Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 46 SB 2489/12
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 159/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 3. Juni 2014 wird zurückgewiesen. Der Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten für das Berufungsverfahren zu erstatten. Im Übrigen bleibt es bei der Kostenentscheidung des Sozialgerichts. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) und die Zuerkennung des Merkzeichens "außergewöhnliche Gehbehinderung" (aG).
Auf den Feststellungsantrag vom 8. Juli 2011 stellte der Beklagte bei der Klägerin, die 2010 einen Motorradunfall erlitten hatte, mit Bescheid vom 7. Dezember 2011 einen GdB von 30 fest. Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch, worauf der Beklagte das Gutachten des Dr. R vom 5. April 2012 einholte. Auf dessen Grundlage stellte er mit Bescheid vom 24. April 2012 bei der Klägerin einen Grad der Behinderung von 50 und die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens G fest, wies den Widerspruch aber im Übrigen mit Widerspruchsbescheid vom 31. August 2012 zurück, da kein höherer GdB vorliege und auch die Voraussetzungen des Merkzeichens aG nicht erfüllt seien. Hierbei ging er von folgenden Funktionsbeein-trächtigungen aus:
1. Versteifung des oberen Sprunggelenks rechts, Versteifung des unteren Sprunggelenks rechts, Funktionsbehinderung des rechten Fußes, Funktionsstörung durch Zehenfehlform rechts, arterielle Verschlusskrankheit des Beines rechts, außergewöhnliche Schmerzreaktion (darin sind Arbeitsunfallfolgen enthalten) (Einzel-GdG 50), 2. Migräne (Einzel-GdB 10).
Mit der Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat die Klägerin zunächst einen GdB von mindestens 80 und das Merkzeichen aG begehrt.
Das Sozialgericht hat neben Befundberichten das Gutachten des Arztes für Chirurgie Dr. Sch vom 29. Mai 2013 mit ergänzender Stellungnahme vom 16. August 2013 eingeholt, der ausgeführt hat, dass der GdB für die orthopädischen Leiden 60 betrage und die Voraussetzungen den Merkzeichens aG gegeben seien, und zwar jeweils ab Juli 2011. Hierbei hat der Sachverständige auf orthopädischem Fachgebiet folgende Funktionsbeeinträchtigungen ermittelt:
- außerordentliche Schmerzhaftigkeit des rechten Unterschenkels und Fußes nach Trauma mit Knochenbrüchen und ausgeprägten Haut-Weichteilverlust, - schmerzhafte Restbeweglichkeit des oberen und unteren Sprunggelenks bei post-traumatischer Arthrose mit Talusnekrose, - noch liegendes störendes Osteosynthesematerial mit neuralgiformen Schmerzen, - schmerzhaftes Narbengewebe mit funktioneller Behinderung von Muskeln und Sehnen am Fuß, - traumatisch bedingte Minderdurchblutung des rechten Fußes.
Ferner hat das Sozialgericht von der Berufsgenossenschaft für Handel und Warendistribution das Zusammenhangsgutachten der Ärztin für Psychiatrie G vom 23. April 2014 beigezogen, die das psychische Leiden der Klägerin mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 bewertet hat.
Mit Urteil vom 3. Juni 2014 hat das Sozialgericht Berlin den Beklagten zur Feststellung eines GdB von 70 sowie der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens aG verpflichtet und die Klage im Übrigen abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Sachverständige Dr. S habe umfassend, in sich schlüssig und für den medizinischen Laien nachvollziehbar dargelegt, dass für den orthopädischen Behinderungskomplex ein GdB von 60 zu vergeben sei. Auf der Grundlage des Gutachtens der Psychiaterin G sei für die Funktionseinschränkungen der Klägerin im psychischen Bereich ein Einzel-GdB von 20 anzusetzen, der nach der Überzeugung der Kammer den GdB für den orthopädischen Bereich um einen Zehnergrad auf 70 erhöhe. Auch seien die versorgungsärztlichen Einwendungen nicht geeignet, die aus den Erkenntnissen des Sachverständigen gewonnene Überzeugung der Kammer zu erschüttern, dass bei der Klägerin die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG vorlägen. Insbesondere verkenne die Versorgungsärztin Hinkel, dass das Merkzeichen aG (neben der Schwerbehinderteneigenschaft) keinen Mindest-GdB mehr voraussetze. Zu dem hier entscheidungserheblichen Tatbestands-merkmal der Gleichstellung mit dem ausdrücklich genannten Personenkreis der Berechtigten verhalte sich die Versorgungsärztin überhaupt nicht.
Mit der Berufung wendet der Beklagten sich gegen diese Entscheidung. Er ist unter Bezugnahme auf versorgungsärztliche Stellungnahmen der Ansicht, dass bei der Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG nicht vorlä-gen. Auch bestehe bei ihr kein höherer GdB als 50.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 3. Juni 2014 zu ändern und die Klage im vollen Umfang abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Beklagten wird nach § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Beschluss zurückgewiesen, da der Senat sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
Das Urteil des Sozialgerichts ist nicht zu beanstanden.
1. Die Klägerin hat Anspruch auf Feststellung eines GdB von 70.
Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Heranzuziehen sind hierbei die in der Anlage zur Versor-gungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze".
Diesen Vorgaben entsprechend hat das Sozialgericht auf der Grundlage der Gutachten des Chirurgen Dr. S und der Psychiaterin G überzeugend dargelegt, dass der Gesamt-GdB bei der Klägerin 70 beträgt.
Das Vorbringen des Beklagten im Berufungsverfahren rechtfertigt keine andere Entscheidung. Entgegen der versorgungsärztlichen Ansicht mangelt es an keiner "plausiblen" Begründung des Sachverständigen Dr. S für die Bewertung der orthopädischen Leiden mit einem GdB von 60. Der Gutachter hat ausdrücklich auf die außer-gewöhnliche Schmerzhaftigkeit des rechten Unterschenkels und Fußes nach dem Trauma mit Knochenbrüchen und ausgeprägtem Haut- und Weichteilverlust hingewiesen. Eine durchgreifende Verbesserung der orthopädischen Funktionsbeeinträchtigungen kann der Senat dem psychiatrischen Gutachten nicht entnehmen. Die von dem Sozialgericht vorgenommene Bewertung des psychischen Leidens, die von der Sachverständigen G als leichtere behindernde Störung eingeschätzt worden ist, mit einem Einzel-GdB von 20 entspricht den Vorgaben in Teil B Nr. 3.7 der Anlage zur VersMedV. Die mit der Berufung vorgebrachte Einschätzung, die seelische Erkrankung sei im orthopädischen Hauptleiden bereits mit erfasst, teilt der Senat schon deshalb nicht, weil die Berufsgenossenschaft Handel und Warendistribution auf Grund der Darlegungen der Psychiaterin G eine Dauergenehmigung für die Durchführung einer notwendigen laufenden Traumatherapie erteilt hat.
Liegen – wie hier – mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach Teil A Nr. 3c der Anlage zur VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird. Bei der Klägerin ist der Gesamt-GdB danach mit 70 festzusetzen. Der GdB von 60 für die orthopädischen Funktionsbeeinträchtigungen ist unter Berücksichtigung des mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewertenden psychischen Leidens um einen Zehnergrad auf einen Gesamt-GdB von 70 heraufzusetzen, der nach Überzeugung des Senats die Gesamtauswirkungen der Beeinträchtigungen angemessen abbildet.
2. Die Klägerin hat auch Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG.
Anspruchsgrundlage für das Begehren der Klägerin ist § 69 Abs. 4 des IX. Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IX). Danach stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden auch das Vorliegen gesundheitlicher Merkmale fest, soweit sie Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind.
Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung) und die den von der Klägerin begehrten Zugang zu straßenverkehrsrechtlichen Parkerleichterungen eröffnet. Als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind nach Nr. 11 der zu § 46 Straßen-verkehrsordnung erlassenen allgemeinen Verwaltungsvorschrift (VV) solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Dop-pelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind (siehe hierzu auch Nr. 31 der AHP bzw. Teil D Nr. 3 (S. 115f.) der Anlage zur VersMedV).
Eine derartige Gleichstellung setzt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) voraus, dass die Gehfähigkeit des Betroffenen in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 der VV aufgeführten Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (Urteil vom 11. März 1998, B 9 SB 1/97 R, BSGE 82, 37). Zwar handelt es sich bei den beispielhaft aufgeführten schwerbehinderten Menschen mit Querschnittslähmung oder Gliedmaßenamputationen in Bezug auf ihr Gehvermögen nicht um einen homogenen Personenkreis, so dass es möglich ist, dass einzelne Vertreter dieser Gruppen auf Grund eines günstigen Zusammentreffens von gutem gesundheitlichen Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines Nichtbehinderten erreichen, was namentlich bei körperlich trainierten Doppelunterschenkelamputierten mit Hilfe moderner Orthopädietechnik der Fall sein kann. Derartige Besonderheiten sind jedoch nicht geeignet, den Maßstab zu bestimmen, nach dem sich die Gleichstellung anderer schwerbehinderter Menschen mit dem genannten Personenkreis richtet. Vielmehr hat sich der Maßstab der Gleichstellung an dem der einschlägigen Regelung vorangestellten Obersatz zu orientieren (so BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002, B 9 SB 7/01 R, BSGE 90, 180). Es kommt daher nicht darauf an, ob der das Merkzeichen "aG" beanspruchende schwerbehinderte Mensch funktional einem Doppeloberschenkelamputierten oder Querschnittsgelähmten gleichsteht, sondern ob er sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges wegen der Schwere seines Leidens entweder nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen kann, und zwar praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an. Die Gehfähigkeit muss so stark eingeschränkt sein, dass es dem Betroffenen unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen. Das Bundessozialgericht hat in diesem Zusammenhang zum Ausdruck gebracht, dass die für das Merkzeichen "aG" geforderte große körperliche Anstrengung gegeben sein dürfte, wenn der Betroffene bereits nach einer Wegstrecke von 30 m wegen Erschöpfung eine Pause einlegen muss (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002 a.a.O.).
Die Klägerin ist in ihrem Gehvermögen in so hohem Maße eingeschränkt, dass sich sich nur unter ebenso großen Anstrengungen fortbewegen kann wie der in Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 der VV genannte Personenkreis. Dies hat das Sozialgericht auf der Grundlage des Gutachtens des Sachverständigen Dr. S überzeugend dargelegt. Der Senat folgt den zutreffenden Gründen dessen Entscheidung und sieht nach § 153 Abs. 2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.
Das Vorbringen des Beklagten im Berufungsverfahren rechtfertigt keine andere Entscheidung. Die – trotz des ausdrücklichen Hinweises des Sozialgerichts in angefochtenen Urteil – weiterhin versorgungsärztlich vorgebrachte Auffassung, das Merkzeichen aG setze einen mobilitätsbezogenen GdB von 80 voraus, entspricht nicht der Gesetzeslage.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) und die Zuerkennung des Merkzeichens "außergewöhnliche Gehbehinderung" (aG).
Auf den Feststellungsantrag vom 8. Juli 2011 stellte der Beklagte bei der Klägerin, die 2010 einen Motorradunfall erlitten hatte, mit Bescheid vom 7. Dezember 2011 einen GdB von 30 fest. Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch, worauf der Beklagte das Gutachten des Dr. R vom 5. April 2012 einholte. Auf dessen Grundlage stellte er mit Bescheid vom 24. April 2012 bei der Klägerin einen Grad der Behinderung von 50 und die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens G fest, wies den Widerspruch aber im Übrigen mit Widerspruchsbescheid vom 31. August 2012 zurück, da kein höherer GdB vorliege und auch die Voraussetzungen des Merkzeichens aG nicht erfüllt seien. Hierbei ging er von folgenden Funktionsbeein-trächtigungen aus:
1. Versteifung des oberen Sprunggelenks rechts, Versteifung des unteren Sprunggelenks rechts, Funktionsbehinderung des rechten Fußes, Funktionsstörung durch Zehenfehlform rechts, arterielle Verschlusskrankheit des Beines rechts, außergewöhnliche Schmerzreaktion (darin sind Arbeitsunfallfolgen enthalten) (Einzel-GdG 50), 2. Migräne (Einzel-GdB 10).
Mit der Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat die Klägerin zunächst einen GdB von mindestens 80 und das Merkzeichen aG begehrt.
Das Sozialgericht hat neben Befundberichten das Gutachten des Arztes für Chirurgie Dr. Sch vom 29. Mai 2013 mit ergänzender Stellungnahme vom 16. August 2013 eingeholt, der ausgeführt hat, dass der GdB für die orthopädischen Leiden 60 betrage und die Voraussetzungen den Merkzeichens aG gegeben seien, und zwar jeweils ab Juli 2011. Hierbei hat der Sachverständige auf orthopädischem Fachgebiet folgende Funktionsbeeinträchtigungen ermittelt:
- außerordentliche Schmerzhaftigkeit des rechten Unterschenkels und Fußes nach Trauma mit Knochenbrüchen und ausgeprägten Haut-Weichteilverlust, - schmerzhafte Restbeweglichkeit des oberen und unteren Sprunggelenks bei post-traumatischer Arthrose mit Talusnekrose, - noch liegendes störendes Osteosynthesematerial mit neuralgiformen Schmerzen, - schmerzhaftes Narbengewebe mit funktioneller Behinderung von Muskeln und Sehnen am Fuß, - traumatisch bedingte Minderdurchblutung des rechten Fußes.
Ferner hat das Sozialgericht von der Berufsgenossenschaft für Handel und Warendistribution das Zusammenhangsgutachten der Ärztin für Psychiatrie G vom 23. April 2014 beigezogen, die das psychische Leiden der Klägerin mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 bewertet hat.
Mit Urteil vom 3. Juni 2014 hat das Sozialgericht Berlin den Beklagten zur Feststellung eines GdB von 70 sowie der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens aG verpflichtet und die Klage im Übrigen abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Sachverständige Dr. S habe umfassend, in sich schlüssig und für den medizinischen Laien nachvollziehbar dargelegt, dass für den orthopädischen Behinderungskomplex ein GdB von 60 zu vergeben sei. Auf der Grundlage des Gutachtens der Psychiaterin G sei für die Funktionseinschränkungen der Klägerin im psychischen Bereich ein Einzel-GdB von 20 anzusetzen, der nach der Überzeugung der Kammer den GdB für den orthopädischen Bereich um einen Zehnergrad auf 70 erhöhe. Auch seien die versorgungsärztlichen Einwendungen nicht geeignet, die aus den Erkenntnissen des Sachverständigen gewonnene Überzeugung der Kammer zu erschüttern, dass bei der Klägerin die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG vorlägen. Insbesondere verkenne die Versorgungsärztin Hinkel, dass das Merkzeichen aG (neben der Schwerbehinderteneigenschaft) keinen Mindest-GdB mehr voraussetze. Zu dem hier entscheidungserheblichen Tatbestands-merkmal der Gleichstellung mit dem ausdrücklich genannten Personenkreis der Berechtigten verhalte sich die Versorgungsärztin überhaupt nicht.
Mit der Berufung wendet der Beklagten sich gegen diese Entscheidung. Er ist unter Bezugnahme auf versorgungsärztliche Stellungnahmen der Ansicht, dass bei der Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG nicht vorlä-gen. Auch bestehe bei ihr kein höherer GdB als 50.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 3. Juni 2014 zu ändern und die Klage im vollen Umfang abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Beklagten wird nach § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Beschluss zurückgewiesen, da der Senat sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
Das Urteil des Sozialgerichts ist nicht zu beanstanden.
1. Die Klägerin hat Anspruch auf Feststellung eines GdB von 70.
Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Heranzuziehen sind hierbei die in der Anlage zur Versor-gungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze".
Diesen Vorgaben entsprechend hat das Sozialgericht auf der Grundlage der Gutachten des Chirurgen Dr. S und der Psychiaterin G überzeugend dargelegt, dass der Gesamt-GdB bei der Klägerin 70 beträgt.
Das Vorbringen des Beklagten im Berufungsverfahren rechtfertigt keine andere Entscheidung. Entgegen der versorgungsärztlichen Ansicht mangelt es an keiner "plausiblen" Begründung des Sachverständigen Dr. S für die Bewertung der orthopädischen Leiden mit einem GdB von 60. Der Gutachter hat ausdrücklich auf die außer-gewöhnliche Schmerzhaftigkeit des rechten Unterschenkels und Fußes nach dem Trauma mit Knochenbrüchen und ausgeprägtem Haut- und Weichteilverlust hingewiesen. Eine durchgreifende Verbesserung der orthopädischen Funktionsbeeinträchtigungen kann der Senat dem psychiatrischen Gutachten nicht entnehmen. Die von dem Sozialgericht vorgenommene Bewertung des psychischen Leidens, die von der Sachverständigen G als leichtere behindernde Störung eingeschätzt worden ist, mit einem Einzel-GdB von 20 entspricht den Vorgaben in Teil B Nr. 3.7 der Anlage zur VersMedV. Die mit der Berufung vorgebrachte Einschätzung, die seelische Erkrankung sei im orthopädischen Hauptleiden bereits mit erfasst, teilt der Senat schon deshalb nicht, weil die Berufsgenossenschaft Handel und Warendistribution auf Grund der Darlegungen der Psychiaterin G eine Dauergenehmigung für die Durchführung einer notwendigen laufenden Traumatherapie erteilt hat.
Liegen – wie hier – mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach Teil A Nr. 3c der Anlage zur VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird. Bei der Klägerin ist der Gesamt-GdB danach mit 70 festzusetzen. Der GdB von 60 für die orthopädischen Funktionsbeeinträchtigungen ist unter Berücksichtigung des mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewertenden psychischen Leidens um einen Zehnergrad auf einen Gesamt-GdB von 70 heraufzusetzen, der nach Überzeugung des Senats die Gesamtauswirkungen der Beeinträchtigungen angemessen abbildet.
2. Die Klägerin hat auch Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG.
Anspruchsgrundlage für das Begehren der Klägerin ist § 69 Abs. 4 des IX. Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IX). Danach stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden auch das Vorliegen gesundheitlicher Merkmale fest, soweit sie Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind.
Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung) und die den von der Klägerin begehrten Zugang zu straßenverkehrsrechtlichen Parkerleichterungen eröffnet. Als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind nach Nr. 11 der zu § 46 Straßen-verkehrsordnung erlassenen allgemeinen Verwaltungsvorschrift (VV) solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Dop-pelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind (siehe hierzu auch Nr. 31 der AHP bzw. Teil D Nr. 3 (S. 115f.) der Anlage zur VersMedV).
Eine derartige Gleichstellung setzt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) voraus, dass die Gehfähigkeit des Betroffenen in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 der VV aufgeführten Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (Urteil vom 11. März 1998, B 9 SB 1/97 R, BSGE 82, 37). Zwar handelt es sich bei den beispielhaft aufgeführten schwerbehinderten Menschen mit Querschnittslähmung oder Gliedmaßenamputationen in Bezug auf ihr Gehvermögen nicht um einen homogenen Personenkreis, so dass es möglich ist, dass einzelne Vertreter dieser Gruppen auf Grund eines günstigen Zusammentreffens von gutem gesundheitlichen Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines Nichtbehinderten erreichen, was namentlich bei körperlich trainierten Doppelunterschenkelamputierten mit Hilfe moderner Orthopädietechnik der Fall sein kann. Derartige Besonderheiten sind jedoch nicht geeignet, den Maßstab zu bestimmen, nach dem sich die Gleichstellung anderer schwerbehinderter Menschen mit dem genannten Personenkreis richtet. Vielmehr hat sich der Maßstab der Gleichstellung an dem der einschlägigen Regelung vorangestellten Obersatz zu orientieren (so BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002, B 9 SB 7/01 R, BSGE 90, 180). Es kommt daher nicht darauf an, ob der das Merkzeichen "aG" beanspruchende schwerbehinderte Mensch funktional einem Doppeloberschenkelamputierten oder Querschnittsgelähmten gleichsteht, sondern ob er sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges wegen der Schwere seines Leidens entweder nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen kann, und zwar praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an. Die Gehfähigkeit muss so stark eingeschränkt sein, dass es dem Betroffenen unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen. Das Bundessozialgericht hat in diesem Zusammenhang zum Ausdruck gebracht, dass die für das Merkzeichen "aG" geforderte große körperliche Anstrengung gegeben sein dürfte, wenn der Betroffene bereits nach einer Wegstrecke von 30 m wegen Erschöpfung eine Pause einlegen muss (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002 a.a.O.).
Die Klägerin ist in ihrem Gehvermögen in so hohem Maße eingeschränkt, dass sich sich nur unter ebenso großen Anstrengungen fortbewegen kann wie der in Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 der VV genannte Personenkreis. Dies hat das Sozialgericht auf der Grundlage des Gutachtens des Sachverständigen Dr. S überzeugend dargelegt. Der Senat folgt den zutreffenden Gründen dessen Entscheidung und sieht nach § 153 Abs. 2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.
Das Vorbringen des Beklagten im Berufungsverfahren rechtfertigt keine andere Entscheidung. Die – trotz des ausdrücklichen Hinweises des Sozialgerichts in angefochtenen Urteil – weiterhin versorgungsärztlich vorgebrachte Auffassung, das Merkzeichen aG setze einen mobilitätsbezogenen GdB von 80 voraus, entspricht nicht der Gesetzeslage.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
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