L 6 AS 316/12 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
6
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 2 AS 58/12 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 316/12 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Zum Eilrechtsschutz nach § 86b Abs. 2 SGG im Falle eines angefochtenen Bescheides nach § 66 SGB I in Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II).
I. Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 2. Mai 2012 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Gründe:

Die am 31. Mai 2012 erhobene Beschwerde des Antragstellers, mit der er sinngemäß beantragt, den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 2. Mai 2012 aufzuheben und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, an ihn Arbeitslosengeld II in gesetzlicher Höhe auszuzahlen,

ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Das Sozialgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Ergebnis zu Recht abgelehnt.

Der Antrag ist am Maßstab des § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Zwar ist das Begehren in der Hauptsache (auch) auf die Aufhebung des Versagungsbescheides vom 31. Januar 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. April 2012 nach § 66 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) gerichtet. Hiergegen hat der Antragsteller inzwischen Klage erhoben, die am Sozialgericht Kassel unter dem Aktenzeichen S 2 AS 378/12 anhängig ist. Die Anfechtungsklage gegen einen Bescheid nach § 66 SGB I entfaltet im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende aufschiebende Wirkung (Beschluss des Senates vom 16. Januar 2012 – L 6 AS 570/11 B ER). Damit ist auch die verwaltungsverfahrensbeendende Wirkung dieses Bescheides suspendiert, mithin ist die Frage einer vorläufigen Leistungsgewährung einer Regelungsanordnung auf der Basis des Fortzahlungsantrages für den laufenden Leistungszeitraum zugänglich. Trotz fehlendem unechtem Leistungsbegehren in der Hauptsache ist zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes die Möglichkeit des Erlasses einer Regelungsanordnung zu eröffnen (vgl. auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 4. Juli 2012 - L 13 AS 124/12 B ER).

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Ein solcher wesentlicher Nachteil ist nur anzunehmen, wenn dem Antragsteller gegenüber dem Antragsgegner ein materiell-rechtlicher Leistungsanspruch in der Hauptsache zusteht (Anordnungsanspruch) und es ihm darüber hinaus nicht zuzumuten ist, die Entscheidung über den Anspruch in der Hauptsache abzuwarten (Anordnungsgrund). Die tatsächlichen Voraussetzungen für das Vorliegen eines Anordnungsanspruches und eines Anordnungsgrundes sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO). Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- oder Rechtslage im einstweiligen Rechtsschutz nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, welchem Beteiligten ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache eher zuzumuten ist.

In der bestehenden Verfahrenslage ist mithin entgegen der Auffassung des Sozialgerichts dem Antrag nicht bereits deshalb der Erfolg zu versagen, weil die Voraussetzungen des § 66 SGB I vorliegen, sondern weil die Antragsgegnerin zu Recht eine weitere Aufklärung der Einkommens- und Vermögenssituation des Antragstellers in Form der Auswertung des Urteils des Amtsgerichts Kassel vom 20. Dezember 2010 522 F 157/08 S - für erforderlich hält.

Dabei kommt es am hiesigen Maßstab entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin nicht auf die Frage an, ob die Antragsgegnerin ihre Rechte aus § 33 SGB II verwirklichen kann, da dies den Anspruch des Antragstellers nicht betrifft. Die Frage des Bestehens eines nachehelichen Unterhaltsanspruchs ist aber für den Anspruch des Antragstellers relevant, z.B. bei der Prüfung, ob Leistungen wegen einer zu erwartenden Unterhaltsleistung nur darlehensweise erbracht werden müssen. Weiterhin ist nicht auszuschließen, dass Angaben zu Einkommen und Vermögen des Antragstellers im Urteil des Amtsgerichts Kassel vom 20. Dezember 2010 – 522 F 157/08 S – in den Entscheidungsgründen unter IV. enthalten sind, die Ausführungen über den Kindesunterhaltsanspruch gegen den Antragsteller enthalten. Hinreichende Gewissheit ist insoweit nicht durch die eidesstattliche Versicherung des Antragstellers im Verfahren L 6 AS 570/11 B ER zu erlangen, wonach in den geschwärzten Passagen keine leistungsrelevanten Daten vorhanden seien, da es sich hierbei im Kern um eine rechtliche Bewertung handelt, die erst auf der Grundlage der Amtsermittlung der Antragsgegnerin anzustellen wäre. Gleiches gilt für die Mitteilung der ehemaligen Ehefrau des Antragstellers, dass nach §§ 1569 ff. BGB kein nachehelicher Unterhaltsanspruch bestehe (am 7. Oktober 2011 eingegangenes Schreiben im vorgehefteten Teil der Verwaltungsakte). Die Nichtoffenlegung wesentlicher Passagen des Urteils vermag zudem auch Aufklärungsbedarf von Gewicht zu begründen, da der Antragsteller inzwischen über einen erheblichen Zeitraum keine nachvollziehbaren Angaben macht, warum die Schwärzungen erforderlich seien.

Da nach diesem Sachstand das Bestehen eines Anordnungsgrundes nicht mit hinreichender Gewissheit im Eilverfahren ermittelt werden kann, hat der Senat auf der Grundlage einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei sind grundrechtliche Belange des Antragstellers umfassend in der Abwägung zu berücksichtigen. Insbesondere bei Ansprüchen, die darauf gerichtet sind, als Ausfluss der grundrechtlich geschützten Menschenwürde das soziokulturelle Existenzminimum zu sichern (Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz – GG - i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG), ist ein nur möglicherweise bestehender Anordnungsanspruch dann, wenn er eine für die soziokulturelle Teilhabe unverzichtbare Leistungshöhe erreicht und nicht absehbar ist, dass kurzfristig die notwendige Klärung über das Vorliegen des Anspruches herbeigeführt werden kann, in der Regel vorläufig zu befriedigen, wenn sich die Sach- oder Rechtslage im Eilverfahren nicht vollständig klären lässt (vgl. BVerfG vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - info also 2005, 166). Umgekehrt ist eine Vorwegnahme der Hauptsache auch bei der grundrechtlichen Fundierung des Anordnungsanspruches nicht geboten, wenn die Unmöglichkeit der weiteren Sachverhaltsaufklärung in der Sphäre des Antragstellers liegt (vgl. Beschluss des Senats vom 6. März 2012 – L 6 AS 97/12 B ER) und keine rechtlich geschützten Interessen für die Mitwirkungsverweigerung oder einen anderweitigen Weg der Sachverhaltsaufklärung streiten. Da Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund im Rahmen der Folgenabwägung miteinander verknüpft sind, ist trotz aufschiebender Wirkung der Klage gegen den Versagungsbescheid Raum für die Prüfung, ob das Mitwirkungsverlangen des Leistungsträgers gegenüber dem Hilfesuchenden rechtmäßig und zumutbar erscheint, denn die Aufklärung der tatsächlichen Verhältnisse darf nur mit guten Gründen vom Verwaltungs- in ein Gerichtsverfahren verlagert werden (LSG Niedersachsen-Bremen a.a.O.).

Gemessen an diesem Maßstab ist nach Abwägung keine Vorwegnahme der Hauptsache zugunsten des Antragstellers geboten, da er es allein in der Hand hat, die notwendige Sachverhaltsaufklärung durch Vorlage eines grundsätzlich ungeschwärzten Urteils herbeizuführen. Hinsichtlich der insoweit bestehenden Mitwirkungspflicht verweist der Senat auf die Gründe der angegriffenen Entscheidung (§ 142 Abs. 2 Satz 3 SGG). Der Umstand, dass die Verwirklichung menschenwürdebasierter Ansprüche gefährdet ist, stellt sich vor diesem Hintergrund als Selbstgefährdung dar, da der Antragsteller keine nachvollziehbaren Gründe benennt, warum er das Urteil nicht im Wesentlichen ungeschwärzt vorlegt. Er benennt keine konkreten, am Maßstab von § 67 Abs. 12 SGB Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X; vgl. dazu BSG, Urteil vom 19. September 2008 – B 14 AS 45/07 R) oder des allgemeinen Persönlichkeitsrechts schutzwürdigen Belange, die für eine Nichtvorlage des Urteils streiten würden. Er beruft sich vielmehr allein auf den Rechtsstandpunkt, dass er nicht zu einer verdachtsunabhängigen Vorlage verpflichtet sei. Selbst wenn der Kläger schutzwürdige Umstände – etwa einen Eingriff in die Intimsphäre bezüglich bestimmter Passagen des Urteils – vorgetragen hätte, so wäre es seine Obliegenheit zu begründen, warum nicht durch das Schwärzen einzelner weniger Wörter die Rechte des Antragstellers nicht hinreichend geschützt werden könnten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde anfechtbar.

Die Entscheidung über die Ablehnung des Prozesskostenhilfegesuches folgt aus § 73a SGG i.V.m. §§ 114 ff. ZPO.
Rechtskraft
Aus
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