbstbewusstsein gestärkt werden. Wesentliches Ziel der – speziell im Juli 2012 durchgeführten – Therapie sei u.a. die Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit sowie die Förderung der Selbstständigkeit gewesen. Keineswegs habe die im Juli 2012 durchgeführte Förderung ausschließlich medizinischen Zwecken gedient; vielmehr sei es das Ziel gewesen, die Klägerin zu motivieren und Fähigkeiten bei der Bewältigung von Alltagssituationen sowie die Wahrnehmungs- und Kommunikationsfähigkeit zu fördern. Somit habe die Therapie durchaus in erster Linie die Eingliederung der Klägerin in die Gesellschaft bezweckt. Selbst wenn sie auch oder sogar überwiegend medizinischen Charakter gehabt hätte, würde dies eine Förderung nach dem Eingliederungshilferecht nicht ausschließen.
Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 02.10.2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.07.2013 zu verurteilen, ihr 2.061,80 EUR zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bleibt bei ihrer Einschätzung, die Petö-Therapie im Juli 2012 habe ausschließlich der medizinischen Rehabilitation gedient. Jedenfalls ergebe sich aus den Entwicklungs- und sonstigen Berichten, dass die medizinische Rehabilitation eindeutig im Vordergrund gestanden habe; dann aber sei sie nach der Rechtsprechung des LSG NRW und LSG Schleswig-Holstein allein der medizinischen Rehabilitation zuzuordnen.
Zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts, insbesondere zu den Zielen und Inhalten der im Juli 2012 durchgeführten Petö-Therapie hat das Gericht Auskünfte und Stellungnahmen von der Caritas-Behindertenwerkstatt, der Klinik W. und dem Hausarzt Dr. L. eingeholt. Wegen des Ergebnisses wird auf die Berichte und Stellungnahmen vom 14.11.2013, 14.01.2014 und 09.02.2014 verwiesen ...
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten der Beklagten und der Gerichtsakten S 4 (6) KR 15/05 und S 4 R 341/12 (SG Aachen), die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Die Klägerin hat den geltend gemachten Erstattungsbetrag hinsichtlich der Kosten der vom 01.07. bis 13.07.2012 in Ungarn durchgeführten Petö-Therapie nach Hinweisen des Gerichts in der mündlichen Verhandlung auf 2.061,80 EUR beschränkt. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten, durch die sie eine Übernahme der Kosten der Petö-Therapie abgelehnt hat, sind rechtswidrig. Die Klägerin hat Anspruch auf Erstattung der Kosten in der geltend gemachten Höhe.
Als erstangegangener Rehabilitationsträger war die Beklagte gem. § 14 Abs. 1 und 2 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) für die Bescheidung des Antrags vom 05.06.2012 formell zuständig, da sie den Antrag nicht an einen anderen Reha-Träger weitergeleitet hat. Insofern hatte sie den Antrag nach allen in Betracht kommenden rehabilitationsrechtlichen Rechtsgrundlagen zu prüfen und zu bescheiden (vgl. BSG, Urteil vom 24.01.2013 – B 3 KR 5/12 R – m.w.N.).
Ein Anspruch nach dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, der gegenüber einem Anspruch nach dem Recht der Sozialhilfe nachrangig wäre (vgl. §§ 2, 53, 54 Abs. 1 Satz 2 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch – SGB XII) besteht nicht. Das BSG (Urteile vom 03.09.2003 – B 1 KR 34/01 R und B 1 KR 19/02 R) hat diese Therapie als (neues) Heilmittel im Sinne der §§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, 32 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) eingestuft. Der dafür zuständige Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat die Petö-Therapie in die Anlage der nichtverordnungsfähigen Heilmittel zu den gem. § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V erlassenen Heilmittelrichtlinien aufgenommen. Sie kann daher nicht als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem SGB V beansprucht werden. Die Klassifizierung der Petö-Therapie als Heilmittel im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung mit der Folge, dass eine Leistungserbringung als Heilmittel wegen der Vorschrift des § 54 Abs. 1 Satz 2 SGB XII auch nicht im Rahmen der im medizinischen Rehabilitation gem. § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 26 SGB IX möglich ist, bedeutet jedoch nicht, dass eine Leistungserbringung nicht unter einer anderen Zielsetzung möglich wäre (so: BSG, Urteil vom 29.09.2009 – B 8 SO 19/08 R).
Die Klägerin hat Anspruch auf Erstattung der geltend gemachten Kosten für die im Juli 2012 durchgeführte Petö-Therapie als Leistung der Eingliederungshilfe nach §§ 53 Abs. 1, 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 55 SGB IX. Gem. § 53 Abs. 1 SGB XII erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung von 100, der u.a. an den Folgen einer infantilen Cerebralparese mit Tetraspastik, zahlreichen Kontrakturen, gestörter Koordination leidet und bei dem die Nachteilsausgleichsmerkmale "G", "aG", "H", "RF" und "B" anerkannt sind, gehört die Klägerin unstreitig zu dem Kreis der Leistungsberechtigten im Sinne des § 53 Abs. 1 SGB XII. Besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es insbesondere, behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern (§ 53 Abs. 3 Satz 2 SGB XII). Für die Leistungen zur Teilhabe gelten die Vorschriften des SGB IX, soweit sich aus dem SGB XII und den aufgrund dieses Buches erlassenen Rechtsverordnungen nichts abweichendes ergibt (§ 53 Abs. 4 Satz 1 SGB XII).
Gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII umfassen die Leistungen der Eingliederungshilfe u.a. Leistungen nach § 55 SGB IX. Nach dieser Vorschrift werden Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft erbracht, die behinderten Menschen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglichen oder sichern oder sie soweit wie möglich unabhängig von Pflege machen (§ 55 Abs. 1 SGB IX). Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft sind insbesondere Hilfen zum Erwerb praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten, die erforderlich und geeignet sind, behinderten Menschen die für sie erreichbare Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen, Hilfen zur Förderung der Verständigung mit der Umwelt sowie Hilfen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben (§ 55 Abs. 2 Nrn. 3, 4 und 7 SGB IX).
Die Abgrenzung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation von Leistungen zur sozialen Rehabilitation erfolgt nicht nach den in Betracht kommenden Leistungsgegenständen; entscheidend ist vielmehr der Leistungszweck. Leistungszwecke des SGB V bzw. der medizinischen Rehabilitation und der sozialen Rehabilitation nach dem SGB XII können sich überschneiden. Die Zwecksetzung der Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ist mit der Zwecksetzung der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung nicht identisch (BSG, Urteil vom 19.09.2009 – B 8 SO 19/08 R – m.w.N.). Im Fall der Klägerin sind mit der im Juli 2012 durchgeführten Petö-Therapie auch Leistungen der sozialen Rehabilitation erbracht worden, weil die durchgeführten Maßnahmen über die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung hinaus reichten und über die Zwecke der gesetzlichen Krankenversicherung hinaus gingen. Wie dem Entwicklungsbericht vom 12.07.2012 zu entnehmen ist, war eines der Ziele der seinerzeit durchgeführten Therapiemaßnahme die Förderung der Selbstständigkeit (z.B. Essen, Zähneputzen). Aufgrund der durchgeführten Therapiemaßnahmen hat es die Klägerin im Verlaufe der Maßnahme geschafft, selbstständiger mit dem Rollator zu laufen, einmal bis zum Strand; sie konnte mit weniger Hilfe auf einer Treppe laufen; in der zweiten Woche wollte sie Früchte allein essen; sie war sehr begeistert. Diese Feststellungen sind von der Caritas-Behindertenwerkstatt, die die Klägerin aus langjähriger Zusammenarbeit kennt, im Bericht vom 27.07.2012 bestätigt worden. Diese Feststellungen und Beurteilungen belegen zur Überzeugung der Kammer hinreichend, dass mit der im Juli 2012 durchgeführten Petö-Therapie auch Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft im Sinne von § 55 SGB IX verfolgt und erreicht worden sind. Noch deutlicher wird dies aus der Beurteilung des behandelnden Arztes Dr. L. in dessen Befundbericht vom 09.02.2014.
Der Beklagten ist zuzugeben, dass im Rahmen der Petö-Therapie im Juli 2012 auch medizinische Rehabilitation erfolgt ist; dies ergibt sich ebenfalls aus den vorgelegten Berichten und Stellungnahmen. Für die Förderung als Leistung zur sozialen Rehabilitation ist es jedoch unschädlich, wenn sich Leistungszwecke der medizinischen und sozialen Rehabilitation überschneiden, ja sogar, wenn es sich bei der Petö-Therapie ihrem Schwerpunkt nach um eine medizinische Maßnahme im Sinne eines Heilmittels handeln würde (LSG NRW, Urteil vom 10.02.2011 – L 9 SO 11/08). Nur dann, wenn die Maßnahme in konkreten Einzelfall ausschließlich der medizinischen Rehabilitation dient, ist ein Eingliederungshilfeanspruch nach dem SGB XII ausgeschlossen. So lag es in den vom LSG NRW und dem LSG Schleswig-Holstein in den Urteilen vom 20.08.2012 (L 20 SO 25/09) bzw. vom 27.02.2013 (L 9 SO 17/11) entschiedenen Fällen, auf die sich die Beklagte beruft. Der vorliegend von der Kammer zur entscheidende konkrete Fall der Klägerin unterscheidet sich jedoch wesentlich von den in diesen Urteilen behandelten Sachverhalten. Während in den beiden zitierten LSG-Entscheidungen die Therapiemaßnahmen einen (rein) medizinischen Leistungszweck verfolgten, diente die im Juli 2012 durchgeführte Petö-Therapie in nicht unerheblichem Maße auch Zielen der sozialen Rehabilitation im Sinne von § 55 SGB IX. Denn es ging dort, wie den Berichten zu entnehmen ist, der Förderung der Selbstständigkeit, der Stärkung des Selbstbewusstseins und der Motivation sowie der Förderung der Kognition, der Sprache und der Lebenspraxis. So ist es ausführlich auch im Befundbericht des behandelnden Arztes Dr. L. vom 09.02.2014 beschrieben.
Die Klägerin hat dementsprechend Anspruch auf Erstattung der Kosten, die ihr im Zusammenhang mit der im Juli durchgeführten Petö-Therapie entstanden sind und die sie in der mündlichen Verhandlung auf einen Betrag von 2.061,80 EUR begrenzt hat. Hierin enthalten sind die Therapiekosten, die sich nach der mit der Einrichtung in Ungarn geschlossenen Vereinbarung auf einen Gesamtbetrag von 1.637,50 EUR belaufen. An Fahrtkosten können für 2400 km, die für vier Fahrten der Eltern entstanden sind (Hin- und Rückfahrt bei Beginn der Maßnahme sowie Hin- und Rückfahrt nach dem Ende der Maßnahme) entsprechend § 5 Abs. 1 des Bundesreisekostengesetzes 20 Cent je Kilometer zurückgelegter Strecke, höchstens jedoch 130,00 EUR, berücksichtigt werden. Hieraus ergibt sich für die vier Strecken ein erstattungsfähiger Betrag von insgesamt 480,00 EUR. Die ursprünglich von der Klägerin angesetzten Kosten für Mautgebühren und Unterkunft sind von ihr mangels entsprechender Belege nicht mehr geltend gemacht worden. Von den nach den vorstehenden Darlegungen erstattungsfähigen 2.117,50 EUR ist ein Betrag von 55,70 EUR für anteilige Ernährungskosten in Abzug zu bringen. Dieser Betrag ergibt sich aus dem anteilig auf dreizehn Tage umgerechneten Betrag, der im Regelbedarf für 2012 für Nahrungsmittel (132,79 EUR) enthalten war. Nach alledem ergeben sich erstattungsfähige Kosten der im Juli 2012 durchgeführten Petö-Therapie in Höhe von 2.061,80 EUR, die die Klägerin zuletzt geltend gemacht und die die Beklagte zu erstatten hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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