L 3 SB 319/14

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 4 SB 3567/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 SB 319/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 16. Dezember 2013 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Klägers im Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Feststellung des Merkzeichens "erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr" (G) streitig.

Der Beklagte hatte bei dem am 07.01.1953 geborenen Kläger zuletzt unter Zugrundelegung der versorgungsärztlichen Stellungnahme der Dr. A. vom 07.04.2010, in der als Funktionsbeeinträchtigungen eine koronare Herzkrankheit, eine Stentimplantation und ein Bluthochdruck mit einem Einzel-GdB von 30, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen, ein Schulter-Arm-Syndrom und ein Bandscheibenschaden mit einem Einzel-GdB von 20, ein Schlafapnoe-Syndrom und ein hyperreagibles Bronchialsystem mit einem Einzel-GdB von 10 sowie eine Depression mit einem Einzel-GdB von 30 berücksichtigt und der Gesamt-GdB mit 60 beurteilt worden waren, mit Bescheid vom 09.04.2010 den GdB mit 60 seit 04.12.2009 festgestellt und die Feststellung des Merkzeichens G abgelehnt.

Der Kläger beantragte am 12.07.2010 die Neufeststellung seines GdB und die Feststellung des Merkzeichens G. Nach Einholung des Befundberichts von Dr. B. vom 22.07.2010 und der versorgungsärztlichen Stellungnahme der Ärztin Streich vom 10.08.2010, in der diese als zusätzliche Funktionsbeeinträchtigung eine Funktionsbehinderung beider Kniegelenke mit einem Einzel-GdB von 10 berücksichtigte und den Gesamt-GdB weiterhin mit 60 bewertete, lehnte der Beklage den Antrag mit Bescheid vom 18.08.2010 ab. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17.09.2010 zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 05.10.2010 Klage zum Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben.

Das SG hat zunächst die in einem auf die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung gerichteten Klageverfahren eingeholten Gutachten des Neurologen und Psychiaters C. vom 31.01.2010 und des Allgemeinmediziners, Psychiaters und Psychotherapeuten D. vom 21.06.2010 beigezogen. Der Gutachter C. hatte dargelegt, auf psychiatrischem Fachgebiet lasse sich nur die Verdachtsdiagnose einer Anpassungsstörung stellen. Insbesondere ließen sich keine die Wegfähigkeit des Klägers einschränkenden Leiden feststellen. Der Kläger habe in der Untersuchungssituation ein kleinschrittiges vornübergebeugtes Gangbild mit wechselndem linksseitigem und rechtsseitigem Hinken gezeigt und sei auch mit einem Gehstock angekommen. Außerhalb der Untersuchungssituation habe der Kläger allerdings aufrecht gehen können, Schrittlänge und -tempo hätten sich normalisiert. Es hätten sich beim Kläger keine körperlichen Leiden feststellen lassen, die die Gehfähigkeit einschränken würden. Der Kläger zeige eine beidseits normal ausgeprägte Arm- und Beinmuskulatur. Es finde sich eine normale Beschwielung der Füße. Der Kläger mache regelmäßige Spaziergänge, fahre auch regelmäßig, auch im Winter, bis zu fünf Kilometer Fahrrad. Der Gutachter D. hat auf psychiatrischem Fachgebiet eine gemischte Angst- und depressive Störung, eine depressive Anpassungsstörung, eine derzeit leicht- bis mittelgradige depressive Episode und eine chronische Schmerzstörung mit psychischen und somatischen Anteilen gemischt diagnostiziert. Er hat ferner ausgeführt, die Aussage des Klägers, er führe mit seiner Freundin Spaziergänge durch, stehe zwar im Widerspruch dazu, dass er sich nicht in der Lage sehe, eine Wegstrecke von 500 Metern bewerkstelligen zu können. Bei der Beurteilung müsse aber das subjektive Erleben des Klägers Berücksichtigung finden. Ein täglicher Spaziergang sei etwas anderes als ein unter Druck und zeitlicher Limitierung festgelegter Weg von und zur Arbeit.

Nach Beiziehung des ärztlichen Entlassungsberichts der Frankenklinik Reha-Klinik für Orthopädie und Innere Medizin Bad Kissingen vom 16.03.2011 über eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme vom 15.02.2011 bis zum 08.03.2011 hat das SG den Lungen- und Bronchialheilkundler Dr. E. sowie den Internisten und Kardiologen Dr. F. schriftlich als sachverständige Zeugen gehört. Dr. E. hat in seiner Arztauskunft vom 30.06.2011 unter Beifügung diverser Arztberichte die Ansicht vertreten, auf Grund der koronaren Herzkrankheit, des Hypertonus und der chronischen Bronchitis mit bronchialer Hyperreagibilität sei die Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr so weit herabgesetzt, dass der Kläger nicht mehr in der Lage sei, ohne Gefahr für sich und andere Wegstrecken von zwei Kilometern Länge ebenerdig zu Fuß zurückzulegen. Dr. F. hat unter dem 17.08.2011 unter Vorlage diverser Arztberichte ausgeführt, es seien die koronare Herzkrankheit als mittelgradig, die Aortenregurgitation als leichtgradig und die arterielle Hypertonie als mittelgradig einzustufen.

Daraufhin hat das Sozialgericht von Amts wegen das Hauptgutachten des Internisten Dr. G. vom 30.06.2012 samt Zusatzgutachten des Bronchialheilkundlers Dr. I.- H. vom 11.05.2012 eingeholt. Dr. I.- H. hat eine Bodyplethysmographie und eine Ergospirometrie mit dem Laufband inklusive einer Laktat-Analyse durchgeführt und ausgeführt, der Kläger habe nach sechs Minuten insgesamt eine Wegstrecke von 230 Metern zurückgelegt. Er sei dabei teilweise an einem Geländer gehangen, um so seine Beine zu entlasten, so dass die wirkliche Leistung größer sei als die ermittelte Wattzahl. Es sei zu einem adäquaten Anstieg des Sauerstoffpartialdrucks bei normalem Kohlensäurewert-Wert gekommen. Die anaerobe Schwelle sei überschritten worden. Allerdings sei dabei zu berücksichtigen, dass die vom Kläger gezeigten Leistungen durch das Hängen am Geländer einer viel höheren Wattzahl entsprächen, als jetzt die angegebene 40-Watt-Dauerbelastung. Beim Verlassen der Praxis habe der Kläger eine Treppe mit 17 Stufen hochgehen können und anschließend wieder seinen Rollator genutzt. Dr. G. hat ausgeführt, beim Kläger sei eine koronare Herzerkrankung bei Zustand nach nicht transmoralem Herzinfarkt bekannt. Die linksventrikuläre Pumpfunktion sei nach der von Dr. F. durchgeführten Echokardiographie normal, ohne dass sich regionale Wandbewegungsstörungen gefunden hätten. Diese Erkrankung sei mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Das beim Kläger vorliegende Bluthochdruckleiden sei medikamentös im Wesentlichen befriedigend eingestellt und mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten. Das beim Kläger festgestellte Schlafapnoe-Syndrom sei nicht überdruckbeatmungsbedürftig, so dass hierfür in Kombination mit dem festgestellten hyperreagiblen Bronchialsystem ein Einzel-GdB von maximal 10 festzustellen sei. Unter zusätzlicher Berücksichtigung des Gutachtens des Neurologen und Psychiaters C. und der anderweitig angenommenen Ansätze betrage der Gesamt-GdB 30. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen G seien nicht gegeben. Beim Kläger bestünden erhebliche Diskrepanzen zwischen den Einschränkungen der Gehfähigkeit, die vom Kläger im Rahmen der Untersuchungssituation demonstriert worden seien, und seinem Gehverhalten außerhalb der Untersuchungssituation. Im Rahmen der Untersuchungssituation habe sich der Kläger außerstande gesehen, auch nur wenige Schritte innerhalb des Untersuchungszimmers ohne Gehhilfe beziehungsweise Sich-Abstützen zu gehen. Unbeobachtet auf der Straße habe er ein normales Gehtempo absolviert. Ferner sei die in der Untersuchungssituation demonstrierte eingeschränkte Gehfähigkeit nicht konsistent gewesen.

Zu diesen Gutachten hat der Kläger ausgeführt, die Sachverständigen hätten sich ihm gegenüber pflichtwidrig verhalten, so dass er deren Unparteilichkeit bezweifle. Hierzu hat Dr. G. unter dem 17.11.2012 Stellung genommen. Ferner hat Dr. I.- H. unter dem 23.11.2012 ausgeführt, während der Laufbanduntersuchung sei beim Kläger weder die Herzfrequenz unter Belastung angestiegen noch seien die Atemreserven erschöpft worden, so dass aus kardiopulmonaler Sicht tatsächlich davon auszugehen sei, dass der Kläger höhergradiger belastbar gewesen sei. Sodann hat der Kläger eine Erklärung seiner Lebensgefährtin vorgelegt, worin ausgeführt worden ist, dass er nach der Untersuchung bei Dr. I.- H. und Heraufgehen einer Treppe außer Atem gewesen sei und am ganzen Körper gezittert habe. Ferner könne sich der Kläger außerhalb der Wohnung nur mit einem Rollator fortbewegen. Dabei müsse er etwa alle fünf bis zehn Minuten regelmäßig Sitzpausen machen.

Mit Gerichtsbescheid vom 16.12.2013 hat das SG die Klage abgewiesen. Es hat sich dabei auf die Gutachten des Dr. G. und des Dr. I.- H. gestützt.

Gegen den ihm am 23.12.2013 zugestellten Gerichtsbescheid des SG hat der Kläger am 23.01.2014 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Er vertritt weiterhin die Ansicht, die Sachverständigen seien nicht unparteilich gewesen. Der auf die Feststellung eines höheren Gesamt-GdB als 60 gerichtete Antrag werde aber nicht mehr weiterverfolgt.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 16. Dezember 2013 und den Bescheid des Beklagten vom 18. August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. September 2010 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, das Merkzeichen G festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der medizinische Sachverhalt sei vom SG zutreffend gewürdigt worden. Ergänzend werde darauf hingewiesen, dass nicht nur Dr. G. und Dr. von H. Verdeutlichungsverhalten aufgefallen seien, sondern Ähnliches auch in den für das Rentenverfahren erstellten Gutachten der Ärzte C. und D. beschrieben werde.

Der Berichterstatter hat den Rechtsstreit mit den Beteiligten am 18.03.2015 erörtert. Sie haben sich in diesem Termin übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß §§ 143 und 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte, nach § 151 Abs. 2 SGG form- und fristgerechte sowie auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet.

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist die Aufhebung des Gerichtsbescheids des SG vom 16.12.2013, mit dem die Klage des Klägers gegen den Bescheid des Beklagten vom 18.08.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.09.2010 abgewiesen worden ist. Der Kläger erstrebt, nachdem er sein ursprünglich auch auf die Feststellung eines höheren GdB gerichtetes Begehren nicht mehr weiterverfolgt, nur noch die Abänderung dieses Bescheides und die Verpflichtung des Beklagten, bei ihm das Merkzeichen G festzustellen. Dieses prozessuale Ziel verfolgt der Kläger zulässigerweise gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG mit der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage.

Die Berufung ist nicht begründet, da der Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung des Merkzeichens G hat.

Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch des Klägers auf Feststellung von Merkzeichen sind § 2 Abs. 1 in Verbindung mit § 69 Abs. 4 und 5, § 145 Abs. 1 sowie § 146 Abs. 1 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX).

Nach § 2 Abs. 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Aus dieser Definition folgt, dass für die Feststellung einer Behinderung sowie Einschätzung ihres Schweregrades nicht das Vorliegen eines regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustandes entscheidend ist, sondern es vielmehr auf die Funktionsstörungen ankommt, die durch einen regelwidrigen Zustand verursacht werden. Nach § 69 Abs. 4 SGB IX treffen auf Antrag des behinderten Menschen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden, wenn neben dem Vorliegen einer Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind, die erforderlichen Feststellungen. Nach § 69 Abs. 5 SGB IX stellen auf Antrag des behinderten Menschen die zuständigen Behörden auf Grund einer Feststellung der Behinderung einen Ausweis über die gesundheitlichen Merkmale aus.

Zu diesen Merkmalen gehört auch das Merkzeichen G. Nach § 145 Abs. 1 SGB IX werden schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind, von Unternehmern, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 69 Abs. 5 SGB IX im Nahverkehr im Sinne des § 147 Abs. 1 SGB IX unentgeltlich befördert. In seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.

Der seit dem 01.01.2009 an die Stelle der bis zum 31.12.2008 im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung als antizipierte Sachverständigengutachten angewandten Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX) 2008" (AHP) getretenen Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG vom 10.12.2008 - BGBl. I. S. 2412 (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV) ließen sich bislang im Ergebnis keine weiteren Beurteilungskriterien für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des begehrten Merkzeichens G entnehmen. Denn die VG waren hinsichtlich der getroffenen Regelungen für die nach dem Schwerbehindertenrecht zu beurteilenden Nachteilsausgleiche "Berechtigung für eine ständige Begleitung" (B), G, "außergewöhnliche Gehbehinderung" (aG), "Gehörlosigkeit" (Gl) und "Blindheit" (Bl) als unwirksam anzusehen, da es insoweit an einer gesetzlichen Verordnungsermächtigung fehlte. Eine solche Ermächtigung fand sich nämlich - mit Ausnahme des Merkzeichens "Hilflosigkeit" (H) - weder in § 30 Abs. 17 BVG in der Fassung bis zum 30.06.2011 beziehungsweise § 30 Abs. 16 BVG in der Fassung ab 01.07.2011 (BGBl. I S. 2904) noch in sonstigen Regelungen des BVG oder des SGB IX (Beschluss des Senats vom 15.12.2014 - L 3 SB 3922/13, Urteil des Senats vom 28.05.2013 - L 3 SB 5383/12 - juris; Urteile des LSG Baden-Württemberg vom 09.06.2011 - L 6 SB 6140/09, vom 09.05.2011 - L 8 SB 2294/10, vom 04.11.2010 - L 6 SB 2556/09, vom 24.09.2010 - L 8 SB 4533/09 und vom 14.08.2009 - L 8 SB 1691/08; alle veröffentlicht in juris, Dau, jurisPR-SozR 4/2009, Anm. 4). Dies hat sich zwar mit Wirkung ab dem 15.01.2015 (BGBl. II S. 15) mit Einführung des § 70 Abs. 2 SGB IX geändert. Danach wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des GdB und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Jedoch hat der Gesetzgeber von dieser Verordnungsermächtigung noch keinen Gebrauch gemacht. Allerdings hat der Gesetzgeber mit Wirkung ab dem 15.01.2015 (BGBl. II S. 15) in § 159 Abs. 7 SGB IX eine Übergangsregelung erlassen. Danach sollen, soweit noch keine Verordnung nach § 70 Abs. 2 SGB IX erlassen ist, die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend gelten. Der Senat lässt es offen, ob der Gesetzgeber damit wirksam und in Übereinstimmung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen für die mit Wirkung zum 01.01.2009 erlassene VersMedV - quasi nachträglich - eine Verordnungsermächtigung hat schaffen können. Der Senat stellt daher auf die von der Rechtsprechung für die Feststellung des Merkzeichens G entwickelten Kriterien ab, zumal ein Abstellen auf die VersMedV zu keinem für den Kläger günstigeren Ergebnis führen würde.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sind als üblicherweise noch zu Fuß zurückzulegende Wegstrecken im Ortsverkehr im Sinne des § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX, ohne Berücksichtigung von geographischen Besonderheiten im Einzelfall, Wegstrecken von bis zu zwei Kilometern mit einer Gehdauer von etwa 30 Minuten anzusehen (BSG, Urteil vom 10.12.1987 - 9a RVs 11/87 - juris; BSG, Urteil vom 13.08.1997 - 9 RVS 1/96 - juris).

An einer das Merkzeichen G rechtfertigenden Einschränkung der Gehfähigkeit leidet der Kläger nicht. Denn es trifft nicht zu, dass der Kläger Wegstrecken im Ortsverkehr von bis zu zwei Kilometern mit einer Gehdauer von etwa 30 Minuten infolge einer Einschränkung des Gehvermögens ohne erhebliche Schwierigkeiten oder ohne Gefahren für sich oder andere nicht zurückzulegen vermag. Dies entnimmt der Senat den aktenkundigen ärztlichen Unterlagen, insbesondere den versorgungsärztlichen Stellungnahmen der Dr. A. und der Ärztin Streich, den in einem auf die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung gerichteten Klageverfahren eingeholten Gutachten des Neurologen und Psychiaters C. und des Allgemeinmediziners, Psychiaters und Psychotherapeuten D. sowie den vom SG von Amts wegen eingeholten Hauptgutachten des Internisten Dr. G. samt Zusatzgutachten des Bronchialheilkundlers Dr. I.- H ...

Danach leidet der Kläger auf psychiatrischem Fachgebiet nach den Ausführungen des Gutachters C. allenfalls an einer Anpassungsstörung und nach der Einschätzung des Gutachters D. an einer gemischten Angst- und depressiven Störung, einer depressiven Anpassungsstörung, einer leicht- bis mittelgradigen depressive Episode und einer chronischen Schmerzstörung mit psychischen und somatischen Anteilen gemischt, auf internistischem Fachgebiet nach den Ausführungen der Gutachter Dr. G. und Dr. I.- H. an einer mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewertenden koronaren Herzerkrankung bei Zustand nach nicht-transmoralem Herzinfarkt bei normaler linksventrikulärer Pumpfunktion ohne regionale Wandbewegungsstörungen, einem mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewertenden medikamentös im Wesentlichen befriedigend eingestellten Bluthochdruckleiden, einem mit einem Einzel-GdB von maximal 10 zu bewertenden nicht überdruckbeatmungsbedürftigen Schlafapnoe-Syndrom in Kombination mit einem hyperreagiblen Bronchialsystem sowie auf orthopädischem Fachgebiet nach den versorgungsärztlichen Stellungnahmen der Dr. A. und der Ärztin Streich an mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewertenden degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule mit Nervenwurzelreizerscheinungen, Schulter-Arm-Syndrom und Bandscheibenschaden sowie einer mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewertenden Funktionsbehinderung beider Kniegelenke.

Dass der Kläger objektiv betrachtet in der Lage ist, zu Fuß zwei Kilometer in 30 Minuten zurückzulegen, ergibt sich zunächst aus den eindrucksvollen Angaben des Gutachters C., der keine die Wegfähigkeit einschränkenden Leiden hat feststellen können. Er hat eine beidseits normal ausgeprägte Arm- und Beinmuskulatur sowie normale Beschwielung der Füße beschrieben und dargelegt, dass der Kläger nach seinen Angaben regelmäßige Spaziergänge macht und auch regelmäßig, auch im Winter, bis zu fünf Kilometer Fahrrad fährt. Das vom Kläger in der Untersuchungssituation gezeigte kleinschrittige vornübergebeugte Gangbild mit wechselndem linksseitigem und rechtsseitigem Hinken steht im Widerspruch zu dem Umstand, dass der Kläger außerhalb der Untersuchungssituation hat aufrecht und in normalisierender/m Schrittlänge und -tempo gehen können. Auch der Gutachter D. hat ausgeführt, dass der Kläger nach eigener Aussage mit seiner Freundin Spaziergänge durchführt. Das Gutachten des Dr. G. samt Zusatzgutachten des Dr. I.- H. hat die Beschreibung und Bewertung des Gutachters C. vollumfänglich bestätigt. Sehr aufschlussreich sind dabei die Angaben des Dr. I.- H., der das Gehvermögen des Klägers nach Durchführung einer Bodyplethysmographie und einer Ergospirometrie mit dem Laufband inklusive einer Laktat-Analyse objektiviert hat. Dabei ist der Kläger in der Lage gewesen, in sechs Minuten eine Wegstrecke von 230 Metern zurückzulegen, wobei es zu einem adäquaten Anstieg des Sauerstoffpartialdrucks bei normalem Kohlensäurewert-Wert gekommen ist. Auch ist unter dieser Belastung weder die Herzfrequenz angestiegen, noch sind dabei die Atemreserven erschöpft worden, so dass aus kardiopulmonaler Sicht davon auszugehen ist, dass der Kläger höhergradiger belastbar gewesen wäre. Hinzu kommt die geschilderte Beobachtung, dass der Kläger beim Verlassen der Praxis eine Treppe mit 17 Stufen hat hochgehen können. Auch Dr. G. hat beim Kläger erhebliche Diskrepanzen zwischen den vom Kläger im Rahmen der Untersuchungssituation demonstrierten - ohne nicht konsistenten - Einschränkungen der Gehfähigkeit und seinem Gehverhalten außerhalb der Untersuchungssituation ausgemacht. So hat sich der Kläger im Rahmen der Untersuchungssituation außerstande gesehen, auch nur wenige Schritte innerhalb des Untersuchungszimmers ohne Gehhilfe beziehungsweise Sich-Abstützen zu gehen, während er unbeobachtet auf der Straße ein normales Gehtempo absolviert hat. Damit haben sich die bereits vom Gutachter C. gemachten Beobachtungen durch das Hauptgutachten des Dr. G. samt Zusatzgutachten des Dr. I.- H. bestätigt, so dass der Senat keinen Anlass hat, an deren Darlegungen und Bewertungen zu zweifeln. Insbesondere hat der Senat keine Anhaltspunkte dafür, an deren Unparteilichkeit zu zweifeln. Vor allem die von Dr. I.- H. dargelegten objektiven Parameter bestätigen eine in Bezug auf das Merkzeichen G noch ausreichende Gehfähigkeit des Klägers. Selbst wenn der Kläger, so wie es seine Lebensgefährtin dargestellt hat, nach der Untersuchung bei Dr. I.- H. und Heraufgehen einer Treppe außer Atem gewesen sein und am ganzen Körper gezittert haben sollte, so steht dies nicht im Widerspruch zu der bloßen Angabe des Sachverständigen, dass der Kläger in der Lage gewesen ist, die Treppenstufen zu bewältigen.

Die aus den Erkrankungen des Klägers resultierenden Einschränkungen erreichen somit nicht das Ausmaß, das für die Feststellung des Merkzeichens G erforderlich ist.

Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Danach waren die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens nicht zu erstatten.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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