L 4 AS 933/13

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
S 7 AS 2952/10
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 4 AS 933/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 26. August 2013 sowie der Bescheid des Beklagten vom 31. August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. September 2010 werden aufgehoben.

Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers für beide Rechts-züge zu tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Minderung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) für den Zeitraum 1. Oktober bis 31. Dezember 2010 in Höhe von insgesamt 1.077 EUR.

Der am ... 1987 geborene alleinstehende Kläger bezieht Leistungen nach dem SGB II von der Rechtsvorgängerin des Beklagten (nachfolgend Beklagter). Der Beklagte bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 11. Juni 2010 Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum 1. Juli bis 31. Dezember 2011 in Höhe von monatlich 563 EUR. Die Leistung setzt sich zusammen aus der Regelleistung von 359 EUR und Leistungen für Unterkunft und Heizung von 204 EUR. Diese Bewilligungsentscheidung wurde bestandskräftig.

Am 4. Juni 2010 erstellte die Beklagte einen Vermittlungsvorschlag für den Kläger und forderte diesen auf, sich bei der t. Personallogistik und -dienstleistungen GmbH (Arbeitgeberin) auf das Stellenangebot Helfer in der Solarbranche zu bewerben. Am 14. Juni 2010 nahm der Kläger eine unbefristete Beschäftigung als Hilfskraft bei der Arbeitgeberin auf. Vereinbart war eine Tätigkeit von 40 Stunden/Woche. Am dem 14. Juni 2010, einem Montag, arbeitete der Kläger nach seinen Aufzeichnungen zwei Stunden und am darauffolgenden Dienstag fast sechs Stunden. Nach Aktenlage verletzte sich der Kläger am dritten Tag, dem 16. Juni 2010 und war anschließend bis einschließlich Freitag, 18. Juni 2010, arbeitsunfähig. Am Montag, dem 21. Juni 2010 war der Kläger von 8:00 bis 15:30 Uhr und am Dienstag, 22. Juni 2010, von 8:00 bis 15:00 Uhr beschäftigt.

Die Arbeitgeberin erteilte dem Kläger nach Aktenlage mit Schreiben vom 21. Juni 2010 eine erste Abmahnung: Der Kunde, die ... AG, habe mitgeteilt, dass der Kläger die Baustelle am 21. Juni 2010 unerlaubt verlassen habe. Darüber hinaus habe der Baustellenleiter den Kläger mehrfach aufgefordert, das Rauchen einzustellen und zügiger zu arbeiten. Weiterhin halte der Kläger die Pausenzeiten nicht ein und drücke sich vor der Arbeit. Ob und wann dem Kläger die erste Abmahnung zugegangen ist, steht nicht fest. Mit Schreiben vom 22. Juni 2010 erteilte die Arbeitgeberin nach Aktenlage eine zweite Abmahnung: Der Kläger habe sich erneut am 22. Juni 2010 unerlaubt von der Baustelle entfernt. Nach wie vor halte sich der Kläger nicht an die vorgegebenen Pausenzeiten und rauche oder sitze während der Arbeitszeit. Die Arbeitgeberin kündigte das Arbeitsverhältnis mit weiterem Schreiben vom 22. Juni 2010 fristlos, hilfsweise fristgemäß. Als Grund wurde angegeben, dass der Kläger wegen mangelnden Arbeitswillens bereits eine Abmahnung erhalten habe. Die Arbeitgeberin gab die Kündigung und die zweite Abmahnung mit Einwurfeinschreiben am 22. Juni 2010 um 16:27 Uhr zur Post auf. Die zweite Abmahnung ging dem Kläger zusammen mit der Kündigung zu.

Am 24. Juni 2010 teilte der Kläger dem Beklagten mit, dass das seit 14. Juni 2010 bestehende Arbeitsverhältnis gekündigt worden sei und legte das Kündigungsschreiben vor. Der Beklagte hörte den Kläger daraufhin mit Schreiben vom 29. Juni 2010 zur beabsichtigten Absenkung der Leistungen an: Der Kläger habe die zumutbare Beschäftigung aufgegeben. Nach bisherigem Erkenntnisstand lägen rechtfertigende Gründe nicht vor. Im Anhörungsschreiben informierte der Beklagte darüber, dass das Verhalten eine Sanktion nach sich ziehen könne, wenn der Kläger für sein Verhalten keinen wichtigen Grund gehabt habe. Die Sanktion dauere drei Monate und führe voraussichtlich zu einer Minderung des Leistungsanspruchs in Höhe von 100% der Regelleistung. Werde die Regelleistung aufgrund der Sanktion um mehr als 30% gemindert, könnten in angemessenem Umfang ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen – insbesondere in Form von Lebensmittelgutscheinen – gewährt werden, sofern keine anderweitigen eigenen Mittel zur Verfügung stehen.

Der Kläger teilte auf das Anhörungsschreiben mit, dass er entlassen worden sei, weil er sich geweigert habe, auf dem Dach zu arbeiten. Er habe zu Beginn der Beschäftigung mitgeteilt, dass er nicht höhentauglich sei. Trotzdem habe er auf dem Dach arbeiten müssen, weil zu wenig Personal im Einsatz gewesen sei. Da es windig geworden sei und er ungesichert auf dem Dach weiterarbeiten sollte, habe er diese Arbeit verweigert. Zugleich habe er aber angeboten, auf dem Boden weiterzuarbeiten. Der Vorgesetzte sei damit nicht einverstanden gewesen und habe ihm mitgeteilt, dass er entweder auf das Dach oder nach Hause gehen solle. Da keine Sicherungsmaßnahmen wie Seil, Fangnetz oder Gerüste vorhanden gewesen seien, habe er sich dafür entschieden, nach Hause zu gehen. Daraufhin sei das Arbeits-verhältnis gekündigt worden.

Auf Nachfrage des Beklagten teilte die Arbeitgeberin mit, dass der Kläger mehrfach aufge-fordert worden sei, die Pausenzeiten einzuhalten und sich nicht unerlaubt von der Baustelle zu entfernen. Er habe diese Anweisungen missachtet und deswegen vor der Kündigung zwei Abmahnungen erhalten. Die letzte Abmahnung sei am 21. Juni 2010 erteilt worden.

Der Beklagte prüfte die vorangegangenen Minderungen der Leistungen sowie die Erwerbs-biographie des Klägers und minderte das Arbeitslosengeld II mit Bescheid vom 31. August 2010 für den Zeitraum 1. Oktober bis 31. Dezember 2010 auf die angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung. Zur Begründung gab er an: Die Voraussetzungen für den Eintritt einer Sperrzeit nach § 144 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung (SGB III) seien erfüllt. Danach liege eine Pflichtverletzung nach § 31 Abs. 4 Nr. 3b SGB II vor. Die Verkürzung der Sperrzeit auf sechs Wochen komme nicht in Betracht. Er habe bereits in der Vergangenheit Anlass zum Eintritt einer Sanktion gegeben. Auf Antrag könnten in angemessenem Umfang ergänzende Sachleistungen gewährt werden.

Dagegen richtete sich der am 6. September 2010 erhobene Widerspruch des Klägers: Seine Sicherheit sei bei der Fa ... nicht gewährleistet gewesen. Es habe weder eine Befestigung durch einen Gurt, noch ein Fangnetz oder ähnliches gegeben. Bei Einstellung sei er nicht darüber informiert worden, dass er höhentauglich sein müsse. Wenn er dies gewusst hätte, hätte er die Arbeit nicht angenommen. Der für ihn zuständige Mitarbeiter habe ihn aufgefor-dert, wieder auf das Dach zu steigen. Er habe sich nur auf die Arbeit auf dem Dach einge-lassen, weil Personalmangel bestanden habe. Er habe sich daher geweigert, erneut auf dem Dach zu arbeiten. Der Vorgesetzte habe ihm gesagt, dass er entweder auf das Dach oder nach Hause gehen solle. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 10. September 2010 als unbegründet zurück: Der Kläger habe die Beendigung seines Arbeitsverhältnisses selbst herbeigeführt. Er habe gewusst, dass das Arbeitsverhältnis gekündigt werden wird, wenn er sein Verhalten nicht ändere. Ein wichtiger Grund sei nicht erkennbar. Die Voraussetzungen für eine Sperrzeit nach § 144 SGB III seien erfüllt. Bei unter 25jährigen Hilfebedürftigen werde das Arbeitslosengeld auf die Kosten für Unterkunft und Heizung beschränkt.

Dagegen hat der Kläger am 30. September 2010 vor dem Sozialgericht Dessau-Roßlau (SG) Klage erhoben und ausgeführt: Der Kläger habe lediglich eine Abmahnung von 22. Juni 2010 erhalten, die dem Kündigungsschreiben beigelegen habe. Die Kündigung sei unwirksam, da der Kläger zuvor nicht abgemahnt worden sei. Der Kläger habe es aus Unkenntnis versäumt, eine Kündigungsschutzklage zu erheben. Die Mitarbeiter des Beklagten hätten den Kläger nicht innerhalb der Klagefrist auf die Möglichkeit hingewiesen, dass Sanktionen verhängt werden können. In diesem Fall hätte er sich professionelle Hilfe suchen können. Er habe sich nicht unerlaubt von der Baustelle entfernt. Bei Antritt der Tätigkeit habe er die Arbeitgeberin davon in Kenntnis gesetzt, dass er nicht höhentauglich sei. Ihm sei zugesichert worden, dass er nur am Boden eingesetzt werde. Der Arbeitsunfall habe sich am 15. Juni oder am 16. Juni 2010 ereignet. Am 22. Juni 2010 hätten Montagekräfte gefehlt, so dass er die Anweisung erhalten habe, auf einem Schrägdach in mehreren Metern Höhe zu arbeiten. Der Kläger habe sich bereit erklärt, es wenigstens zu versuchen. Er habe die Arbeiten auch zunächst verrichten können. Nachdem dann Wind aufgekommen sei und keine Sicherheitseinrichtungen vorhanden gewesen seien, sei er unsicher geworden und habe das Dach verlassen. Daraufhin sei ihm mitgeteilt worden, dass er dann gehen könne. Die fehlende Höhenuntauglichkeit sei bislang noch nicht ärztlich diagnostiziert worden.

Der Kläger hat beantragt, den Bescheid des Beklagten vom 31. August 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. September 2010 aufzuheben. Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen und sich auf sein Vorbringen im Verwaltungsverfahren gestützt.

Das SG hat Auskünfte der Arbeitgeberin vom 11. Februar 2011 und vom 15. Juli 2011 eingeholt. Danach sei der Kläger vor Antritt der Tätigkeit über den Ort und den Inhalt der Tätigkeit aufgeklärt worden. Er habe zu keinem Zeitpunkt mitgeteilt, nicht höhentauglich zu sein. Ihm sei nicht zugesichert worden, dass er am Boden arbeiten könne. Dafür habe es keinen Anlass gegeben. Er habe die Aufgabe gehabt, Solarmodule aus den Paletten zu nehmen und auf den Aufzug zu stellen. Je nach Arbeitskräfteeinsatz sollte auch die Dachflä-che betreten werden.

Das SG hat am 14. April 2011 einen Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage in Anwesenheit des Klägers durchgeführt. In diesem Termin teilte der Kläger erstmals mit, er habe am dritten Arbeitstag einen Arbeitsunfall erlitten. Er sei vom Dach gerutscht und habe sich den Knöchel verstaucht. Nachdem er einen Tag krankgeschrieben worden sei, sei er am nächsten Tag wieder zur Arbeit gegangen. An jenem Tag habe er wieder auf dem Dach gearbeitet. Als dann Wind aufgekommen sei, habe er nur noch am Boden arbeiten wollen. Er habe nur eine Abmahnung zusammen mit der Kündigung erhalten. Das SG hat einen Befundbericht des Chefarztes der Klinik für Unfallchirurgie des Gesundheitszentrum B. GmbH vom 17. Mai 2011 eingeholt. Danach habe der Kläger angegeben, am 16. Juni 2010 beim Tragen eines Solarmoduls umgeknickt zu sein. Für den Zeitraum 16. bis 18. Juni 2010 sei Arbeitsunfähigkeit bescheinigt worden.

Das SG hat zwei frühere Mitarbeiterinnen der Arbeitgeberin schriftlich als Zeuginnen befragt und in der mündlichen Verhandlung den früheren Vorgesetzten des Klägers als Zeugen vernommen. Der Kläger hat in dieser mündlichen Verhandlung erklärt, die fehlende Hö-hentauglichkeit bei der Arbeitgeberin nicht angesprochen zu haben.

Das SG hat die Klage aufgrund mündlicher Verhandlung mit Urteil vom 26. August 2013 abgewiesen und ausgeführt: Es könne offen bleiben, ob die außerordentliche Kündigung wirksam gewesen sei. Jedenfalls habe die Kündigung fristgerecht erfolgen können. Es habe sich um eine Kündigung während der Probezeit gehandelt. Die Nichteinhaltung der Kündi-gungsfrist von zwei Wochen führe nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung. Eine Kündigung während der Probezeit bedürfe keiner Abmahnung. Auch ein Kündigungsgrund sei nicht erforderlich, da das Arbeitsverhältnis weniger als zwei Wochen bestanden habe. Der Kläger habe durch arbeitsvertragswidriges Verhalten zumindest grob fahrlässig Anlass für die Lösung des Beschäftigungsverhältnisses gegeben. Zur Überzeugung der Kammer stehe fest, dass der Kläger sich nicht an Pausenzeiten gehalten und sich unerlaubt von der Baustelle entfernt habe. Die Kündigung sei für den Kläger vorhersehbar gewesen. Der Kläger könne sich nicht auf einen wichtigen Grund berufen. Es sei nicht belegt, dass der Kläger unter Höhenangst leide. Er habe tatsächlich auf dem Dach gearbeitet. Es seien keine unzumutbaren Arbeitsbedingungen gewesen. Die Höhe und Dauer der Absenkung sei ohne Fehler festgestellt worden. Der Beklagte habe auch auf die Möglichkeit der Beantragung von zusätzlichen Sachleistungen hingewiesen.

Gegen das seiner Prozessbevollmächtigten am 24. September 2013 zugestellte Urteil hat diese für den Kläger am 14. Oktober 2013 Berufung vor dem Landessozialgericht des Landes Sachsen-Anhalt erhoben und ausgeführt: Die Feststellungen zur Wirksamkeit der außerordentlichen Kündigung seien unzutreffend. Eine Kündigung sei nur dann möglich, wenn trotz der Abmahnung weitere Pflichtverletzungen erfolgten. Die außerordentliche Kündigung werde auf dieselbe Pflichtverletzung gestützt. Er sei aus Unwissenheit nicht gegen die Kündigung vorgegangen. Das Rauchen während der Arbeitszeit sei geduldet gewesen. Der Zeuge habe keine genauen Angaben zur Häufigkeit der Pflichtverletzungen machen können. Die Angaben der Zeugin L. seien nicht glaubhaft. Während sie zunächst angegeben habe, sich nicht mehr zu erinnern, habe sie dann nach Sichtung von Unterlagen angegeben, nunmehr klare Aussagen treffen zu können. Für den Kläger sei nicht ersichtlich, um welche Unterlagen es sich gehandelt habe. Die Angaben der Zeugen widersprächen sich auch. Während der Zeuge H. angegeben hatte, der Kläger habe sich unerlaubt von der Baustelle entfernt, hat die Zeugin L. angegeben, er sei aufgrund seines Verhaltens nach Hause geschickt worden. Keiner der Zeugen habe konkrete Erinnerungen an die Geschehensabläufe. Die Feststellungen des Gerichts zur Höhenangst seien unzutreffend. Diese bestehe tatsächlich, sei jedoch noch nicht ärztlich bescheinigt worden.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau sowie den Bescheid des Beklagten vom 31. August 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. September 2010 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte verteidigt das Urteil des SG: Die Darstellung des Klägers zu den Gründen für sein Nichterscheinen am 23. Juni 2010 widerspreche seinen früheren Angaben.

Der Senat hat in der mündlichen Verhandlung vom 23. März 2016 die frühere Personalver-antwortliche der Arbeitgeberin, Frau L., als Zeugin gehört. Wegen der Angaben der Zeugin wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen. Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist nach §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Der Wert des Beschwerdegegenstandes übersteigt den Betrag von 750 EUR. Die Berufung ist form- und fristgerecht erhoben worden (§ 151 SGG).

Streitgegenstand ist die Rechtmäßigkeit der Minderung von Leistungen des Beklagten für die Monate Oktober bis Dezember 2010 in Höhe von insgesamt 1.077 EUR (Bescheid vom 31. August 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. September 2010).

Die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers ist begründet und führt zur Aufhebung des Urteils sowie des angegriffenen Bescheides. Der Bescheid des Beklagten vom 31. August 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. September 2010 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Rechtsgrundlage für die Minderung der Leistungen ist die Regelung in § 31 Abs. 5 Satz 1 iVm Abs. 4 Nr. 3b und SGB II in der Fassung des Gesetzes vom 10. Oktober 2007 (BGBl. I S. 2326). Danach wird das Arbeitslosengeld bei erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, die das 15., jedoch nicht das 25. Lebensjahr vollendet haben, unter den in Absatz 1 bis 4 genannten Voraussetzungen auf die Leistungen nach § 22 SGB II beschränkt. Nach § 31 Abs. 4 Nr. 3b SGB II aF gelten die Absätze 1 bis 3 entsprechend für erwerbsfähige Hilfebedürftige, die die im Dritten Buch genannten Voraussetzungen für den Eintritt einer Sperrzeit erfüllen, die das Ruhen oder das Erlöschen eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld begründen. Nach § 144 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB III in der Fassung des Gesetzes vom 21. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2917) tritt eine Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe ein, wenn der Arbeitslose das Beschäftigungsverhältnis ohne wichtigen Grund gelöst oder durch ein arbeitsvertragswidriges Verhalten Anlass für die Lösung des Beschäftigungsverhältnisses gegeben und dadurch vorsätzlich oder grob fahrlässig die Beschäftigungslosigkeit herbeigeführt hat. Bei einer Minderung des Arbeitslosengeldes II um mehr als 30% kann der zuständige Träger in angemessenem Umfang ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbringen (§ 31 Abs. 5 Satz 6 iVm Abs. 3 Satz 6 SGB II aF). Die Absenkung und der Wegfall der Leistungen treten mit Wirkung des Kalendermonats ein, der auf das Wirksamwerden des Verwaltungsakts, der die Absenkung und den Wegfall der Leistung feststellt, folgt (§ 31 Abs. 6 Satz 1 SGB II aF). Absenkung und Wegfall dauern drei Monate (§ 31 Abs. 6 Satz 2 SGB II aF). Bei erwerbsfä-higen Hilfebedürftigen, die das 15., aber nicht das 25. Lebensjahr vollendet haben, kann der Träger die Absenkung und den Wegfall der Regelleistung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls auf sechs Wochen verkürzen (§ 31 Abs. 6 Satz 3 SGB II aF).

Der Bescheid vom 31. August 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. September 2010 ist formell rechtmäßig. Insbesondere wurde der Kläger vor Erlass des Bescheides nach § 24 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) angehört.

Der Bescheid des Beklagten vom 31. August 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. September 2010 ist materiell rechtswidrig. Die Tatbestandsvoraussetzungen für die Minderung der Leistungen liegen nicht vor. Nach der Rechtsprechung des BSG ist die Regelung in § 31 Abs. 4 Nr. 3 SGB II aF nur anwendbar, wenn das vom Hilfebedürftigen abverlangte Verhalten nicht bereits von § 31 Abs. 1 SGB II aF erfasst ist und das sperrzeitre-levante Ereignis zu einem Zeitpunkt eintritt, in dem eine Beziehung des Hilfebedürftigen zum Rechtskreis des SGB III vorliegt. Eine Rechtsfolgenbelehrung ist nicht erforderlich (BSG, Urteil vom 22. März 2010 – B 4 AS 68/09 R).

Das sperrzeitrelevante Verhalten wird hier nicht bereits von § 31 Abs. 1 SGB II aF erfasst. Nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II aF wird das Arbeitslosengeld II in einer ersten Stufe um 30% des Regelsatzes abgesenkt, wenn der erwerbsfähige Hilfebedürftige trotz Belehrung über die Rechtsfolgen eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit abgebrochen oder Anlass für den Abbruch gegeben hat. Von dieser Norm werden nur Beschäftige erfasst, die noch nicht aufgrund der zurückgelegten Versicherungszeiten zur Arbeitslosenversicherung in einem Sozialversicherungsverhältnis zur Bundesagentur für Arbeit als Trägerin der Arbeitslosenversicherung stehen (BSG, Urteil vom 22. März 2010 – B 4 AS 69/09 R). Der Kläger war hier sozialversicherungspflichtig beschäftigt, so dass die Beziehung zum Rechtskreis des SGB III gegeben war und sich die Sanktion nicht nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II aF richtet.

Der Kläger gehört auch zum erfassten Personenkreis, da er das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte.

Die Voraussetzungen für den Eintritt einer Sperrzeit nach § 144 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB III lagen jedoch nicht vor. Der Eintritt einer Sperrzeit setzt nach der Rechtsprechung des BSG ein arbeitsvertragswidriges Verhalten voraus, das in jeglichem Verstoß gegen geschriebene oder ungeschriebene Haupt- oder Nebenpflichten aus dem Arbeitsvertrag bestehen kann (a). Dieses Verhalten muss kausal für die Lösung des Beschäftigungsverhältnisses geworden sein (b). Diese Lösung des Beschäftigungsverhältnisses durch den Arbeitgeber muss ihrerseits Ursache für den Eintritt der Beschäftigungslosigkeit sein (c). Schließlich muss die Herbeiführung der Beschäftigungslosigkeit auf Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit des Arbeitnehmers beruhen (d), wobei nicht von einem objektiven, sondern von einem subjektiven Fahrlässigkeitsmaßstab auszugehen ist, der sich an den Kenntnissen und Fähigkeiten des Betroffenen orientiert (BSG, Urteil vom 15. Dezember 2005 – B 7a AL 46/05 R mit weiteren Nachweisen). Der Schuldvorwurf bezieht sich nach dem Wortlaut der Norm nur auf die Herbeiführung der Beschäftigungslosigkeit, nicht auf das arbeitsvertragswidrige Verhalten selbst. Dieses setzt jedoch üblicherweise selbst ein Verschulden voraus, wobei einfache Fahrlässigkeit ausreichend ist. Der Arbeitnehmer hat durch arbeitsvertragswidriges Verhalten die Kündigung zumindest dann grob fahrlässig herbeigeführt, wenn der Arbeitgeber einen berechtigten Anlass für die Kündigung hatte, die Kündigung demnach rechtmäßig war. Anderenfalls kann dem Arbeitnehmer nicht vorgehalten werden, die Arbeitslosigkeit vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt zu haben. Weil die Rechtmäßigkeit der Kündigung nur für die Frage der Wesentlichkeit des Beitrags zum Kausalgeschehen von Bedeutung ist, spielen Fragen der formalen Rechtswidrigkeit der Kündigung keine Rolle. Ob der außerordentlichen Kündigung eine Abmahnung vorausgehen musste, ist dagegen Bestandteil der materiell-rechtlichen Prüfung (BSG, Urteil vom 15. Dezember 2005 – B 7a AL 46/05 R). Denn bei Fehlen einer Abmahnung liegt grobe Fahrlässigkeit des Arbeitnehmers nicht vor. Eine Ausnahme gilt für den Fall, dass eine Abmahnung arbeitsrechtlich entbehrlich ist (BSG, Urteil vom 6. März 2003 – B 11 AL 69/02 R).

Der Kläger hat sich, ohne einen wichtigen Grund zu haben, arbeitsvertragswidrig verhalten. Er hat seine Hauptleistungspflicht aus dem Arbeitsvertrag verletzt, indem er ihm aufgetragene Arbeiten nicht ausgeführt, Pausenzeiten nicht eingehalten und sich von der Baustelle entfernt hat. Es kann offen bleiben, ob der Kläger einen wichtigen Grund hatte, nicht auf dem Dach zu arbeiten. Die Pflichtverletzungen des Klägers bestanden nur zum Teil in der Weigerung, auf dem Dach zu arbeiten. Insofern hatte der Kläger möglicherweise einen wichtigen Grund für sein Verhalten gehabt. Die fehlende Höhentauglichkeit ist zwar nicht belegt. Die Anweisung des Baustellenleiters, er könne dann nach Hause gehen, wenn er nicht auf dem Dach arbeite, kann jedoch für den Kläger einen wichtigen Grund begründen, sich von der Baustelle zu entfernen. Jedenfalls ist die Überziehung der Pausenzeiten, auf die die Kündigung auch gestützt wurde, nicht durch einen wichtigen Grund gerechtfertigt. Das Verhalten des Klägers war auch kausal für die Lösung des Beschäftigungsverhältnisses durch die Arbeitgeberin. Die Arbeitgeberin stützte die Kündigung vom 22. Juni 2010 auf diese Gründe. Die Kündigung durch die Arbeitgeberin war kausal für die Beschäftigungslosigkeit des Klägers, da er keine Anschlussbeschäftigung hatte.

Der Kläger hat die Beschäftigungslosigkeit jedoch nicht grob fahrlässig herbeigeführt. Denn die Kündigung des Arbeitsverhältnisses war rechtswidrig. Dies gilt sowohl für die erklärte außerordentliche Kündigung als auch für die hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung.

Nach § 626 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht zugemutet werden kann. Dabei ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände als wichtiger Grund an sich geeignet ist. Sodann bedurfte es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist. Bei der Prüfung, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist, ist in einer Gesamtabwägung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen zumutbaren Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind. Im Vergleich zu einer außerordentlichen fristlosen Kündigung kommen als mildere Mittel insbesondere eine Abmahnung oder eine ordentliche Kündigung in Betracht. Sie sind dann alternative Gestaltungsmittel, wenn schon sie geeignet sind, den mit der außerordentlichen Kündigung verfolgten Zweck zu erreichen, für die Zukunft eine Störung des Arbeitsverhältnisses zu vermeiden. Dabei setzt die ordentliche und die außerordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung regelmäßig eine Abmahnung voraus. Einer solchen bedarf es nach Maßgabe des auch in § 314 Abs. 2 iVm § 323 Abs. 2 BGB zum Ausdruck kommenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach einer Abmahnung nicht zu erwarten steht oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist (Bundesarbeitsgericht (BAG), Urteil vom 25. Oktober 2012 – 2 AZR 495/11).

Danach sind die Pflichtverletzungen des Klägers zwar an sich geeignet, einen wichtigen Grund für die fristlose Beendigung des Arbeitsverhältnisses abzugeben. Die Verletzung der Hauptleistungspflichten aus dem Arbeitsvertrag ist ein Grund, das Arbeitsverhältnis zu beenden. Andererseits handelt es sich nicht um erhebliche und gravierende Pflichtverletzun-gen. Der Kläger war zur Arbeit erschienen und hat auch gearbeitet, wenn auch nicht im vereinbarten Umfang. Es ist hier nicht ersichtlich, dass es der Arbeitgeberin nicht zumutbar gewesen ist, den Kläger bis zum Ablauf der kurzen Kündigungsfrist innerhalb der Probezeit von zwei Wochen weiter zu beschäftigen. Nach § 622 Abs. 3 BGB kann das Arbeitsverhältnis während einer vereinbarten Probezeit mit einer Kündigungsfrist von zwei Wochen gekündigt werden. Im Übrigen kommt eine außerordentliche Kündigung nur dann in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind. Danach kommen als mildere Mittel vor allem eine Abmahnung und eine ordentliche Kündigung in Betracht. Sie sind dann alternative Gestaltungsmittel, wenn schon sie geeignet sind, den mit der außerordentlichen Kündigung verfolgten Zweck – die Vermeidung des Risikos zukünftiger Störungen – zu erreichen (BAG, Urteil vom 10. Juni 2010 – 2 AZR 541/09). Hier kamen als milderes Mittel vor einer außerordentlichen Kündigung eine ordentliche Kündigung und eine Abmahnung in Betracht.

Die Pflichtverletzungen des Klägers können jedoch auch eine ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses nicht rechtfertigen. Denn eine ordentliche Kündigung setzt voraus, dass der Kläger vor der Erklärung der Kündigung wegen dieses Verhaltens abgemahnt wird. Die Abmahnung hat sowohl Rüge-, Warn- und Hinweisfunktion. Nach Erteilung einer Abmahnung muss dem Arbeitnehmer noch ausreichend Zeit bleiben, das beanstandete Verhalten aufzugeben. Die erforderliche Abmahnung ist konstitutiv für den Kündigungsgrund. Bei Fehlen einer erforderlichen Abmahnung ist die Kündigung unwirksam (BAG, Urteil vom 7. Juli 2005 – 2 AZR 581/04).

Hier lag eine Abmahnung vor Erklärung der Kündigung nicht vor. Die erste Abmahnung vom 21. Juni 2010 ist dem Kläger nach seinen Angaben nicht zugegangen. Die zweite Abmahnung vom 22. Juni 2010 wurde zusammen mit der Kündigung versandt und kann daher ihre Funktion nicht mehr erfüllen. Die Zeugin hatte zwar angegeben, dass sie im Vorfeld mit dem Kläger gesprochen hatte. Es ist auch sehr wahrscheinlich, dass dem Kläger bewusst gewesen ist, dass sein Verhalten nicht toleriert werden wird. Eine Abmahnung war hier trotzdem nicht entbehrlich. Eine Abmahnung kann dann entbehrlich sein, wenn eine grobe Pflichtverletzung der Grund für die Abmahnung war und die Hinnahme der groben Pflichtverletzung durch den Arbeitgeber offensichtlich ausgeschlossen ist, also nicht erwartet werden kann, dass das Vertrauen zwischen den Parteien wiederhergestellt wird, oder wenn im Einzelfall besondere Umstände vorgelegen haben, aufgrund derer eine Abmahnung als nicht erfolgversprechend angesehen werden durfte, so etwa, wenn auch im Fall einer Abmahnung keine Rückkehr des Vertragspartners zu vertragskonformem Verhalten erwartet werden kann (BAG, Urteil vom 10. Juni 2010 – 2 AZR 541/09). Es war nicht von vornherein völlig offensichtlich aussichtslos, dass der Kläger seine Pflichten nach einer Abmahnung einhalten würde. Zwar spricht hier vieles dafür, dass der Kläger die Kündigung durch sein Verhalten provoziert hat. Es handelte sich um einen Vermittlungsvorschlag der Beklagten. Einen nachvollziehbaren Grund, Pausenzeiten nicht einzuhalten, gibt es nicht. Er hat sich nicht gegen die Kündigung gewehrt. Gleichwohl musste dem Kläger hier ausreichend Gelegenheit gegeben werden, sich vertragsgemäß zu verhalten.

Danach lagen die Voraussetzungen für den Eintritt einer Sperrzeit nicht vor. Die Minderung der Leistungen kann nicht auf § 31 Abs. 5 Satz 1 SGB II aF iVm § 31 Abs. 4 Nr. 3b SGB II aF gestützt werden.

Das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau sowie der Bescheid des Beklagten vom 31. August 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. September 2010 waren aufzuheben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht.
Rechtskraft
Aus
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