L 10 R 4799/15

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 2 R 2319/14
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 R 4799/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 27.10.2015 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Kläger begehrt die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer anstelle einer zeitlich befristet bewilligten Rente wegen voller Erwerbsminderung.

Der am 1980 geborene Kläger absolvierte eine zweijährige Ausbildung zum staatlich geprüften datentechnischen Assistenten und war zuletzt als Softwareentwickler tätig. Seit November 2010 ist er arbeitslos und bezog zunächst Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch. Im November und Dezember 2011 befand er sich zur stationären Rehabilitation in der K. -Klinik, Fachklinik für Psychosomatik und Psychotherapie, wo sonstige abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle sowie ein LWS-Syndrom diagnostiziert und die Leistungsfähigkeit des Klägers für seine zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Softwareentwickler sowie für mittelschwere Tätigkeiten mit sechs Stunden und mehr täglich beurteilt wurde (vgl. Entlassungsbericht vom 19.12.2011, M 3 Verwaltungsakte - VA -).

Den ersten Antrag des Klägers auf Rente wegen Erwerbsminderung vom Februar 2012 lehnte die Beklagte nach Einholung eines Gutachtens bei dem Neurologen und Psychiater Dr. M. (Diagnosen: Störung der Impulskontrolle sowie LWS-Syndrom ohne neurologische Symptome oder Defizite; Leistungsfähigkeit von sechs Stunden und mehr; wegen der Nichtdurchführung der nach Entlassung aus der stationären Rehabilitationsmaßnahme dringend für erforderlich erachteten Therapie bestehe keine quantitative Leistungsminderung auf Dauer) ab.

In dem sich hieran anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Reutlingen (Az.: S 12 R 2067/12) holte das Gericht ein Gutachten bei dem Neurologen und Psychiater Dr. P. ein, der bei dem Kläger eine soziale Anpassungsstörung bei einer komplexen Persönlichkeitsstörung mit emotional instabilen, histrionischen, selbstunsicheren-unreifen Zügen sowie ein chronisches LWS-Syndrom ohne neurologische Ausfälle diagnostizierte und ihn nicht für fähig erachtete, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich zu verrichten, wobei der Sachverständige von der Möglichkeit der Besserung des Gesundheitszustandes und der Leistungsfähigkeit bei Durchführung therapeutischer Maßnahmen ausging. Das von der Beklagten daraufhin abgegebene Teilanerkenntnis auf Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.11.2012 bis 30.04.2015 nahm der Kläger zur Erledigung des Rechtsstreits im Dezember 2013 an.

Den im April 2014 gestellten Antrag des Klägers auf Aufhebung der zeitlichen Befristung und unbefristete Bewilligung seiner Rente wegen Erwerbsminderung (vgl. Bl. 114 VA) lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 08.05.2014 und Widerspruchsbescheid vom 02.09.2014 ab.

Hiergegen hat der Kläger am 11.09.2014 Klage zum Sozialgericht Reutlingen erhoben. Auf seinen Weiterbewilligungsantrag bewilligte die Beklagte dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit über den 30.04.2015 hinaus bis zum 30.04.2018 (vgl. Bescheid vom 19.02.2015, Bl. 35 ff SG-Akte).

Der Kläger hat zur Klagebegründung geltend gemacht, dass er wegen seiner finanziellen Situation nicht in der Lage sei, eine Therapie zu machen. Das Sozialgericht hat zunächst die den Kläger behandelnde Fachärztin für Psychiatrie Dr. B. schriftlich als sachverständige Zeugin befragt, die von einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit emotional instabilen Anteilen vom impulsiven Typ und dissozialen Anteilen sowie einer Anpassungsstörung berichtet hat. Bisher habe keine durchgehende ambulante psychotherapeutische Behandlung aufgenommen werden können, da der Kläger hierzu die Übernahme der Fahrtkosten zu den ambulanten Terminen beim Psychotherapeut durch die Krankenkasse fordere. Eine Besserung sei allenfalls durch eine kontinuierliche, über einen längeren Zeitraum andauernde, intensive psychotherapeutische Behandlung zu erreichen. Die Möglichkeiten, das beim Kläger vorliegende Störungsbild nachhaltig zu beeinflussen, seien bisher nicht ausgeschöpft.

Das Sozialgericht hat ein Gutachten bei der Ärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. M. eingeholt, die anlässlich einer Untersuchung des Klägers am 17.03.2015 eine kombinierte Persönlichkeitsstörung (emotional instabil, dissozial) diagnostiziert und den Kläger für fähig erachtet hat, mittelschwere und zeitweilig auch schwere körperliche Tätigkeiten unter Berücksichtigung qualitativer Leistungseinschränkungen (ohne überwiegenden Publikumsverkehr und ohne erhöhte Verantwortung für Personen und Sachwerte) mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten. Bisher sei keine adäquate Behandlung - weder psychiatrisch noch psychotherapeutisch - in Anspruch genommen worden, weshalb die Sachverständige eine psychotherapeutische und eventuell auch intensivierte medikamentöse Behandlung angeraten hat, von deren Erfolg - so die Sachverständige weiter - auch abhänge, ob die Leistungseinschränkung auf Dauer vorliege.

Mit Urteil vom 27.10.2015 hat das Sozialgericht die - nach Weitergewährung der Rente wegen voller Erwerbsminderung über den 30.04.2015 hinaus bis zum 30.04.2018 mit Bescheid vom 19.02.2015 als Fortsetzungsfeststellungsklage ausgelegte - Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es - gestützt auf die Gutachten des Dr. M. , des Dr. P. und der Dr. M. - ausgeführt, dass wegen der noch bestehenden Besserungsmöglichkeit des Gesundheitszustandes und der Leistungsfähigkeit nicht unwahrscheinlich sei, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden könne. Die finanziellen Schwierigkeiten des Klägers hinsichtlich der Teilnahme an einer ambulanten Therapie seien rechtlich unerheblich.

Gegen das seiner Prozessbevollmächtigten am 02.11.2015 zugestellte Urteil hat der Kläger am 18.11.2015 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt und geltend gemacht, dass seine fehlenden finanziellen Möglichkeiten für die Teilnahme an einer Psychotherapie zu berücksichtigen seien. Eine Behandlung in der Vinzenz-von-Paul Klinik in Rottweil sei im November 2015 abgebrochen worden, weil die A. ihn nicht von der Zuzahlung (10 EUR pro Tag) befreit habe. Im Übrigen seien die Ärzte dort sicher, dass bei einem Klinikaufenthalt keine Gesundung erreicht werden könne. Die Beklagte habe die Gewährung einer Rehamaßnahme abgelehnt, weil sie keine geeignete Klinik habe oder die Behandlung keinen Erfolg verspreche.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 27.10.2015 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides 08.05.2014 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 02.09.2014 zu verurteilen, ihm Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.

II.

Der Senat entscheidet über die nach den §§ 143, 144 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Berufung nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 153 Abs. 4 SGG durch Beschluss, weil er die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.

Im Ergebnis hat das Sozialgericht die Klage zu Recht abgewiesen. Denn mit Erlass des auf Antrags des Klägers ergangenen Bescheides vom 19.02.2015, mit welchem Erwerbsminderungsrente über das ursprüngliche Befristungsende hinaus bis 30.04.2018 bewilligt worden ist, ist die Klage unzulässig geworden, die Berufung somit unbegründet.

Das Sozialgericht hat in seiner Entscheidung zunächst zutreffend dargelegt, dass sich durch Erlass des Bescheides vom 19.02.2015, mit welchem die Beklagte dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung befristet bis 30.04.2018 weitergewährt hat, der hier streitgegenständliche Bescheid vom 08.05.2014 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 02.09.2014 nach § 39 Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) in sonstiger Weise erledigt hat (vgl. Beschluss des erkennenden Senats vom 17.07.2014, L 10 R 2929/13). Denn damit ist die ursprüngliche Ablehnung der Aufhebung der zeitlichen Befristung im Bescheid vom 08.05.2014 bzw. Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderungsrente auf Dauer - so der Widerspruchsbescheid vom 02.09.2014, auf den es nach § 95 SGG ankommt - und damit die zeitliche Begrenzung der Rente gegenstandslos geworden. Entfaltet aber die Rentenablehnung keine Wirkung mehr, ist der Kläger hierdurch auch nicht mehr beschwert, die Anfechtungsklage somit unzulässig, die Berufung somit unbegründet (vgl. Beschluss des erkennenden Senats vom 17.07.2014, a.a.O.). Der Bescheid vom 19.02.2015 ist darüber hinaus nicht gemäß § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden (vgl. Beschluss des erkennenden Senats vom 17.07.2014, a.a.O.).

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist nicht über eine Fortsetzungsfeststellungsklage im Sinne des § 131 Abs. 1 S. 3 SGG zu entscheiden. Der in erster Instanz rechtsanwaltlich vertretene Kläger hat keinen derartigen Antrag gestellt. Nach § 123 SGG hat das Sozialgericht aber nur über die erhobenen Ansprüche entscheiden dürfen.

Lediglich ergänzend weist der Senat darauf hin, dass das Sozialgericht das Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer zu Recht verneint hat. Das Sozialgericht hat die rechtlichen Grundlagen des von dem Kläger geltend gemachten Anspruchs auf Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer gemäß § 102 Abs. 2 Sechstens Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) im Einzelnen dargelegte und - gestützt auf das von der Beklagten im Verwaltungsverfahren eingeholte Gutachten des Psychiaters Dr. M. , das im vorangegangenen Klageverfahren S 12 R 2067/12 eingeholte und beigezogene Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. P. und das vom Sozialgericht im Klageverfahren eingeholte Gutachten der Sachverständigen Dr. M. - zutreffend ausgeführt, dass ein Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer wegen der grundsätzlich noch bestehenden Behandlungsmöglichkeiten in Form psychotherapeutischer und eventuell auch intensiver medikamentöser Behandlung und der damit einhergehenden, nicht auszuschließenden Besserung des Gesundheitszustandes und Leistungsvermögens nicht besteht. Insoweit sieht der Senat deshalb gemäß § 153 Abs. 2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab und weist die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück.

Ergänzend ist anzumerken, dass gerade die beim Kläger führenden psychischen Erkrankungen (soziale Anpassungsstörung bei einer komplexen Persönlichkeitsstörung mit emotional instabilen, histrionischen, selbstunsicheren-unreifen Zügen, vgl. Gutachten des Dr. P. vom August 2013) in ihrer Ausprägung einem ständigen Wandel unterliegen und insoweit insbesondere von der Durchführung fachärztlicher Behandlungen (beispielsweise Psychotherapie, stationäre Behandlungen, Medikation) abhängig sind. So hat auch die behandelnde Psychiaterin Dr. B. bestätigt, dass beim Kläger bei weitem noch nicht alle Behandlungsoptionen ausgeschöpft sind, die geeignet sind, das Störungsbild des Klägers nachhaltig zu beeinflussen (vgl. Bl. 20 SG-Akte). Als grundsätzlich in Betracht kommende Behandlungsmöglichkeit hat Dr. B. eine kontinuierliche länger andauernde, intensive psychotherapeutische Behandlung angeführt.

Es ist auch nicht zu beanstanden, dass das Sozialgericht die vom Kläger behaupteten finanziellen Schwierigkeiten bei der Teilnahme an einer ambulanten Therapie als unerheblich eingestuft hat, da allein das Bestehen möglicher medizinischer Behandlungsoptionen maßgeblich ist. Bei der zu treffenden Prognoseentscheidung kommt es nicht darauf an, dass eine begründete Aussicht auf Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit besteht. Entscheidend ist vielmehr die Möglichkeit, das Leistungsvermögen eines Versicherten auf der Grundlage anerkannter Behandlungsmethoden wiederherzustellen; solange diese Möglichkeit besteht und im Einzelfall keine gesundheitsspezifischen Kontraindikationen entgegenstehen, ist von Unwahrscheinlichkeit der Behebung der Erwerbsminderung nicht auszugehen (vgl. BSG, Urteil vom 29.03.2006, B 13 RJ 31/05 R, in SozR 4-2600 § 102 Nr. 2). Im Übrigen bieten die gesetzlichen Regelungen zu den Zuzahlungen und der Belastungsgrenze nach §§ 61, 62 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) ein differenziertes System, um der finanziellen Leistungsfähigkeit der Versicherten im Einzelfall gerecht zu werden. Damit wird in ausreichendem Maß gewährleistet, dass eine medizinisch indizierte Krankenbehandlung gerade nicht an den finanziellen Möglichkeiten des Versicherten scheitert.

Soweit der Kläger im Berufungsverfahren auf den Leistungen zur medizinischen Rehabilitation ablehnenden Bescheid der Beklagten vom Oktober 2015 verweist (vgl. Bl. 2 LSG-Akte), lässt sich auch hieraus keine rentenberechtigende Leistungseinschränkung auf Dauer ableiten. Denn hierin hat sich die Beklagte zur Begründung der Leistungsablehnung gerade nicht auf die fehlenden Besserungsmöglichkeit der Leistungsfähigkeit berufen. Vielmehr hat die Beklagte in ihrem Hinweis (Seite 2 des Bescheides, vgl. Bl. 4 LSG-Akte) zu Recht darauf hingewiesen, dass bei der beim Kläger bestehenden schweren kombinierten Persönlichkeitsstörung eine medizinische Rehabilitation der Rentenversicherung nicht zur Behandlung geeignet und deshalb nicht erfolgversprechend ist, sondern - wie bereits die Sachverständigen Dr. M. und Dr. P. dargelegt haben - es einer länger dauernden ambulanten sog. Richtlinienverhaltenstherapie mit sozialtherapeutischen Maßnahmen und Anti-Aggressivitätstraining und Impulskontrolltraining bedarf.

Soweit der Kläger anführt, die Ärzte in Rottweil hätten eine Besserungsmöglichkeit im Rahmen eines Klinikaufenthaltes verneint (vgl. Bl. 1 LSG-Akte), ergibt sich auch hieraus kein Anspruch des Klägers auf Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer. Zwar hat Dr. B. mitgeteilt, dass die Aufnahme des Klägers in die Tagesklinik wegen fehlenden Behandlungserfolgsaussichten abgelehnt worden sei (vgl. Bl. 20 SG-Akte). Die Gründe für die fehlenden Erfolgsaussichten lagen jedoch - so Dr. B. - darin, dass das therapeutische Angebot der Tagesklinik zu wenig auf das beim Kläger vorliegende Störungsbild spezialisiert sei (vgl. Bl. 20 SG-Akte). Eine generelle Aussage dahin gehend, es bestünden überhaupt keine Besserungsmöglichkeiten - auch nicht bei einer stationären Behandlung in einer für das Störungsbild des Klägers spezialisierten Klinik - lässt sich hieraus gerade nicht ableiten. Vielmehr hat auch Dr. B. - wie bereits dargelegt - bestätigt, dass noch nicht alle geeigneten Behandlungsoptionen, insbesondere eine kontinuierliche länger andauernde, intensive psychotherapeutische Behandlung, ausgeschöpft sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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