L 15 SO 135/14 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
15
1. Instanz
SG Neuruppin (BRB)
Aktenzeichen
S 14 SO 15/14 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 15 SO 135/14 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 17. April 2014 aufgehoben. Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit ab Zustellung dieses Beschlusses bis zum 30. September 2014, längstens bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, Eingliederungshilfe in Form von ambulanter Betreuung im Umfang von weiteren fünf Stunden wöchentlich, insgesamt also acht Stunden wöchentlich, zu gewähren. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten des einstweiligen Anordnungsverfahrens beider Instanzen zu erstatten. Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwalt N B, beigeordnet.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragstellers, mit der er sich gegen den Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 17. April 2014 wendet, mit dem dieses es abgelehnt hat, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, im Rahmen der Eingliederungshilfe die Kosten für ambulante Betreuung im Umfang von (insgesamt) acht Stunden wöchentlich, also weiteren fünf Stunden als bewilligt zu übernehmen, ist zulässig und begründet. Dem Antragsteller sind die in der Beschlussformel genannten Leistungen zu gewähren.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheinen. Die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) und der geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 3 SGG i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung – ZPO-).

Der Antragsteller hat sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.

Rechtsgrundlage für die Leistungen ist § 53 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Nach dessen Absatz 1 Satz 1 erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und so lange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann.

Dass der Antragsteller einen Bedarf an Eingliederungshilfe hat, ist zwischen den Beteiligten nicht streitig. Streitig ist, in welchem Verhältnis die mit zwei Bescheiden vom 19. Februar 2013 von der Pflegekasse, der Barmer/GEK, gewährten Leistungen, nämlich häusliche Pflegehilfe (Sachleistung) sowie zusätzliche Betreuungsleistungen zu der Eingliederungshilfe stehen bzw. ob der bisher von der Eingliederungshilfe gedeckte Bedarf im Umfang von fünf Stunden wöchentlich nunmehr durch die bewilligten Pflegeleistungen entfallen ist.

Gemäß § 13 Abs. 3 Satz 3 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) bleiben die Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach dem Zwölften Buch, dem Bundesversorgungsgesetz und dem Achten Buch unberührt, sie sind im Verhältnis zur Pflegeversicherung nicht nachrangig. Die in dem Widerspruchs- bescheid des Antragsgegners vom 19. Februar 2014 geäußerte Auffassung, die Pflegekasse sei vorrangig verpflichtet, ist nicht zutreffend. Der Nachrang ist ausdrücklich aufgehoben (vgl. Udsching in Udsching, Kommentar zum SGB XI, 3. Auflage, § 13 Rdnr. 20 und Kruse in LPK-SGB XI, 4. Auflage, § 13 Rdnr. 30, jeweils mit weiteren Nachweisen).

Dies bedeutet, dass dem Antragsteller Eingliederungshilfe neben den SGB XI-Leistungen zu gewähren ist und die Leistungsträger, also hier die Pflegekasse und der Antragsgegner, die Leistungen koordinieren, nur einer die Leistungen gewährt und der eine der Träger einen Erstattungsanspruch gegen den anderen hat. Gemäß § 13 Abs. 4 SGB XI sollen, wenn Pflegeleistungen mit Leistungen der Eingliederungshilfe oder mit weitergehenden Pflegeleistungen nach dem Zwölften Buch zusammentreffen, die Pflegekassen und der Träger der Sozialhilfe vereinbaren, dass im Verhältnis zum Pflegebedürftigen nur eine Stelle die Leistungen übernimmt und die andere Stelle die Kosten der von ihr zu tragenden Leistungen erstattet. Die Vorschrift wurde eingeführt, um Pflegebedürftigen, die sowohl aus der Pflegever-sicherung als auch – damals nach dem Bundessozialhilfegesetz, jetzt nach dem SGB XII – Pflegeleistungen beanspruchen können, eine Auseinandersetzung mit mehreren Leistungsträgern zu ersparen (vgl. Udsching aaO., § 13 Rdnr. 24). Der jeweils zuständige Träger hat den Bescheid über die Leistungsbewilligung nach den für ihn geltenden Vorschriften zu erteilen (vgl. Wagner in Hauck/Noftz, Kommentar zum SGB XI, § 13 Rdnr. 54; Udsching aaO., Rdnr. 24; Kruse, aaO., § 13 Rdnr. 30). Allerdings kann von einem "Zusammentreffen" im Sinne des § 13 Abs. 4 SGB XI nur gesprochen werden bei jeweils rechtlich selbständigen Leistungen, d.h., wenn sowohl die Leistungsvoraussetzungen nach dem SGB XI als auch die Voraussetzungen der §§ 53 ff erfüllt und deshalb die Leistungen auf Grund dieser Vorschriften zu erbringen sind (Kruse aaO., § 13 Rdnr. 34). Dies ist hier der Fall. Der Anspruch des Klägers aus der Pflegeversicherung ergibt sich aus § 45a und § 123 SGB XI. Nach § 45a SGB XI sind leistungsberechtigt Pflegebedürftige in häuslicher Pflege, bei denen neben dem Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung (§§ 14 und 15 SGB XI) ein erheblicher Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung gegeben ist. Nach § 123 SGB XI haben Versicherte, die wegen erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz die Voraussetzungen des § 45a SGB XI erfüllen, neben den Leistungen nach § 45b SGB XI bis zum Inkrafttreten eines Gesetzes, das die Leistungsgewährung aufgrund eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und eines entsprechenden Begutachtungs-verfahrens regelt, Ansprüche auf Pflegeleistungen nach Maßgabe der folgenden Absätze. Der Anspruch des Antragstellers gegen den Antragsgegner ergibt sich, wie bereits erläutert, aus § 53 f SGB XII. Der Antragsgegner hat diesen auch bis zur Erteilung der Bescheide der Pflegekasse nicht in Frage gestellt, er ist, wie erläutert, auch nicht mit der Bewilligung der Leistungen der Pflegekasse entfallen, sondern die Ansprüche bestehen nebeneinander. Dass aus dem gleichen Lebenssachverhalt ein Anspruch auf zwei (bzw. drei) Leistungen resultiert, beruht auf der Tatsache, dass der Antragsteller im Wesentlichen auf Betreuungsleistungen im Sinne der Motivation angewiesen ist, wie sich aus dem Gutachten für den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) vom 15. Februar 2013 ergibt. Danach besteht sowohl bei der Körperpflege, in noch größerem Maß jedoch bei der hauswirtschaftlichen Versorgung, der Bedarf des Antragstellers vor allem bzw. fast ausschließlich in Gesprächen/Konfliktbewältigung, Motivation, Unterstützung und Anleitung. Dies geht in die Zielrichtung der Eingliederungshilfe gemäß § 53 Abs. 3 SGB XII, da es dazu bestimmt ist, die Folgen der Behinderung des Antragstellers zu mildern und ihn in die Gesellschaft (besser) einzugliedern, indem ihm ein selbstbestimmteres Leben ermöglicht wird. Gleichzeitig erfüllt es aber auch die Voraussetzungen des § 45a SGB XI und des § 123 SGB XI, so dass hier Anspruch auf beide Leistungen besteht.

Es müsste daher zwischen dem Antragsgegner und der Pflegekasse eine Vereinbarung getroffen werden, wer die Leistungen übernimmt. Derjenige, der die Leistungen übernimmt, hat gegen den anderen Träger einen den §§ 102 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) vorgehenden eigenständigen Erstattungsanspruch (vgl. Wagner, aaO., Rdnr. 53). Die Tatsache, dass die Pflegekasse es abgelehnt hat, dem Erstattungsanspruch des Antragsgegners nachzukommen, entlastet letzteren nicht davon, sich mit der Kasse ins Benehmen zu setzen um, wie es dem Zweck des § 13 Abs. 4 SGB XI entspricht, den Pflegebedürftigen von der Auseinandersetzung zu entlasten. Hierdurch wird dem Grundsatz der ganzheitlichen Betreuung behinderter Menschen Rechnung getragen (vgl. Wagner, aaO., § 13 Rdnr. 45). Der Abschluss der Vereinbarung nach § 13 Abs. 4 SGB XI steht auch nicht im Belieben der Leistungsträger. Vielmehr wurde im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens aus der zunächst vorgesehenen Kann-Vorschrift eine Soll-Vorschrift. Daher ist im Regelfall eine Vereinbarung zu treffen, wovon nur in atypischen Sonderfällen abgesehen werden kann (vgl. Kruse, aaO., § 13 Rdnr. 35). Eine Einigung ist nach Aktenlage zwischen der Barmer/GEK und dem Antragsgegner gar nicht versucht worden, es sieht vielmehr danach aus, dass beiden gar nicht bewusst war, dass hier ein Fall des § 13 Abs. 4 SGB XI vorliegt.

Sofern die Einigung insbesondere deshalb problematisch sein sollte, weil die Firma R kein bei der Barmer/GEK zugelassener Leistungserbringer ist, müsste auch hierfür eine Lösung gefunden werden, ggfs. tatsächlich durch Änderung des Leistungserbringers.

Den Anordnungsgrund sieht der Senat hier darin, dass im Interesse des Antragstellers, der eine kontinuierliche Betreuung benötigt, so bald wie möglich eine Lösung gefunden werden muss, die sich nicht abzeichnet, wenn die beiden Träger keinen Klärungsbedarf haben, weil einer der beiden meint, nicht leistungsverpflichtet zu sein. Im Übrigen vermindern sich, wenn eine Klage offensichtlich zulässig und begründet ist, die Anforderungen an den Anordnungsgrund (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 10. Auflage, § 86b Rdnr. 29 n.w.N.). Wegen der Notwendigkeit, ein Einvernehmen zwischen den Trägern herzustellen, wurde der Anordnungszeitraum auf (lediglich) drei Monate festgesetzt.

Von einer Beiladung der Barmer/GEK hat der Senat abgesehen, weil es an einer Vereinbarung zwischen ihr und dem Antragsgegner, die allenfalls zu einer vorrangigen Leistungspflicht der Pflegekasse führen könnte, fehlt.

Es war dem Antragsteller gemäß den §§ 73a SGG i.V. m. 114 ZPO Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten zu bewilligen, da eine hinreichende Erfolgsaussicht sowie Bedürftigkeit bestand.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG analog.

Gegen diesen Beschluss gibt es kein Rechtsmittel (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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