Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 14 SB 790/12
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 SB 752/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 15. Januar 2013 aufgehoben. Der Beklagte wird unter entsprechender Abänderung des Bescheids vom 06. Oktober 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. Februar 2012 verurteilt, bei der Klägerin Grade der Behinderung von 30 (dreißig) ab dem 12. Juli 2011 und von 40 (vierzig) ab dem 01. September 2012 festzustellen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen und wird die Berufung zurückgewiesen.
2. Der Beklagte erstattet der Klägerin ein Drittel der außergerichtlichen Kosten beider Instanzen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Zuerkennung eines höheren Grades der Behinderung (GdB).
Die am 16.02.1964 geborene Klägerin beantragte erstmals am 12.07.2011 beim Landratsamt Ostalbkreis (LRA) als Versorgungsamt die Feststellung ihres GdB. Das LRA zog Befundberichte der behandelnden Ärzte bei. Daraus ist ersichtlich, dass bei ihr am 07.05.2002 eine subtotale Schilddrüsenresektion rechts vorgenommen worden war. Wegen einer seinerzeit mittelgradigen rezidivierenden depressiven Störung war sie unter anderem vom 05.02.2008 bis zum 18.03.2008 stationär im Klinikum Stuttgart behandelt worden (Bericht von Dr. A.-Henn vom 27.03.2008), dabei waren zusätzlich ein chronischer Cannabis-Missbrauch und ein chronischer Nikotin-Missbrauch sowie eine Hyperhidrosis (übermäßiges Schwitzen) diagnostiziert worden. Ferner war bei einer Magnetresonanztomographie (MRT) der Lendenwirbelsäule (LWS) eine leichtgradige Chondrose in den Bereichen L3/4 und L5/S1 sowie schwere aktivierte Spondylarthrosen bei L4/5 und L5/S1 beidseits mit mäßigen bilateralen neuroforaminalen Stenosen und Rezessus-Stenosen festgestellt worden (Bericht der Radiologin Dr. E. vom 12.07.2011 ). Gestützt auf die versorgungsärztliche Auswertung dieser Berichte, die für eine Depression, die Hyperhidrosis, einen Z.n. Schilddrüsenoperation und für degenerative Veränderungen der Wirbelsäule Einzel-GdB-Werte von je 10 vorschlug, lehnte das LRA den Antrag mit Bescheid vom 06.10.2011 ab, weil keine Erkrankungen vorlägen, die einen GdB von insgesamt mindestens 20 bedingten.
Im Vorverfahren führte die Klägerin aus, dass die psychische Erkrankung nicht ausreichend gewürdigt worden sei. Sie leide unter Schlafstörungen und einer permanenten Erschöpfungssymptomatik. Auch die orthopädischen Beschwerden seien nicht umfassend beachtet worden. Das LRA zog daraufhin weitere Befundberichte bei. Auf psychiatrischem Gebiet teilte Dr. A. unter dem 16.11.2011 mit, die Klägerin leide unter einer rezidivierenden depressiven Störung, derzeit mittelgradig ausgeprägt. Sie zeige eine deutliche Antriebsstörung mit Morgentief und rascher Erschöpfung. Die soziale Integration sei mittelgradig beeinträchtigt. Dr. B. berichtete mit Schreiben vom 18.11.2011, von orthopädischer Seite bestehe eine Lumbo-Ischialgie mit Wurzelreiz beidseits. Daraufhin erließ das Landesversorgungsamt des beklagten Landes den Teil-Abhilfe- und Widerspruchsbescheid vom 21.02.2012, mit dem es den GdB ab dem 20.07.2011 mit 20 feststellte und den Widerspruch der Klägerin im Übrigen zurückwies. Die zu Grunde liegende versorgungsärztliche Stellungnahme hatte nunmehr die Depression mit einem GdB von 20 bewertet, die übrigen Beeinträchtigungen mit GdB-Werten von unter 10.
Am 07.03.2012 hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Ulm erhoben. Sie hat unter anderem vorgetragen, ihre psychische Erkrankung habe sich während des Verfahrens verschlimmert.
Nachdem der Beklagte der Klage entgegengetreten war, hat das SG zunächst die behandelnden Ärzte der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen vernommen. Dr. A. hat unter dem 26.04.2012 bekundet, die Klägerin leide an einer rezidivierenden depressiven Störung, zuletzt mittelgradig. Er habe sie zunächst alle vier Wochen behandelt und sehe sie aktuell alle zwei Monate. Es sei zwischenzeitlieh zu einer Teilremission der depressiven Symptomatik gekommen, es bestehe nur noch eine leichte Beeinträchtigung. Mit der letzten versorgungsärztlichen Stellungnahme stimme er überein. Der Orthopäde Dr. B. hat am 02.05.2012 ausgesagt, die Klägerin leide unter einer Lumboischialgie mit Wurzelreizung am Segment L5 beidseits, die einen GdB von 20 bedinge. Allgemeinmediziner Dr. C. hat unter dem 14.05.2012 angegeben, es beständen erhebliche Schmerzen im Bereich des gesamten Bewegungsapparates. Es liege ein ausgeprägtes Wirbelsäulensyndrom vor. Es könne sich auch um ein entstehendes Fibromyalgie-Syndrom handeln. Zudem lägen immer wieder erhebliche Erschöpfungszustände vor. Es bestehe eine schwere Depression mit ausgeprägter Somatisierungstendenz, die das gesamte Krankheitsbild überlagere. Den GdB schätze er auf 60.
In Reaktion hierauf hat der Beklagte die versorgungsmedizinische Stellungnahme von Dr. Pöschl vom 03.08.2012 vorgelegt. Dieser ist darin weiterhin von einem Gesamt-GdB von 20 ausgegangen, der sich aus zwei Teil-GdB-Werten von jeweils 20 für die Funktionsbehinderung und degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule mit Nervenwurzelreizerscheinungen sowie für die Depression ergebe.
Mit Gerichtsbescheid vom 15.01.2013 hat das SG die Klage abgewiesen. Es hat die rechtlichen Grundlagen der Zuerkennung eines GdB und der Bestimmung des konkreten GdB dargelegt und sich in der Sache der Ansicht des Beklagten in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 03.08.2012 angeschlossen. Diese Einschätzung werde durch die Aussagen von Dr. A. und Dr. B. bestätigt. Die Aussage von Dr. C. sei nur teilweise nachzuvollziehen. Er habe keine gesicherten Diagnosen angegeben; seine Mutmaßungen wegen des Fibromyalgiesyndroms würden von den Fachärzten nicht geteilt. Ferner sei die depressive Erkrankung entgegen seiner Aussage nicht als schwer einzustufen, wie Dr. A. angegeben habe. Die weiteren Erkrankungen, die auch Dr. C. angegeben habe, nämlich anämische Zustände, der Z.n. Entfernung von Gallensteinen, die Hyperhidrosis und der Z.n. Schilddrüsenoperation, bedingten keine GdB-Werte.
Gegen diesen Gerichtsbescheid, der ihrem Prozessbevollmächtigten am 21.01.2013 zugestellt worden ist, hat die Klägerin am 21.02.2013 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Sie trägt vor, Dr. A. habe die Medikation bei der psychiatrischen Behandlung erhöhen müssen. Es beständen massive soziale Schwierigkeiten. Ihr Sohn sei - auf Grund einer ADHS-Erkrankung - bereits in einer Einrichtung untergebracht gewesen und sie leide deswegen unter massiven Schuldgefühlen. Die psychische Erkrankung bedinge einen GdB von 30. Auch die Wirbelsäulenschäden seien höher zu bewerten; jedenfalls sei insgesamt ein GdB von 50 zu bilden.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 15. Januar 2013 aufzuheben und den Beklagten unter weiterer Abänderung des Bescheids vom 06. Oktober 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. Februar 2012 zu verurteilen, einen Grad der Behinderung von 50 zuzuerkennen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt den angegriffenen Gerichtsbescheid und seine Entscheidungen.
Von Amts wegen hat der Senat die Klägerin bei dem Facharzt für Psychiatrie und Neurologie Dr. D. begutachten lassen. Dieser Sachverständige hat in seinem schriftlichen Gutachten vom 15.01.2014 ausgeführt, bei der Klägerin bestehe auf seinem Fachgebiet eine chronische Depression fluktuierenden Ausmaßes, die zurzeit mittelgradig ausgeprägt sei. Daneben bestehe eine eigene orthopädische Problematik, wenngleich sich die chronischen Rückenschmerzen im Rahmen der depressiven Erkrankung verschlechtern könnten. Die Klägerin habe 2013 gemerkt, dass sie begonnen habe, auch ein Alkoholproblem zu entwickeln. Nach der Behandlung in der Tagesklinik habe sie die Partnerschaft zu einem alkoholkranken Mann beendet. Sie sei jetzt auch wieder kreativ, könne töpfern, malen und basteln. Sie gehe viel spazieren. Sie bekomme Schwindelanfälle. Zwei Wochen vor der Begutachtung sei eine transitorische Amnesie aufgetreten. Sie müsse häufig weinen, auch wegen ihres jetzt 15-jährigen Sohnes, der an ADHS leide und deswegen zurzeit medikamentös behandelt werde, aber häufig austicke, impulsiv und aggressiv gegen andere sei. Sie sei immer sehr schüchtern gewesen, auch schon in der Schule. Ihr Sohn manipuliere sie massiv. Zur Bewertung hat Dr. D. ausgeführt, nach der eventuellen, von Dr. A. angegebenen Remissionsphase müsse die ab September 2012 wieder bestehende mittelgradige Depression einen GdB von 30 bedingen. Der weitere GdB-Wert von 20 sei nicht unberücksichtigt zu lassen, da tatsächlich eine somatische Störung vorliege. Insgesamt sei ein GdB von 40 angemessen. Dr. D. hat ferner den von ihm verwerteten Entlassungsbericht der Tagesklinik Psychiatrie Schloss Winnenden, Dr. Kaiser, vom 22.05.2013 vorgelegt (Diagnosen: F33.1 und F34.1; Medikation: U.a. Clindasol, Mirtazapin, Trevilor; Stimmung depressiv gedrückt, kaum schwingungsfähig, Ängste und erhöhter Stress; das Beck’sche Depressionsinventar habe bei Aufnahme mit 35 Punkten Hinweise auf eine schwere depressive Episode ergeben).
Der Beklagte ist den Vorschlägen dieses Sachverständigen unter Vorlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. Reiniger vom 01.04.2014 entgegengetreten.
In der Folgezeit hat die Klägerin weitere ärztliche Berichte auf orthopädischem Fachgebiet vorgelegt, auf die Bezug genommen wird.
Der Beklagte hat sich mit Schriftsatz vom 21.10.2014, die Klägerin unter dem 24.04.2015 mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe:
1. Der Senat entscheidet über die Berufung der Klägerin nach § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung, nachdem sich beide Beteiligte mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben.
2. Die Berufung ist statthaft (§ 105 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 143 SGG) und auch im Übrigen zulässig (§ 151 SGG). Sie ist auch teilweise begründet. Auf die zulässigerweise erhobene Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG) war der Beklagte unter weiterer Abänderung des Bescheids vom 06.10.2011 und des Widerspruchsbescheids vom 21.02.2012 zu verurteilen, bei der Klägerin ab Antragstellung einen GdB von 30 und ab September 2012 einen GdB von 40 festzustellen. Im Übrigen ist die Klage unbegründet, weswegen die Berufung insoweit zurückzuweisen ist.
Die rechtlichen Voraussetzungen der Zuerkennung eines GdB nach § 69 Abs. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) und die einzelnen medizinischen Anforderungen an die Bewertung einzelner Behinderungen mit einem GdB sowie die Bildung eines Gesamt-GdB nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG), der Anlage zu § 2 der nach § 30 Abs. 17 Bundesversorgungsgesetz (BVG) erlassenen Versorgungsmedizinverordnung (VersMedV), hat das SG in dem angegriffenen Urteil zutreffend dargelegt. Auf diese Ausführungen wird, auch um Wiederholungen zu vermeiden, verwiesen (§ 153 Abs. 2 SGG). Zu ergänzen ist lediglich, dass sich die Ermächtigungsgrundlage der VG, soweit es um die behindertenrechtlichen Feststellungen geht, mit Wirkung ab dem 15.01.2015 durch die Einführung des § 70 Abs. 2 SGB IX geändert hat und dass die jetzige VersMedV bis zu einer der neuen Ermächtigungsgrundlage entsprechenden Rechtsverordnung des Bundesministers für Arbeit und Soziales anzuwenden ist, vgl. § 159 Abs. 7 SGB IX n.F.
a) Die psychisch bedingten Beeinträchtigungen bewertet der Senat in Übereinstimmung mit dem Gutachten von Dr. D. vom 15.01.2014 für die Zeit seit dem 01.09.2012 mit einem GdB von 30. Für die Zeit davor hatte der Beklagte zu Recht einen GdB von 20 angenommen.
aa) Bei der Klägerin liegt diagnostisch zumindest seit diesem Zeitpunkt wieder eine mittelgradige Episode der vorbestehenden rezidivierenden depressiven Erkrankung (F33.1 nach der ICD-10, der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten der WHO) vor. Diese Diagnose war bei der Klägerin bereits zu Beginn des gesamten aktenkundigen Zeitraums gestellt worden, erstmals in den Berichten des Klinikums Stuttgart, Prof. Dr. A.-Henn, vom 05.12.2007 und vom 27.03.2008. Allerdings hat der behandelnde Psychiater, Dr. A., in seiner Zeugenaussage vom 19.04.2012 von einer "zuletzt mittelgradigen" Episode gesprochen und aktuell eine Teilremission, also eine Besserung, bekundet. Diese Entwicklungen bestätigen, dass eine rezidivierende Erkrankung mit schwankendem Ausmaß der Beeinträchtigungen vorliegt. Auch der Amtsgutachter Dr. D. hat von "fluktuierenden Ausmaßen" gesprochen und dies nachvollziehbar mit der unterschiedlichen Behandlungsintensität, die auch zu (teil)stationären Aufenthalten geführt hatte, begründet.
bb) Entsprechend dieser Diagnose schwanken bei der Klägerin auch die aus der Erkrankung folgenden Funktionsbeeinträchtigungen.
Insoweit sieht Teil B Nr. 3.7 VG für "leichtere psychovegetative oder psychische Störungen" einen GdB von 0 bis 20 vor, während "stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit, z.B. ausgeprägtere depressive Störungen) einen GdB von 30 bis 40 bedingen.
Zumindest ab September 2012 kann bei der Klägerin ein GdB von 30 angenommen werden. In seinem Arztbrief vom 18.09.2012 an den Hausarzt hatte Dr. A. "gegenwärtig" wieder eine "mittelgradige Episode" diagnostiziert und ausgeführt, der Klägerin sei es (nur) im Anschluss an die Behandlung in der Tagesklinik besser gegangen. Er hat auch bereits einige merkliche Einschränkungen beschrieben, nämlich betreffend die Stimmung, die affektive Schwingungsfähigkeit, Angst, Antrieb und Psychomotorik. Ähnliche Einschränkungen vor allem in der psychischen und sozialen Leidensdimension und entsprechend dieselbe Diagnose ergeben sich dann aus dem Entlassungsbericht der Tagesklinik Winnenden, PD Dr. Dr. Kaiser, vom 22.05.2013 über die (erstmals) teilstationäre Behandlung der Klägerin vom 02.04. bis 13.05.2013. Unter Einbeziehung dieser Unterlagen hat auch der Sachverständige Dr. D. die entsprechende Diagnose gestellt; wobei er sogar darauf hingewiesen hat (S. 8 des Gutachtens), dass das Beck’sche Depressionsinventar in Winnenden, das allerdings eine Selbstbeurteilung darstellt, sogar in Richtung einer schweren Depression sprach. Jedenfalls hat auch Dr. D. überzeugend Einschränkungen im Leben der Klägerin beschrieben, die eine wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit im unteren Bereich des dafür vorgesehenen GdB-Rahmens von 30 bis 40 bedingen: Die Klägerin ist durch ihre Lebensumstände, ihre wohl zum Teil überwundenen Suchterkrankungen, das langjährige Zusammenleben mit mehreren ihrerseits suchtkranken Partnern und vor allem durch die Belastungen wegen der Erkrankung ihres Sohnes massiv belastet. Sie beschreibt nachvollziehbar erhebliche Schuldgefühle. Die eingeschränkte Modulationsfähigkeit in der Sprache und die Beeinträchtigungen in der Schwingungsfähigkeit hat auch Dr. D. beschrieben (S. 7 des Gutachtens). Es liegt ein merklicher sozialer Rückzug vor, nachdem die Klägerin ihre letzte Partnerschaft ebenfalls beendet hat: die Klägerin hat bei der Begutachtung berichtet, sie mache zwar auch längere Spaziergänge, diese allerdings allein, und sie gehe nur selten mit - nur - einer Freundin aus. Auch die weiteren Feststellungen Dr. D.s bestätigen die durchaus erheblichen Beeinträchtigungen. Medikamentös wird die Klägerin nunmehr mit zwei Antidepressiva behandelt (Venlafaxin und Mirtazapin), ersteres sogar in mittlerer Dosierung. Sie befindet sich auf der Warteliste für eine zusätzliche ambulante Psychotherapie. Vor diesem Hintergrund fällt es nicht ausschlaggebend ins Gewicht, dass die Klägerin bei Dr. D. auch berichtet hat, sie sei jetzt - in Bezug auf Töpfern, Malen und Basteln - wieder kreativ. Insoweit kann sich der Zustand nach der zweiten Therapie in Winnenden wieder etwas gebessert haben. Aber diese Besserung ging nicht soweit, dass wieder von einer nur leichten psychischen Störung gesprochen werden kann. Dabei berücksichtigt der Senat auch, dass die Klägerin diese Hobbies anscheinend allein ausübt; sie hatte Dr. D. auch mitgeteilt, sie habe "früher" zusammen mit ihrer Tochter gearbeitet.
Für die Zeit vor Dr. A.s erneuter Diagnose einer wieder mittelgradigen Episode im September 2012 kann die Annahme des Beklagten, es habe ein GdB von 20 bestanden, nicht widerlegt werden. Im April jenes Jahres hatte Dr. A. von einer deutlichen Besserung gesprochen.
b) Auf orthopädischem Gebiet schließt sich der Senat der Einschätzung des versorgungsärztlichen Dienstes des Beklagten an. Dr. Reiniger hatte insoweit zuletzt (Stellungnahme vom 03.08.2012) einen GdB von 20 für degenerative Veränderungen der Wirbelsäule mit Nervenwurzelreizungen angenommen.
Ein solcher GdB kann nach Teil B Nr. 18.9 VG für mittelgradige funktionelle Auswirkungen in einem WS-Abschnitt oder für leichte funktionelle Auswirkungen in mindestens zwei Abschnitten angenommen werden.
Bei der Klägerin können in Übereinstimmung mit dem Beklagten mittelgradige Beeinträchtigungen in der Lendenwirbelsäule (LWS) angenommen werden. Dr. E. hatte insoweit bereits unter dem 12.07.2011 unter anderem von "schweren aktivierten" Spondylarthrosen an den Segmenten L4/5 und L5/S1 der LWS berichtet. Die Beeinträchtigungen hieraus hatten sich wohl nicht in erster Linie in Beweglichkeitseinschränkungen geäußert - der behandelnde Orthopäde Dr. B. hat in seiner Zeugenaussage vom 30.04.2012 keine solchen Einbußen mitgeteilt -, sondern überwiegend in chronischen Schmerzen. Insoweit hatte Dr. C. in seiner Zeugenaussage vom 14.05.2012 sogar gemutmaßt, es könne eine Fibromyalgie bestehen. Diese Diagnose ist zwar fachärztlich nicht bestätigt worden, worauf auch das SG in dem angegriffenen Gerichtsbescheid hingewiesen hat. Aber die Diagnose ist für die behindertenrechtliche Bewertung, wie ausgeführt, unerheblich. Die Schmerzen sind verifiziert, alle Behandler haben sie in ihren Berichten aufgenommen. Dr. C. hat dazu die detaillierteste Beschreibung gegeben.
Dagegen sind die Beeinträchtigungen an der Halswirbelsäule (HWS), die - nach Aktenlage erstmals - in dem Arztbrief von Dr. E. vom 04.06.2014 mitgeteilt worden sind, bislang allenfalls als geringfügig eingestuft werden. Von Funktionsbeeinträchtigungen, also Bewegungseinbußen oder radikulären Ausstrahlungen in die oberen Gliedmaßen oder dgl., wird nicht berichtet. Diagnostisch hat Dr. E. weder einen Bandscheibenvorfall noch eine spinale Enge oder eine Myelomalazie (Rückenmarkerweichung) feststellen können.
Dieser GdB besteht, da er allein die lang andauernden Beeinträchtigungen der LWS betrifft, bereits seit Antragstellung.
c) Die weiteren Erkrankungen der Klägerin bedingen keinen GdB von mehr als 10 und sind daher für die Bildung des Gesamt-GdB nicht relevant (Teil A Nr. 3 Buchstabe d Doppelbuchstabe ee Satz 1 VG).
Zum Teil sind diese Erkrankungen nicht aktuell. Insbesondere bedingen die beiden Zustände nach Schilddrüsenoperation und nach Entfernung von Gallensteinen aktuell keinen GdB.
Im Übrigen sind die Funktionsbeeinträchtigungen aus ihnen geringfügig. Hinsichtlich der Hyperhidrosis wird aktuell von keinen Auswirkungen berichtet. Das Gleiche gilt für das Impingementsyndrom der linken Schulter, das Dr. B. in seinem Arztbrief vom 21.07.2014 beschrieben hat, auch weil insoweit bei der bildgebenden Untersuchung in der Praxis von Dr. E. am 13.05.2014 keine erheblichen Schädigungen festgestellt werden konnten.
d) Der Senat ist zu der Überzeugung gelangt, dass entsprechend der Grundregel in Teil A Nr. 3 Buchstabe c VG aus den beiden relevanten Einzel-GdB von jeweils 20 ab Antragstellung sowie von 30 und 20 ab September 2012 ein Gesamt-GdB von zunächst 30 und sodann von 40 zu bilden ist. Ein weiterer Einzel-GdB von 20 führt nach Teil A Nr. 3 Buchstabe d Doppelbuchstabe cc oder Doppelbuchstabe ee Satz 2 VG nicht zu einer Erhöhung, wenn sich die Auswirkungen der verschiedenen Funktionsbeeinträchtigungen (stark) überschneiden oder wenn der GdB von 20 eine "leichte" Beeinträchtigungen betrifft und eine Erhöhung - daher - nicht "gerechtfertigt ist". Diese Ausnahmen liegen hier nicht vor. Zum einen standen bei der Bewertung der psychischen Erkrankung der Klägerin die psychische und auch die soziale Leidensdimension im Vordergrund. Die physische Beeinträchtigung - festgemacht an den chronischen Rückenschmerzen - hat zwar auch Dr. D. bemerkt, aber er hat zutreffend darauf hingewiesen, dass dem - zumindest soweit es um die LWS geht - eine eigene somatische Erkrankung zu Grunde liegt und keine vollständige oder starke Somatisierungsneigung vorliegt. Zum anderen kann die Wirbelsäulenproblematik nicht als leicht eingestuft werden, wenn doch an der LWS erhebliche degenerative Veränderungen bzw. eine starke Einengung des Spinalkanals vorliegen.
2. Die Entscheidung über die Kosten beider Instanzen beruht auf § 193 SGG. Der Senat berücksichtigt dabei vor allem, dass die Klägerin mit ihrem wirtschaftlich wesentlichen Ziel, der Feststellung der Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch, unterlegen ist.
3. Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht ersichtlich.
2. Der Beklagte erstattet der Klägerin ein Drittel der außergerichtlichen Kosten beider Instanzen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Zuerkennung eines höheren Grades der Behinderung (GdB).
Die am 16.02.1964 geborene Klägerin beantragte erstmals am 12.07.2011 beim Landratsamt Ostalbkreis (LRA) als Versorgungsamt die Feststellung ihres GdB. Das LRA zog Befundberichte der behandelnden Ärzte bei. Daraus ist ersichtlich, dass bei ihr am 07.05.2002 eine subtotale Schilddrüsenresektion rechts vorgenommen worden war. Wegen einer seinerzeit mittelgradigen rezidivierenden depressiven Störung war sie unter anderem vom 05.02.2008 bis zum 18.03.2008 stationär im Klinikum Stuttgart behandelt worden (Bericht von Dr. A.-Henn vom 27.03.2008), dabei waren zusätzlich ein chronischer Cannabis-Missbrauch und ein chronischer Nikotin-Missbrauch sowie eine Hyperhidrosis (übermäßiges Schwitzen) diagnostiziert worden. Ferner war bei einer Magnetresonanztomographie (MRT) der Lendenwirbelsäule (LWS) eine leichtgradige Chondrose in den Bereichen L3/4 und L5/S1 sowie schwere aktivierte Spondylarthrosen bei L4/5 und L5/S1 beidseits mit mäßigen bilateralen neuroforaminalen Stenosen und Rezessus-Stenosen festgestellt worden (Bericht der Radiologin Dr. E. vom 12.07.2011 ). Gestützt auf die versorgungsärztliche Auswertung dieser Berichte, die für eine Depression, die Hyperhidrosis, einen Z.n. Schilddrüsenoperation und für degenerative Veränderungen der Wirbelsäule Einzel-GdB-Werte von je 10 vorschlug, lehnte das LRA den Antrag mit Bescheid vom 06.10.2011 ab, weil keine Erkrankungen vorlägen, die einen GdB von insgesamt mindestens 20 bedingten.
Im Vorverfahren führte die Klägerin aus, dass die psychische Erkrankung nicht ausreichend gewürdigt worden sei. Sie leide unter Schlafstörungen und einer permanenten Erschöpfungssymptomatik. Auch die orthopädischen Beschwerden seien nicht umfassend beachtet worden. Das LRA zog daraufhin weitere Befundberichte bei. Auf psychiatrischem Gebiet teilte Dr. A. unter dem 16.11.2011 mit, die Klägerin leide unter einer rezidivierenden depressiven Störung, derzeit mittelgradig ausgeprägt. Sie zeige eine deutliche Antriebsstörung mit Morgentief und rascher Erschöpfung. Die soziale Integration sei mittelgradig beeinträchtigt. Dr. B. berichtete mit Schreiben vom 18.11.2011, von orthopädischer Seite bestehe eine Lumbo-Ischialgie mit Wurzelreiz beidseits. Daraufhin erließ das Landesversorgungsamt des beklagten Landes den Teil-Abhilfe- und Widerspruchsbescheid vom 21.02.2012, mit dem es den GdB ab dem 20.07.2011 mit 20 feststellte und den Widerspruch der Klägerin im Übrigen zurückwies. Die zu Grunde liegende versorgungsärztliche Stellungnahme hatte nunmehr die Depression mit einem GdB von 20 bewertet, die übrigen Beeinträchtigungen mit GdB-Werten von unter 10.
Am 07.03.2012 hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Ulm erhoben. Sie hat unter anderem vorgetragen, ihre psychische Erkrankung habe sich während des Verfahrens verschlimmert.
Nachdem der Beklagte der Klage entgegengetreten war, hat das SG zunächst die behandelnden Ärzte der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen vernommen. Dr. A. hat unter dem 26.04.2012 bekundet, die Klägerin leide an einer rezidivierenden depressiven Störung, zuletzt mittelgradig. Er habe sie zunächst alle vier Wochen behandelt und sehe sie aktuell alle zwei Monate. Es sei zwischenzeitlieh zu einer Teilremission der depressiven Symptomatik gekommen, es bestehe nur noch eine leichte Beeinträchtigung. Mit der letzten versorgungsärztlichen Stellungnahme stimme er überein. Der Orthopäde Dr. B. hat am 02.05.2012 ausgesagt, die Klägerin leide unter einer Lumboischialgie mit Wurzelreizung am Segment L5 beidseits, die einen GdB von 20 bedinge. Allgemeinmediziner Dr. C. hat unter dem 14.05.2012 angegeben, es beständen erhebliche Schmerzen im Bereich des gesamten Bewegungsapparates. Es liege ein ausgeprägtes Wirbelsäulensyndrom vor. Es könne sich auch um ein entstehendes Fibromyalgie-Syndrom handeln. Zudem lägen immer wieder erhebliche Erschöpfungszustände vor. Es bestehe eine schwere Depression mit ausgeprägter Somatisierungstendenz, die das gesamte Krankheitsbild überlagere. Den GdB schätze er auf 60.
In Reaktion hierauf hat der Beklagte die versorgungsmedizinische Stellungnahme von Dr. Pöschl vom 03.08.2012 vorgelegt. Dieser ist darin weiterhin von einem Gesamt-GdB von 20 ausgegangen, der sich aus zwei Teil-GdB-Werten von jeweils 20 für die Funktionsbehinderung und degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule mit Nervenwurzelreizerscheinungen sowie für die Depression ergebe.
Mit Gerichtsbescheid vom 15.01.2013 hat das SG die Klage abgewiesen. Es hat die rechtlichen Grundlagen der Zuerkennung eines GdB und der Bestimmung des konkreten GdB dargelegt und sich in der Sache der Ansicht des Beklagten in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 03.08.2012 angeschlossen. Diese Einschätzung werde durch die Aussagen von Dr. A. und Dr. B. bestätigt. Die Aussage von Dr. C. sei nur teilweise nachzuvollziehen. Er habe keine gesicherten Diagnosen angegeben; seine Mutmaßungen wegen des Fibromyalgiesyndroms würden von den Fachärzten nicht geteilt. Ferner sei die depressive Erkrankung entgegen seiner Aussage nicht als schwer einzustufen, wie Dr. A. angegeben habe. Die weiteren Erkrankungen, die auch Dr. C. angegeben habe, nämlich anämische Zustände, der Z.n. Entfernung von Gallensteinen, die Hyperhidrosis und der Z.n. Schilddrüsenoperation, bedingten keine GdB-Werte.
Gegen diesen Gerichtsbescheid, der ihrem Prozessbevollmächtigten am 21.01.2013 zugestellt worden ist, hat die Klägerin am 21.02.2013 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Sie trägt vor, Dr. A. habe die Medikation bei der psychiatrischen Behandlung erhöhen müssen. Es beständen massive soziale Schwierigkeiten. Ihr Sohn sei - auf Grund einer ADHS-Erkrankung - bereits in einer Einrichtung untergebracht gewesen und sie leide deswegen unter massiven Schuldgefühlen. Die psychische Erkrankung bedinge einen GdB von 30. Auch die Wirbelsäulenschäden seien höher zu bewerten; jedenfalls sei insgesamt ein GdB von 50 zu bilden.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 15. Januar 2013 aufzuheben und den Beklagten unter weiterer Abänderung des Bescheids vom 06. Oktober 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. Februar 2012 zu verurteilen, einen Grad der Behinderung von 50 zuzuerkennen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt den angegriffenen Gerichtsbescheid und seine Entscheidungen.
Von Amts wegen hat der Senat die Klägerin bei dem Facharzt für Psychiatrie und Neurologie Dr. D. begutachten lassen. Dieser Sachverständige hat in seinem schriftlichen Gutachten vom 15.01.2014 ausgeführt, bei der Klägerin bestehe auf seinem Fachgebiet eine chronische Depression fluktuierenden Ausmaßes, die zurzeit mittelgradig ausgeprägt sei. Daneben bestehe eine eigene orthopädische Problematik, wenngleich sich die chronischen Rückenschmerzen im Rahmen der depressiven Erkrankung verschlechtern könnten. Die Klägerin habe 2013 gemerkt, dass sie begonnen habe, auch ein Alkoholproblem zu entwickeln. Nach der Behandlung in der Tagesklinik habe sie die Partnerschaft zu einem alkoholkranken Mann beendet. Sie sei jetzt auch wieder kreativ, könne töpfern, malen und basteln. Sie gehe viel spazieren. Sie bekomme Schwindelanfälle. Zwei Wochen vor der Begutachtung sei eine transitorische Amnesie aufgetreten. Sie müsse häufig weinen, auch wegen ihres jetzt 15-jährigen Sohnes, der an ADHS leide und deswegen zurzeit medikamentös behandelt werde, aber häufig austicke, impulsiv und aggressiv gegen andere sei. Sie sei immer sehr schüchtern gewesen, auch schon in der Schule. Ihr Sohn manipuliere sie massiv. Zur Bewertung hat Dr. D. ausgeführt, nach der eventuellen, von Dr. A. angegebenen Remissionsphase müsse die ab September 2012 wieder bestehende mittelgradige Depression einen GdB von 30 bedingen. Der weitere GdB-Wert von 20 sei nicht unberücksichtigt zu lassen, da tatsächlich eine somatische Störung vorliege. Insgesamt sei ein GdB von 40 angemessen. Dr. D. hat ferner den von ihm verwerteten Entlassungsbericht der Tagesklinik Psychiatrie Schloss Winnenden, Dr. Kaiser, vom 22.05.2013 vorgelegt (Diagnosen: F33.1 und F34.1; Medikation: U.a. Clindasol, Mirtazapin, Trevilor; Stimmung depressiv gedrückt, kaum schwingungsfähig, Ängste und erhöhter Stress; das Beck’sche Depressionsinventar habe bei Aufnahme mit 35 Punkten Hinweise auf eine schwere depressive Episode ergeben).
Der Beklagte ist den Vorschlägen dieses Sachverständigen unter Vorlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. Reiniger vom 01.04.2014 entgegengetreten.
In der Folgezeit hat die Klägerin weitere ärztliche Berichte auf orthopädischem Fachgebiet vorgelegt, auf die Bezug genommen wird.
Der Beklagte hat sich mit Schriftsatz vom 21.10.2014, die Klägerin unter dem 24.04.2015 mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe:
1. Der Senat entscheidet über die Berufung der Klägerin nach § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung, nachdem sich beide Beteiligte mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben.
2. Die Berufung ist statthaft (§ 105 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 143 SGG) und auch im Übrigen zulässig (§ 151 SGG). Sie ist auch teilweise begründet. Auf die zulässigerweise erhobene Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG) war der Beklagte unter weiterer Abänderung des Bescheids vom 06.10.2011 und des Widerspruchsbescheids vom 21.02.2012 zu verurteilen, bei der Klägerin ab Antragstellung einen GdB von 30 und ab September 2012 einen GdB von 40 festzustellen. Im Übrigen ist die Klage unbegründet, weswegen die Berufung insoweit zurückzuweisen ist.
Die rechtlichen Voraussetzungen der Zuerkennung eines GdB nach § 69 Abs. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) und die einzelnen medizinischen Anforderungen an die Bewertung einzelner Behinderungen mit einem GdB sowie die Bildung eines Gesamt-GdB nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG), der Anlage zu § 2 der nach § 30 Abs. 17 Bundesversorgungsgesetz (BVG) erlassenen Versorgungsmedizinverordnung (VersMedV), hat das SG in dem angegriffenen Urteil zutreffend dargelegt. Auf diese Ausführungen wird, auch um Wiederholungen zu vermeiden, verwiesen (§ 153 Abs. 2 SGG). Zu ergänzen ist lediglich, dass sich die Ermächtigungsgrundlage der VG, soweit es um die behindertenrechtlichen Feststellungen geht, mit Wirkung ab dem 15.01.2015 durch die Einführung des § 70 Abs. 2 SGB IX geändert hat und dass die jetzige VersMedV bis zu einer der neuen Ermächtigungsgrundlage entsprechenden Rechtsverordnung des Bundesministers für Arbeit und Soziales anzuwenden ist, vgl. § 159 Abs. 7 SGB IX n.F.
a) Die psychisch bedingten Beeinträchtigungen bewertet der Senat in Übereinstimmung mit dem Gutachten von Dr. D. vom 15.01.2014 für die Zeit seit dem 01.09.2012 mit einem GdB von 30. Für die Zeit davor hatte der Beklagte zu Recht einen GdB von 20 angenommen.
aa) Bei der Klägerin liegt diagnostisch zumindest seit diesem Zeitpunkt wieder eine mittelgradige Episode der vorbestehenden rezidivierenden depressiven Erkrankung (F33.1 nach der ICD-10, der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten der WHO) vor. Diese Diagnose war bei der Klägerin bereits zu Beginn des gesamten aktenkundigen Zeitraums gestellt worden, erstmals in den Berichten des Klinikums Stuttgart, Prof. Dr. A.-Henn, vom 05.12.2007 und vom 27.03.2008. Allerdings hat der behandelnde Psychiater, Dr. A., in seiner Zeugenaussage vom 19.04.2012 von einer "zuletzt mittelgradigen" Episode gesprochen und aktuell eine Teilremission, also eine Besserung, bekundet. Diese Entwicklungen bestätigen, dass eine rezidivierende Erkrankung mit schwankendem Ausmaß der Beeinträchtigungen vorliegt. Auch der Amtsgutachter Dr. D. hat von "fluktuierenden Ausmaßen" gesprochen und dies nachvollziehbar mit der unterschiedlichen Behandlungsintensität, die auch zu (teil)stationären Aufenthalten geführt hatte, begründet.
bb) Entsprechend dieser Diagnose schwanken bei der Klägerin auch die aus der Erkrankung folgenden Funktionsbeeinträchtigungen.
Insoweit sieht Teil B Nr. 3.7 VG für "leichtere psychovegetative oder psychische Störungen" einen GdB von 0 bis 20 vor, während "stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit, z.B. ausgeprägtere depressive Störungen) einen GdB von 30 bis 40 bedingen.
Zumindest ab September 2012 kann bei der Klägerin ein GdB von 30 angenommen werden. In seinem Arztbrief vom 18.09.2012 an den Hausarzt hatte Dr. A. "gegenwärtig" wieder eine "mittelgradige Episode" diagnostiziert und ausgeführt, der Klägerin sei es (nur) im Anschluss an die Behandlung in der Tagesklinik besser gegangen. Er hat auch bereits einige merkliche Einschränkungen beschrieben, nämlich betreffend die Stimmung, die affektive Schwingungsfähigkeit, Angst, Antrieb und Psychomotorik. Ähnliche Einschränkungen vor allem in der psychischen und sozialen Leidensdimension und entsprechend dieselbe Diagnose ergeben sich dann aus dem Entlassungsbericht der Tagesklinik Winnenden, PD Dr. Dr. Kaiser, vom 22.05.2013 über die (erstmals) teilstationäre Behandlung der Klägerin vom 02.04. bis 13.05.2013. Unter Einbeziehung dieser Unterlagen hat auch der Sachverständige Dr. D. die entsprechende Diagnose gestellt; wobei er sogar darauf hingewiesen hat (S. 8 des Gutachtens), dass das Beck’sche Depressionsinventar in Winnenden, das allerdings eine Selbstbeurteilung darstellt, sogar in Richtung einer schweren Depression sprach. Jedenfalls hat auch Dr. D. überzeugend Einschränkungen im Leben der Klägerin beschrieben, die eine wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit im unteren Bereich des dafür vorgesehenen GdB-Rahmens von 30 bis 40 bedingen: Die Klägerin ist durch ihre Lebensumstände, ihre wohl zum Teil überwundenen Suchterkrankungen, das langjährige Zusammenleben mit mehreren ihrerseits suchtkranken Partnern und vor allem durch die Belastungen wegen der Erkrankung ihres Sohnes massiv belastet. Sie beschreibt nachvollziehbar erhebliche Schuldgefühle. Die eingeschränkte Modulationsfähigkeit in der Sprache und die Beeinträchtigungen in der Schwingungsfähigkeit hat auch Dr. D. beschrieben (S. 7 des Gutachtens). Es liegt ein merklicher sozialer Rückzug vor, nachdem die Klägerin ihre letzte Partnerschaft ebenfalls beendet hat: die Klägerin hat bei der Begutachtung berichtet, sie mache zwar auch längere Spaziergänge, diese allerdings allein, und sie gehe nur selten mit - nur - einer Freundin aus. Auch die weiteren Feststellungen Dr. D.s bestätigen die durchaus erheblichen Beeinträchtigungen. Medikamentös wird die Klägerin nunmehr mit zwei Antidepressiva behandelt (Venlafaxin und Mirtazapin), ersteres sogar in mittlerer Dosierung. Sie befindet sich auf der Warteliste für eine zusätzliche ambulante Psychotherapie. Vor diesem Hintergrund fällt es nicht ausschlaggebend ins Gewicht, dass die Klägerin bei Dr. D. auch berichtet hat, sie sei jetzt - in Bezug auf Töpfern, Malen und Basteln - wieder kreativ. Insoweit kann sich der Zustand nach der zweiten Therapie in Winnenden wieder etwas gebessert haben. Aber diese Besserung ging nicht soweit, dass wieder von einer nur leichten psychischen Störung gesprochen werden kann. Dabei berücksichtigt der Senat auch, dass die Klägerin diese Hobbies anscheinend allein ausübt; sie hatte Dr. D. auch mitgeteilt, sie habe "früher" zusammen mit ihrer Tochter gearbeitet.
Für die Zeit vor Dr. A.s erneuter Diagnose einer wieder mittelgradigen Episode im September 2012 kann die Annahme des Beklagten, es habe ein GdB von 20 bestanden, nicht widerlegt werden. Im April jenes Jahres hatte Dr. A. von einer deutlichen Besserung gesprochen.
b) Auf orthopädischem Gebiet schließt sich der Senat der Einschätzung des versorgungsärztlichen Dienstes des Beklagten an. Dr. Reiniger hatte insoweit zuletzt (Stellungnahme vom 03.08.2012) einen GdB von 20 für degenerative Veränderungen der Wirbelsäule mit Nervenwurzelreizungen angenommen.
Ein solcher GdB kann nach Teil B Nr. 18.9 VG für mittelgradige funktionelle Auswirkungen in einem WS-Abschnitt oder für leichte funktionelle Auswirkungen in mindestens zwei Abschnitten angenommen werden.
Bei der Klägerin können in Übereinstimmung mit dem Beklagten mittelgradige Beeinträchtigungen in der Lendenwirbelsäule (LWS) angenommen werden. Dr. E. hatte insoweit bereits unter dem 12.07.2011 unter anderem von "schweren aktivierten" Spondylarthrosen an den Segmenten L4/5 und L5/S1 der LWS berichtet. Die Beeinträchtigungen hieraus hatten sich wohl nicht in erster Linie in Beweglichkeitseinschränkungen geäußert - der behandelnde Orthopäde Dr. B. hat in seiner Zeugenaussage vom 30.04.2012 keine solchen Einbußen mitgeteilt -, sondern überwiegend in chronischen Schmerzen. Insoweit hatte Dr. C. in seiner Zeugenaussage vom 14.05.2012 sogar gemutmaßt, es könne eine Fibromyalgie bestehen. Diese Diagnose ist zwar fachärztlich nicht bestätigt worden, worauf auch das SG in dem angegriffenen Gerichtsbescheid hingewiesen hat. Aber die Diagnose ist für die behindertenrechtliche Bewertung, wie ausgeführt, unerheblich. Die Schmerzen sind verifiziert, alle Behandler haben sie in ihren Berichten aufgenommen. Dr. C. hat dazu die detaillierteste Beschreibung gegeben.
Dagegen sind die Beeinträchtigungen an der Halswirbelsäule (HWS), die - nach Aktenlage erstmals - in dem Arztbrief von Dr. E. vom 04.06.2014 mitgeteilt worden sind, bislang allenfalls als geringfügig eingestuft werden. Von Funktionsbeeinträchtigungen, also Bewegungseinbußen oder radikulären Ausstrahlungen in die oberen Gliedmaßen oder dgl., wird nicht berichtet. Diagnostisch hat Dr. E. weder einen Bandscheibenvorfall noch eine spinale Enge oder eine Myelomalazie (Rückenmarkerweichung) feststellen können.
Dieser GdB besteht, da er allein die lang andauernden Beeinträchtigungen der LWS betrifft, bereits seit Antragstellung.
c) Die weiteren Erkrankungen der Klägerin bedingen keinen GdB von mehr als 10 und sind daher für die Bildung des Gesamt-GdB nicht relevant (Teil A Nr. 3 Buchstabe d Doppelbuchstabe ee Satz 1 VG).
Zum Teil sind diese Erkrankungen nicht aktuell. Insbesondere bedingen die beiden Zustände nach Schilddrüsenoperation und nach Entfernung von Gallensteinen aktuell keinen GdB.
Im Übrigen sind die Funktionsbeeinträchtigungen aus ihnen geringfügig. Hinsichtlich der Hyperhidrosis wird aktuell von keinen Auswirkungen berichtet. Das Gleiche gilt für das Impingementsyndrom der linken Schulter, das Dr. B. in seinem Arztbrief vom 21.07.2014 beschrieben hat, auch weil insoweit bei der bildgebenden Untersuchung in der Praxis von Dr. E. am 13.05.2014 keine erheblichen Schädigungen festgestellt werden konnten.
d) Der Senat ist zu der Überzeugung gelangt, dass entsprechend der Grundregel in Teil A Nr. 3 Buchstabe c VG aus den beiden relevanten Einzel-GdB von jeweils 20 ab Antragstellung sowie von 30 und 20 ab September 2012 ein Gesamt-GdB von zunächst 30 und sodann von 40 zu bilden ist. Ein weiterer Einzel-GdB von 20 führt nach Teil A Nr. 3 Buchstabe d Doppelbuchstabe cc oder Doppelbuchstabe ee Satz 2 VG nicht zu einer Erhöhung, wenn sich die Auswirkungen der verschiedenen Funktionsbeeinträchtigungen (stark) überschneiden oder wenn der GdB von 20 eine "leichte" Beeinträchtigungen betrifft und eine Erhöhung - daher - nicht "gerechtfertigt ist". Diese Ausnahmen liegen hier nicht vor. Zum einen standen bei der Bewertung der psychischen Erkrankung der Klägerin die psychische und auch die soziale Leidensdimension im Vordergrund. Die physische Beeinträchtigung - festgemacht an den chronischen Rückenschmerzen - hat zwar auch Dr. D. bemerkt, aber er hat zutreffend darauf hingewiesen, dass dem - zumindest soweit es um die LWS geht - eine eigene somatische Erkrankung zu Grunde liegt und keine vollständige oder starke Somatisierungsneigung vorliegt. Zum anderen kann die Wirbelsäulenproblematik nicht als leicht eingestuft werden, wenn doch an der LWS erhebliche degenerative Veränderungen bzw. eine starke Einengung des Spinalkanals vorliegen.
2. Die Entscheidung über die Kosten beider Instanzen beruht auf § 193 SGG. Der Senat berücksichtigt dabei vor allem, dass die Klägerin mit ihrem wirtschaftlich wesentlichen Ziel, der Feststellung der Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch, unterlegen ist.
3. Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
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