Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
23
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 47 SO 1741/10
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 23 SO 150/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird der Beschluss (Gerichtsbescheid) des Sozialgerichts Berlin vom 19. Juli 2010 aufgehoben. Es wird festgestellt, dass das bei dem Sozialgericht Berlin unter dem Aktenzeichen S 47 SO 1741/10 geführte Verfahren fortzusetzen ist. Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Beendigung des ursprünglichen Klageverfahrens S 47 SO 1741/10 durch fiktive Klagerücknahme. Gegenstand des ursprünglichen Verfahrens waren höhere Leistungen der Grundsicherung nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) für den Zeitraum vom 1. November 2009 bis 30. November 2010 unter Berücksichtigung der tatsächlichen Kosten der Unterkunft.
Mit Bescheid vom 8. Februar 2010 setzte der Beklagte die Grundsicherung des Klägers für den Zeitraum vom 1. November 2009 bis 30. November 2010 neu fest. Dabei berücksichtigte er monatliche Kosten der Unterkunft in Höhe von 222,00 Euro. Hiergegen erhob der Kläger am 9. März 2010 Widerspruch, der nicht begründet wurde. Bereits unter dem 3. März 2010 änderte der Beklagte die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen für den Zeitraum von April 2010 bis November 2010, berücksichtigte dabei aber weiterhin lediglich Kosten der Unterkunft in Höhe von 222,00 Euro.
Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 14. Juli 2010 zurück, wogegen der Kläger durch seinen Prozessbevollmächtigten am 16. August 2010 Klage zum Sozialgericht Berlin erhoben hat. Eine Klagebegründung ist nicht erfolgt. Unter dem 16. November 2010 hat das Sozialgericht den Prozessbevollmächtigten des Klägers aufgefordert, die Klage zu begründen, und auf § 102 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz SGG hingewiesen, nach dem die Klage als zurückgenommen gelte, falls das Verfahren nach Bekanntgabe der gerichtlichen Aufforderung länger als drei Monate nicht betrieben werde. Das Nichtbegründen der eingelegten Klage reiche für eine Betreibensaufforderung nach § 102 Abs. 2 SGG aus. Die Aufforderung ist per Fax gegen Empfangsbekenntnis am 16. November 2010 an den Prozessbevollmächtigten des Klägers gesandt worden.
Auf telefonische Anforderung hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers das Empfangsbekenntnis am 7. Dezember 2010 an das Sozialgericht zurückgesandt. Dem zurückgesandten Empfangsbekenntnis ist zu entnehmen, dass dieses am 16. November 2010 bei dem Prozessbevollmächtigten des Klägers eingegangen ist. Der Empfang der Betreibensaufforderung vom 16. November 2010 per Fax wird mit dem 18. November 2010 durch Unterschrift bestätigt. Mit Schriftsatz vom 17. Februar 2011, Eingang am selben Tage, hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Klage begründet. Die Grundmiete des Klägers betrage 609,95 Euro, ein Umzug sei dem Kläger nicht zuzumuten, die Kosten seien in voller Höhe zu berücksichtigen.
Nach Anhörung hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 19. Juli 2010, gestützt auf § 105 SGG, festgestellt, dass die Klage durch Rücknahme erledigt sei. Die Betreibensaufforderung sei dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 16. November 2010 zugegangen. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers habe den durch das gerichtliche Faxprotokoll vermittelten Anscheinsbeweis, dass in seinem Büro die Betreibensaufforderung am 16. November 2011 zugegangen sei und dass er bzw. eine Mitarbeiterin auf dem Empfangsbekenntnis mit dem 18. November 2011 ein unzutreffendes Datum angegeben hätten, nicht widerlegt. Die dreimonatige Frist des § 102 Abs. 2 SGG laufe damit am 16. Februar 2011 ab. Der Kläger habe die Klage erst am 17. Februar 2011 betrieben.
Gegen den am 22. Juli 2011 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers am 27. Juli 2011 Berufung eingelegt. Er habe die Betreibensaufforderung vom 16. November 2010 am 18. November 2010 erhalten. Erst durch die Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses werde der Fristablauf in Gang gesetzt.
Dem Vorbringen des Prozessbevollmächtigten des Klägers ist der Antrag zu entnehmen,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 19. Juli 2010 aufzuheben und festzustellen, dass das unter dem Aktenzeichen S 47 SO 1741/10 beim Sozialgericht Berlin geführte Verfahren fortzusetzen ist. Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens wird auf den Inhalt der Gerichtsakten in beiden Rechtszügen und die Leistungsakten des Beklagten () verwiesen. Diese sind Gegenstand der Beratung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers hat Erfolg. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 19. Juli 2010 ist aufzuheben und es ist festzustellen, dass das unter dem Aktenzeichen S 47 SO 1741/10 beim Sozialgericht geführte Verfahren fortzusetzen ist.
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 19. Juli 2010 ist statthaft und zulässig. Dabei kann dahinstehen, ob für die Berufung gegen eine Entscheidung, mit dem die Wirksamkeit einer Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG festgestellt wird, die Beschränkung des § 144 SGG Anwendung findet (dagegen: LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 30. August 2012, L 2 AS 132/12, BeckRS 2012, 74983; dafür: Sächsisches LSG, Urteil vom 1. Dezember 2010, L 7 AS 524/09, BeckRS 2011, 68805). Stellt man mit dem Sächsischen LSG auf den Beschwerdewert des (vermeintlich) beendeten Verfahrens ab, werden hier höhere Kosten der Unterkunft von 609,95 Euro monatlich gegenüber gewährten 222,00 Euro monatlich für jedenfalls zwölf Monate geltend gemacht, was einen Beschwerdewert von 4.655,54 Euro (387,95 Euro Differenz für zwölf Monate) ergibt.
Die zulässige Berufung ist auch begründet. Die Feststellung des Sozialgerichts in seinem Gerichtsbescheid vom 19. Juli 2010, das Verfahren sei durch fiktive Klagerücknahme beendet, ist unzutreffend. Daher ist das Verfahren S 47 SO 1741/10 beim Sozialgericht fortzusetzen.
Nach § 102 Abs. 2 Satz 1 gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Der Kläger hat innerhalb der Dreimonatsfrist des § 102 SGG das Verfahren durch Begründung der Klage betrieben.
Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt (§ 102 Abs. 2 Satz 1 SGG). Die Betreibensaufforderung ist, da sie eine Frist in Lauf setzt, förmlich zuzustellen (§ 63 SGG). An Rechtsanwälte kann gemäß § 63 Abs. 2 SGG i. V. m. § 174 Abs. 2 Satz 1 Zivilprozessordnung ZPO ein Schriftstück durch Übermittlung per Telekopie gegen Empfangsbekenntnis zugestellt werden. Eine entsprechende Vorgehensweise hat der Kammervorsitzende des Sozialgerichts unter dem 11. November 2010 verfügt. Ob das daraufhin übersandte Schreiben vom 16. November 2010 eine Frist in Lauf setzen konnte, obwohl es den Hinweis trug: "Dieses Schreiben wurde maschinell erstellt und ist daher auch ohne Unterschrift gültig", kann dahinstehen, da durch die Begründung der Klage vom 17. Februar 2011 die Frist jedenfalls eingehalten worden ist.
Es spricht einiges dafür, dass an die per Telekopie zugestellte Betreibensaufforderung keine geringeren formalen Anforderungen gestellt werden können als an per Post oder Justizbeamte zugestellte. Danach muss eine solche Aufforderung grundsätzlich entweder in der von dem Richter unterzeichneten Urschrift, in der Form einer Ausfertigung oder einer beglaubigten Abschrift übermittelt werden (vgl. Keller in Meyer Ladewig, SGG, 10. Aufl., § 63 Rz. 2 am Ende). Dies dürfte vorliegend nicht geschehen sein. Insbesondere lag keine Ausfertigung vor, da die Aufforderung nicht von der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle unterschrieben worden ist (§ 138 Abs. 3 SGG).
Der Mangel des Zustellungsgegenstandes ist jedoch durch den tatsächlichen Zugang der Betreibensaufforderung geheilt worden (§ 63 Abs. 2 SGG i. V. m. § 189 ZPO), den der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit Empfangsbekenntnis bestätigt hat.
Durch das vorliegende Empfangsbekenntnis ist jedoch lediglich bewiesen worden, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Betreibensaufforderung vom 16. November 2010 am 18. November 2010 entgegengenommen hat. Der Gegenbeweis der Unrichtigkeit des auf dem Empfangsbekenntnis angebrachten Datums ist entgegen der Auffassung des Sozialgerichts nicht erbracht. Nach der übereinstimmenden Rechtsprechung der Obersten Gerichtshöfe des Bundes erbringt das datierte und unterschriebene Empfangsbekenntnis als öffentliche Urkunde Beweis für die Entgegennahme des darin bezeichneten Schriftstücks als zugestellt und für den Zeitpunkt dieser Entgegennahme. Der Gegenbeweis der Unrichtigkeit der im Empfangsbekenntnis enthaltenen Angaben ist nach der übereinstimmenden Rechtsprechung der Obersten Bundesgerichte zulässig; er ist jedoch nur geführt, wenn die von dem Empfangsbekenntnis ausgehende Beweiswirkung vollständig entkräftet und jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, dass die Angaben des Empfangsbekenntnisses richtig sind (zum Ganzen nur BSG SozR 3 1400 § 164 Nr. 13; BVerwG, Buchholz, 340 § 5 VwZG Nr. 19; BFHE 193, 392). Der Gegenbeweis ist nicht schon dann erbracht, wenn die Möglichkeit der Unrichtigkeit besteht, die Richtigkeit der Angaben also nur erschüttert ist.
Es sind für den Senat keine Anhaltspunkte ersichtlich, die die Annahme des Sozialgerichts stützen, der Prozessbevollmächtigte des Klägers habe von der zuzustellenden Betreibensaufforderung Kenntnis erlangt, bevor das Empfangsbekenntnis unterzeichnet worden ist, und willentlich ein anderes (späteres) Datum auf dem Empfangsbekenntnis eingetragen. Maßgebend ist für die Zustellung gegen Empfangsbekenntnis nach § 174 ZPO der Zeitpunkt, an dem der Rechtsanwalt als Zustellungsadressat vom Zugang des übermittelten Schriftstücks Kenntnis erlangt und es empfangsbereit entgegennimmt, was er durch seine Unterschrift auf dem Empfangsbekenntnis dokumentiert (BGH NJW 2007, 600). Der bloße Eingang einer gegen Empfangsbekenntnis zuzustellenden Betreibensaufforderung beim Empfänger bedeutet noch keine Zustellung (vgl. zum Widerspruchsbescheid BSG, Urteil vom 7. November 2000 - B 2 U 14/00 R - USK 2000-76). Wenn der Prozessbevollmächtigte des Klägers darauf hinweist, dass in seiner Kanzlei täglich Post des Sozialgerichts Berlin im Umfang von zirka 100 Poststücken eingeht und diese teilweise nicht an seine Kanzlei adressiert sind, erscheint es jedenfalls nachvollziehbar, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers erst am zweiten Tag nach Eingang der per Fax übersandten Betreibensaufforderung von dieser Kenntnis erlangt hat. Ein Beweis dafür, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers ein anderes Datum als den Tag der tatsächlichen Kenntnisnahme beurkundet hat bzw. die Kenntnisnahme (willentlich) verzögert hat, ist nicht erbracht. Die vom Sozialgericht aufgeführten Umstände reichen insoweit nicht aus. Der Eingang des Fax ist vom Prozessbevollmächtigten des Klägers für den 16. November 2011 niemals bestritten worden. Vielmehr bestätigt der Prozessbevollmächtigte des Klägers in der Berufungsschrift den Eingang unter diesem Datum. Auf diesen kommt es - wie ausgeführt - jedoch nicht an. Insoweit bedurfte es auch nicht der Übersendung der Faxprotokolle durch den Prozessbevollmächtigten des Klägers, wobei darauf hinzuweisen ist, dass es nicht dessen Aufgabe ist nachzuweisen, dass die Angaben im Empfangsbekenntnis zutreffen.
Ist die Betreibensaufforderung damit am 18. November 2010 zugestellt worden, hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers innerhalb der Frist des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG das Verfahren durch Begründung der Klage am 17. Februar 2011 betrieben. Die Klage gilt nicht als zurückgenommen. Der als Beschluss überschriebene Gerichtsbescheid vom 19. Juli 2010 ist somit aufzuheben.
Infolge der Aufhebung des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts in der Sache S 47 SO 1741/10 ist das Verfahren beim Sozialgericht ohne weiteres fortzusetzen und in der Sache zu entscheiden. Der Senat folgt der Auffassung u. a. des Sächsischen Landessozialgerichts LSG in seinem Urteil vom 28. Februar 2013 (L 7 AS 523/09) und des LSG Berlin-Brandenburg in seinem Urteil vom 15. März 2013 (L 1 KR 450/12 WA), nach der es einer gesonderten Zurückverweisung im Sinne des § 159 Abs. 1 SGG nicht bedarf. Vielmehr ist lediglich festzustellen, dass der Ausgangsrechtsstreit, nämlich das Verfahren S 47 SO 1741/10, (von Amts wegen) vor dem Sozialgericht fortzuführen ist, weil der Rechtsstreit in der Hauptsache sich nicht durch fiktive Klagerücknahme nach § 102 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. Abs. 1 Satz 2 und SGG erledigt hat. Einen zurückzuverweisenden Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung an das Sozialgericht gibt es insoweit nicht. Denn nicht das Verfahren S 47 SO 1741/10 ist mit dem Berufungsverfahren beim LSG Berlin-Brandenburg rechtshängig geworden, sondern vorerst nur der darüber geführte Rechtsstreit, ob die Beendigung des ursprünglichen Klageverfahrens zu Recht oder zu Unrecht eingetreten ist. Der Zwischenstreit über die Erledigung oder Fortsetzung des Verfahrens stellt insofern ein vom Ausgangsverfahren zu differenzierendes, selbständiges Verfahren dar (vgl. Sächsisches LSG, Urteil vom 28. Februar 2013 - L 7 AS 523/09, BeckRS 2013, 67308, unter Bezugnahme auf Bayerisches LSG, Beschluss vom 12. Juli 2011 - L 11 AS 582/10, BeckRS 2011, 76255). Das Verfahren S 47 SO 1741/10 ist in der Hauptsache nicht beim Landessozialgericht rechtshängig geworden. Mit Rechtskraft der Entscheidung des Senats, den Gerichtsbescheid vom 19. Juli 2010 aufzuheben, und der Feststellung, dass das Ausgangsverfahren mangels Eintritts der Klagerücknahmefiktion vor dem Sozialgericht fortzuführen ist, entfällt die Rechtshängigkeit des im Berufungsverfahren allein rechtshängig gewesenen Fortsetzungsstreits. Die Rechtshängigkeit des Ausgangsverfahrens S 47 SO 1741/10 beim Sozialgericht war hingegen zu keinem Zeitpunkt entfallen, weil eine Erledigung im Sinne des § 102 Abs. 1 Satz 2 SGG nicht eingetreten war. Daher hat das Sozialgericht von Amts wegen über das noch offene Verfahren zu entscheiden. Der Senat ist an einer eigenen Entscheidung in der Sache gehindert (vgl. Sächsisches LSG vom 28. Februar 2013, a. a. O., LSG Berlin-Brandenburg mit Urteil vom 15. Februar 2013, a. a. O.; anderer Ansicht LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Mai 2011 - L 13 SB 32/11, BeckRS 2011, 73951).
Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung im eigentlichen Streitverfahren der Beteiligten vorbehalten, weil der Fortsetzungsstreit kein Rechtsmittel, sondern ein Zwischenstreit ist. Insofern folgt die Entscheidung über die Kosten der vom Sozialgericht zu Unrecht angenommenen Verfahrensbeendigung durch fiktive Klagerücknahme der Entscheidung in der Sache, was im Übrigen auch der Billigkeit entspricht.
Gründe, gemäß § 160 Abs. 2 SGG die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Beendigung des ursprünglichen Klageverfahrens S 47 SO 1741/10 durch fiktive Klagerücknahme. Gegenstand des ursprünglichen Verfahrens waren höhere Leistungen der Grundsicherung nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) für den Zeitraum vom 1. November 2009 bis 30. November 2010 unter Berücksichtigung der tatsächlichen Kosten der Unterkunft.
Mit Bescheid vom 8. Februar 2010 setzte der Beklagte die Grundsicherung des Klägers für den Zeitraum vom 1. November 2009 bis 30. November 2010 neu fest. Dabei berücksichtigte er monatliche Kosten der Unterkunft in Höhe von 222,00 Euro. Hiergegen erhob der Kläger am 9. März 2010 Widerspruch, der nicht begründet wurde. Bereits unter dem 3. März 2010 änderte der Beklagte die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen für den Zeitraum von April 2010 bis November 2010, berücksichtigte dabei aber weiterhin lediglich Kosten der Unterkunft in Höhe von 222,00 Euro.
Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 14. Juli 2010 zurück, wogegen der Kläger durch seinen Prozessbevollmächtigten am 16. August 2010 Klage zum Sozialgericht Berlin erhoben hat. Eine Klagebegründung ist nicht erfolgt. Unter dem 16. November 2010 hat das Sozialgericht den Prozessbevollmächtigten des Klägers aufgefordert, die Klage zu begründen, und auf § 102 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz SGG hingewiesen, nach dem die Klage als zurückgenommen gelte, falls das Verfahren nach Bekanntgabe der gerichtlichen Aufforderung länger als drei Monate nicht betrieben werde. Das Nichtbegründen der eingelegten Klage reiche für eine Betreibensaufforderung nach § 102 Abs. 2 SGG aus. Die Aufforderung ist per Fax gegen Empfangsbekenntnis am 16. November 2010 an den Prozessbevollmächtigten des Klägers gesandt worden.
Auf telefonische Anforderung hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers das Empfangsbekenntnis am 7. Dezember 2010 an das Sozialgericht zurückgesandt. Dem zurückgesandten Empfangsbekenntnis ist zu entnehmen, dass dieses am 16. November 2010 bei dem Prozessbevollmächtigten des Klägers eingegangen ist. Der Empfang der Betreibensaufforderung vom 16. November 2010 per Fax wird mit dem 18. November 2010 durch Unterschrift bestätigt. Mit Schriftsatz vom 17. Februar 2011, Eingang am selben Tage, hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Klage begründet. Die Grundmiete des Klägers betrage 609,95 Euro, ein Umzug sei dem Kläger nicht zuzumuten, die Kosten seien in voller Höhe zu berücksichtigen.
Nach Anhörung hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 19. Juli 2010, gestützt auf § 105 SGG, festgestellt, dass die Klage durch Rücknahme erledigt sei. Die Betreibensaufforderung sei dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 16. November 2010 zugegangen. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers habe den durch das gerichtliche Faxprotokoll vermittelten Anscheinsbeweis, dass in seinem Büro die Betreibensaufforderung am 16. November 2011 zugegangen sei und dass er bzw. eine Mitarbeiterin auf dem Empfangsbekenntnis mit dem 18. November 2011 ein unzutreffendes Datum angegeben hätten, nicht widerlegt. Die dreimonatige Frist des § 102 Abs. 2 SGG laufe damit am 16. Februar 2011 ab. Der Kläger habe die Klage erst am 17. Februar 2011 betrieben.
Gegen den am 22. Juli 2011 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers am 27. Juli 2011 Berufung eingelegt. Er habe die Betreibensaufforderung vom 16. November 2010 am 18. November 2010 erhalten. Erst durch die Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses werde der Fristablauf in Gang gesetzt.
Dem Vorbringen des Prozessbevollmächtigten des Klägers ist der Antrag zu entnehmen,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 19. Juli 2010 aufzuheben und festzustellen, dass das unter dem Aktenzeichen S 47 SO 1741/10 beim Sozialgericht Berlin geführte Verfahren fortzusetzen ist. Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens wird auf den Inhalt der Gerichtsakten in beiden Rechtszügen und die Leistungsakten des Beklagten () verwiesen. Diese sind Gegenstand der Beratung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers hat Erfolg. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 19. Juli 2010 ist aufzuheben und es ist festzustellen, dass das unter dem Aktenzeichen S 47 SO 1741/10 beim Sozialgericht geführte Verfahren fortzusetzen ist.
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 19. Juli 2010 ist statthaft und zulässig. Dabei kann dahinstehen, ob für die Berufung gegen eine Entscheidung, mit dem die Wirksamkeit einer Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG festgestellt wird, die Beschränkung des § 144 SGG Anwendung findet (dagegen: LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 30. August 2012, L 2 AS 132/12, BeckRS 2012, 74983; dafür: Sächsisches LSG, Urteil vom 1. Dezember 2010, L 7 AS 524/09, BeckRS 2011, 68805). Stellt man mit dem Sächsischen LSG auf den Beschwerdewert des (vermeintlich) beendeten Verfahrens ab, werden hier höhere Kosten der Unterkunft von 609,95 Euro monatlich gegenüber gewährten 222,00 Euro monatlich für jedenfalls zwölf Monate geltend gemacht, was einen Beschwerdewert von 4.655,54 Euro (387,95 Euro Differenz für zwölf Monate) ergibt.
Die zulässige Berufung ist auch begründet. Die Feststellung des Sozialgerichts in seinem Gerichtsbescheid vom 19. Juli 2010, das Verfahren sei durch fiktive Klagerücknahme beendet, ist unzutreffend. Daher ist das Verfahren S 47 SO 1741/10 beim Sozialgericht fortzusetzen.
Nach § 102 Abs. 2 Satz 1 gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Der Kläger hat innerhalb der Dreimonatsfrist des § 102 SGG das Verfahren durch Begründung der Klage betrieben.
Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt (§ 102 Abs. 2 Satz 1 SGG). Die Betreibensaufforderung ist, da sie eine Frist in Lauf setzt, förmlich zuzustellen (§ 63 SGG). An Rechtsanwälte kann gemäß § 63 Abs. 2 SGG i. V. m. § 174 Abs. 2 Satz 1 Zivilprozessordnung ZPO ein Schriftstück durch Übermittlung per Telekopie gegen Empfangsbekenntnis zugestellt werden. Eine entsprechende Vorgehensweise hat der Kammervorsitzende des Sozialgerichts unter dem 11. November 2010 verfügt. Ob das daraufhin übersandte Schreiben vom 16. November 2010 eine Frist in Lauf setzen konnte, obwohl es den Hinweis trug: "Dieses Schreiben wurde maschinell erstellt und ist daher auch ohne Unterschrift gültig", kann dahinstehen, da durch die Begründung der Klage vom 17. Februar 2011 die Frist jedenfalls eingehalten worden ist.
Es spricht einiges dafür, dass an die per Telekopie zugestellte Betreibensaufforderung keine geringeren formalen Anforderungen gestellt werden können als an per Post oder Justizbeamte zugestellte. Danach muss eine solche Aufforderung grundsätzlich entweder in der von dem Richter unterzeichneten Urschrift, in der Form einer Ausfertigung oder einer beglaubigten Abschrift übermittelt werden (vgl. Keller in Meyer Ladewig, SGG, 10. Aufl., § 63 Rz. 2 am Ende). Dies dürfte vorliegend nicht geschehen sein. Insbesondere lag keine Ausfertigung vor, da die Aufforderung nicht von der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle unterschrieben worden ist (§ 138 Abs. 3 SGG).
Der Mangel des Zustellungsgegenstandes ist jedoch durch den tatsächlichen Zugang der Betreibensaufforderung geheilt worden (§ 63 Abs. 2 SGG i. V. m. § 189 ZPO), den der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit Empfangsbekenntnis bestätigt hat.
Durch das vorliegende Empfangsbekenntnis ist jedoch lediglich bewiesen worden, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Betreibensaufforderung vom 16. November 2010 am 18. November 2010 entgegengenommen hat. Der Gegenbeweis der Unrichtigkeit des auf dem Empfangsbekenntnis angebrachten Datums ist entgegen der Auffassung des Sozialgerichts nicht erbracht. Nach der übereinstimmenden Rechtsprechung der Obersten Gerichtshöfe des Bundes erbringt das datierte und unterschriebene Empfangsbekenntnis als öffentliche Urkunde Beweis für die Entgegennahme des darin bezeichneten Schriftstücks als zugestellt und für den Zeitpunkt dieser Entgegennahme. Der Gegenbeweis der Unrichtigkeit der im Empfangsbekenntnis enthaltenen Angaben ist nach der übereinstimmenden Rechtsprechung der Obersten Bundesgerichte zulässig; er ist jedoch nur geführt, wenn die von dem Empfangsbekenntnis ausgehende Beweiswirkung vollständig entkräftet und jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, dass die Angaben des Empfangsbekenntnisses richtig sind (zum Ganzen nur BSG SozR 3 1400 § 164 Nr. 13; BVerwG, Buchholz, 340 § 5 VwZG Nr. 19; BFHE 193, 392). Der Gegenbeweis ist nicht schon dann erbracht, wenn die Möglichkeit der Unrichtigkeit besteht, die Richtigkeit der Angaben also nur erschüttert ist.
Es sind für den Senat keine Anhaltspunkte ersichtlich, die die Annahme des Sozialgerichts stützen, der Prozessbevollmächtigte des Klägers habe von der zuzustellenden Betreibensaufforderung Kenntnis erlangt, bevor das Empfangsbekenntnis unterzeichnet worden ist, und willentlich ein anderes (späteres) Datum auf dem Empfangsbekenntnis eingetragen. Maßgebend ist für die Zustellung gegen Empfangsbekenntnis nach § 174 ZPO der Zeitpunkt, an dem der Rechtsanwalt als Zustellungsadressat vom Zugang des übermittelten Schriftstücks Kenntnis erlangt und es empfangsbereit entgegennimmt, was er durch seine Unterschrift auf dem Empfangsbekenntnis dokumentiert (BGH NJW 2007, 600). Der bloße Eingang einer gegen Empfangsbekenntnis zuzustellenden Betreibensaufforderung beim Empfänger bedeutet noch keine Zustellung (vgl. zum Widerspruchsbescheid BSG, Urteil vom 7. November 2000 - B 2 U 14/00 R - USK 2000-76). Wenn der Prozessbevollmächtigte des Klägers darauf hinweist, dass in seiner Kanzlei täglich Post des Sozialgerichts Berlin im Umfang von zirka 100 Poststücken eingeht und diese teilweise nicht an seine Kanzlei adressiert sind, erscheint es jedenfalls nachvollziehbar, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers erst am zweiten Tag nach Eingang der per Fax übersandten Betreibensaufforderung von dieser Kenntnis erlangt hat. Ein Beweis dafür, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers ein anderes Datum als den Tag der tatsächlichen Kenntnisnahme beurkundet hat bzw. die Kenntnisnahme (willentlich) verzögert hat, ist nicht erbracht. Die vom Sozialgericht aufgeführten Umstände reichen insoweit nicht aus. Der Eingang des Fax ist vom Prozessbevollmächtigten des Klägers für den 16. November 2011 niemals bestritten worden. Vielmehr bestätigt der Prozessbevollmächtigte des Klägers in der Berufungsschrift den Eingang unter diesem Datum. Auf diesen kommt es - wie ausgeführt - jedoch nicht an. Insoweit bedurfte es auch nicht der Übersendung der Faxprotokolle durch den Prozessbevollmächtigten des Klägers, wobei darauf hinzuweisen ist, dass es nicht dessen Aufgabe ist nachzuweisen, dass die Angaben im Empfangsbekenntnis zutreffen.
Ist die Betreibensaufforderung damit am 18. November 2010 zugestellt worden, hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers innerhalb der Frist des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG das Verfahren durch Begründung der Klage am 17. Februar 2011 betrieben. Die Klage gilt nicht als zurückgenommen. Der als Beschluss überschriebene Gerichtsbescheid vom 19. Juli 2010 ist somit aufzuheben.
Infolge der Aufhebung des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts in der Sache S 47 SO 1741/10 ist das Verfahren beim Sozialgericht ohne weiteres fortzusetzen und in der Sache zu entscheiden. Der Senat folgt der Auffassung u. a. des Sächsischen Landessozialgerichts LSG in seinem Urteil vom 28. Februar 2013 (L 7 AS 523/09) und des LSG Berlin-Brandenburg in seinem Urteil vom 15. März 2013 (L 1 KR 450/12 WA), nach der es einer gesonderten Zurückverweisung im Sinne des § 159 Abs. 1 SGG nicht bedarf. Vielmehr ist lediglich festzustellen, dass der Ausgangsrechtsstreit, nämlich das Verfahren S 47 SO 1741/10, (von Amts wegen) vor dem Sozialgericht fortzuführen ist, weil der Rechtsstreit in der Hauptsache sich nicht durch fiktive Klagerücknahme nach § 102 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. Abs. 1 Satz 2 und SGG erledigt hat. Einen zurückzuverweisenden Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung an das Sozialgericht gibt es insoweit nicht. Denn nicht das Verfahren S 47 SO 1741/10 ist mit dem Berufungsverfahren beim LSG Berlin-Brandenburg rechtshängig geworden, sondern vorerst nur der darüber geführte Rechtsstreit, ob die Beendigung des ursprünglichen Klageverfahrens zu Recht oder zu Unrecht eingetreten ist. Der Zwischenstreit über die Erledigung oder Fortsetzung des Verfahrens stellt insofern ein vom Ausgangsverfahren zu differenzierendes, selbständiges Verfahren dar (vgl. Sächsisches LSG, Urteil vom 28. Februar 2013 - L 7 AS 523/09, BeckRS 2013, 67308, unter Bezugnahme auf Bayerisches LSG, Beschluss vom 12. Juli 2011 - L 11 AS 582/10, BeckRS 2011, 76255). Das Verfahren S 47 SO 1741/10 ist in der Hauptsache nicht beim Landessozialgericht rechtshängig geworden. Mit Rechtskraft der Entscheidung des Senats, den Gerichtsbescheid vom 19. Juli 2010 aufzuheben, und der Feststellung, dass das Ausgangsverfahren mangels Eintritts der Klagerücknahmefiktion vor dem Sozialgericht fortzuführen ist, entfällt die Rechtshängigkeit des im Berufungsverfahren allein rechtshängig gewesenen Fortsetzungsstreits. Die Rechtshängigkeit des Ausgangsverfahrens S 47 SO 1741/10 beim Sozialgericht war hingegen zu keinem Zeitpunkt entfallen, weil eine Erledigung im Sinne des § 102 Abs. 1 Satz 2 SGG nicht eingetreten war. Daher hat das Sozialgericht von Amts wegen über das noch offene Verfahren zu entscheiden. Der Senat ist an einer eigenen Entscheidung in der Sache gehindert (vgl. Sächsisches LSG vom 28. Februar 2013, a. a. O., LSG Berlin-Brandenburg mit Urteil vom 15. Februar 2013, a. a. O.; anderer Ansicht LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Mai 2011 - L 13 SB 32/11, BeckRS 2011, 73951).
Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung im eigentlichen Streitverfahren der Beteiligten vorbehalten, weil der Fortsetzungsstreit kein Rechtsmittel, sondern ein Zwischenstreit ist. Insofern folgt die Entscheidung über die Kosten der vom Sozialgericht zu Unrecht angenommenen Verfahrensbeendigung durch fiktive Klagerücknahme der Entscheidung in der Sache, was im Übrigen auch der Billigkeit entspricht.
Gründe, gemäß § 160 Abs. 2 SGG die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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