L 11 R 3428/14

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 12 R 3253/12
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 R 3428/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 09.05.2014 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Die 1964 geborene Klägerin ist türkische Staatsangehörige und zog 1990 in die Bundesrepublik Deutschland zu. Beiträge zu einem ausländischen Versicherungsträger wurden nicht entrichtet, auch wurden keine Zeiten einer gesetzlichen Versicherung im Ausland zurückgelegt. Die Klägerin absolvierte keine Berufsausbildung und war zuletzt versicherungspflichtig als Reinigungsfrau beschäftigt und ansonsten als Hausfrau tätig. Bei der Bundesagentur für Arbeit ist sie nicht arbeitssuchend gemeldet.

Die Klägerin beantragte am 26.01.2012 zunächst formlos Rente wegen Erwerbsminderung bei der Beklagten. Diese lehnte den Antrag mit Bescheid vom 10.05.2012 ab. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 13.08.2012 zurück. Grundlage für die Verwaltungsentscheidungen war ein Befundbericht des Klinikums P., Neurologie, aus November 2008, worin ein Drehschwindel als Folge einer funktionellen Störung sowie eine Hemisymptomatik rechts beschrieben worden war. Ein Schlaganfall ist ausgeschlossen worden. Der psychische Befund war unauffällig. Weiter lag ein Befundbericht der behandelnden Orthopäden Dres. W. aus Februar 2012 vor. Darin wurde eine myostatische Insuffizienz der unteren LWS beschrieben und gezielter Muskelaufbau angeraten. Zudem ließ die Beklagte ein Gutachten der Ärztin für Anästhesie und Sozialmedizin, Dr. Sch., erstellen. Die Ärztin untersuchte die Klägerin am 03.05.2012. Bei der Untersuchung berichtete die Klägerin über Kniegelenkschmerzen beidseits, täglich auftretende Rückenschmerzen, Nackenschmerzen ausstrahlend in den rechten Arm und in den Hinterkopf sowie Kopfschmerzen. Sie gab an, dass sich die Beschwerden nach Einnahme von Schmerztabletten bessern würden. Die Gutachterin hat folgende Diagnosen gestellt: &61485; Chronisch rezidivierende Lumbalgien bei Wirbelsäulenfehlhaltung (Skoliose) &61485; belastungsabhängige Kniegelenkschmerzen bei Verdacht auf Innenmeniskusläsion und beginnende Kniegelenksarthrose &61485; rezidivierende Nacken-S.r-Arm-Beschwerden mit Kopfschmerzen einhergehend &61485; Adipositas Grad 1 Dr. Sch. ist auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von einem vollschichtigen Leistungsvermögen für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten ausgegangen.

Gegen die Entscheidung der Beklagten hat die Klägerin am 06.09.2012 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben.

Das Gericht hat den Hausarzt Dr. S., den Chirurgen Dr. E. und den Orthopäden Dr. W. befragt und den Neurologen und Psychiater Dr. Wi. mit der Erstellung eines Gutachtens gem § 106 SGG beauftragt. Der Hausarzt hat mitgeteilt, dass er von einer nur zwei- bis dreistündigen Erwerbsfähigkeit ausgehe und als Schwerpunkt psychische Beeinträchtigungen vermute. Er hat zudem internistische Fremdbefunde sowie seine elektronische Krankenakte vorgelegt, in denen keine schwerwiegenden internistischen Befunde beschrieben worden sind. Eine Behandlung wegen einer psychischen Erkrankung ist nicht aufgeführt. In der Krankenakte ist erstmals im Januar 2013 enthalten, dass die Tochter der Klägerin berichtet habe, dass diese psychisch kaputt sei. Dr. W. hat mitgeteilt, dass eine sitzende, nicht Schulter belastende Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich zuzumuten sei. Zuletzt habe eine Bewegungseinschränkung der rechten Schulter im Vordergrund gestanden. Dr. E. hat die Klägerin zuletzt 2012 wegen Beschwerden im Hals- und Brustwirbelbereich behandelt. Eine Leistungsminderung könne er nicht attestieren.

Der Sachverständige Dr. Wi. hat aufgrund einer Untersuchung am 29.08.2013 eine somatisierte depressive Symptomatik mit chronischer Schmerzsymptomatik bei unauffälligem klinisch neurologischem Befund sowie normalem EEG Befund diagnostiziert. Die Klägerin hat bei der Untersuchung einen strukturierten Tagesablauf beschrieben und mitgeteilt, dass keine fachpsychiatrische Behandlung durchgeführt werde. Sie erhalte Beruhigungsmittel vom Hausarzt und Schmerzmittel und fühle sich bei noch neun Kindern im Haushalt überfordert. Der Gutachter ist der Auffassung gewesen, dass Arbeitsunfähigkeit aber keine Leistungsunfähigkeit vorliege. Er hat eine psychiatrisch-psychotherapeutische Mitbehandlung mit Verordnung eines modernen Antidepressivum empfohlen und ausgeführt, dass nach aller Erfahrung spätestens drei Monate nach Beginn einer kompetenten ambulanten Behandlung mit einer deutlichen Besserung der Symptomatik zu rechnen sei, so dass davon ausgegangen werden könne, dass die Klägerin dann wieder leichte und nur teilweise mittelschwere Frauenarbeiten bei Verzicht auf Schicht-, Akkord- und Nachtarbeitsbedingungen durchaus vollschichtig werde ausüben können. Leichte Hilfstätigkeiten zB als Produktionshelferin oder Küchenhelferin bei Beachtung der qualitativen Einschränkungen seien zumutbar. Wegefähigkeit sei gegeben. In einer ergänzenden Stellungnahme hat Dr. Wi. zudem darauf hingewiesen, dass bei ernsthafter Mitarbeit der Klägerin an einer Verbesserung der Situation mit einer deutlichen Besserung gerechnet werden könne. In Betracht komme neben einer medikamentösen Behandlung eine Verhaltenstherapie. Von einer Chronifizierung könne noch nicht gesprochen werden.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 09.05.2014 abgewiesen und sich in der Begründung unter anderem auf die Ausführungen des Gutachters gestützt. Im Vordergrund stünden eindeutig die Beschwerden im psychischen Bereich. Gegen das der Klägerbevollmächtigten am 21.07.2014 zugestellte Urteil hat diese am 14.08.2014 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt und beantragt, den Orthopäden Dr. N. sowie den Neurologen und Psychiater Dr. V. gem § 109 SGG mit der Erstellung von Gutachten zu beauftragen. Das Gericht hat daraufhin zunächst von Dr. N. gemäß § 109 SGG ein Gutachten eingeholt und anschließend Dr. V. gemäß § 106 SGG als Gutachter bestellt.

Dr. N. hat die Klägerin am 15.04.2015 untersucht und folgende Diagnosen auf seinem Fachgebiet gestellt: &61485; subjektiv, unter diskonkordanter Darbietung geklagte Auslenkungsschmerzen und anzunehmend funktionell ausgeweitete Hand-/Armschonung rechts ohne nachweisliche Umfangsminderung, ohne Lähmung oder für den alltagsüblichen Bereich wesentliche ableitbare Gebrauchseinschränkung bei radiologisch möglichem knöchernen Impigement &61485; keine über die Altersnorm hinausgehende degenerative Verschleißveränderungen der LWS, mäßige Seitauslenkung der LWS, ohne aktuelle Wurzelreizsymptomatik, ohne sensomotorisches Defizit und ohne aktuell bedeutsame Funktionsbehinderung bei erheblichem Übergewicht und derzeit fehlendes statomyalgische Belastungsbeschwerden bei abträglichen Haltungen/Belastungen und ohne aktuelle Rückwirkung für leichte Verweisungstätigkeiten &61485; radiologisch mittelgradig ausgeprägte Gonarthrose links, klinisch und sonographisch ohne Reizzeichen, ohne nachweisliche Schonungszeichen, ohne Bewegungslimitierung, mit geklagten Belastungsschmerzen, laut MRT beginnende degenerative Knorpelveränderungen mit/bei Innenmeniskusriss rechtes Knie &61485; als Nebendiagnosen ohne wesentliche Rückwirkung auf das Leistungsvermögen für den allgemeinen Arbeitsmarkt: Zn Sterilisation und nicht näher bekannter Eierstockentfernung wegen Zyste; 23.12.2011 diagnostische Laparoskopie und Nabelbruchverschlussoperation; Plattfuß beidseits, mitgeteilter Fersensporn rechts

Der Sachverständige ist der Ansicht gewesen, dass mindestens leichte Tätigkeiten im Wechsel zwischen Sitzen, Stehen, Gehen und dabei auch überwiegend sitzend auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt chirurgisch-orthopädisch und integrierend unter Ausklammerung des nervenärztlichen Fachgebiets vollschichtig leidensgerecht seien. So seien unter anderem die Tätigkeiten als Pförtnerin an der Nebenpforte, als Poststellenmitarbeiterin, einfache Prüftätigkeiten, einfache sitzende Montier-/Sortiertätigkeiten sowie leichte Hilfsarbeiten zumutbar.

Dr. V. hat die Klägerin bei Anwesenheit eines türkisch sprechenden Dolmetschers am 30.10.2015 untersucht und eine somatoforme Schmerzstörung sowie den Verdacht auf schmerzmittelinduzierte Kopfschmerzen diagnostiziert. Die Klägerin hat angegeben, dass sie bislang einmal einen privatärztlichen Psychiater aufgesucht habe. Der Gutachter hat folgenden psychischen Befund beschrieben: während Befragung ruhig im Stuhl, starke Schmerzäußerungen bei Aktion und Berührung, Stimmung traurig, wenig auslenkbar, keine affektive Labilität, Psychomotorik unauffällig, Auffassung nicht gestört, keine ausgeprägte Antriebsstörung. Er ist der Ansicht gewesen, dass keine ausgeprägte depressive Symptomatik vorliege und die somatoforme Schmerzstörung bislang nicht behandelt sei. Auch die jahrelange fehlende Vorstellung bei einem Facharzt spreche gegen einen erheblichen Leidensdruck. Leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt seien mehr als sechs Stunden täglich möglich.

Die Klägerin und insbesondere deren Tochter sind der Ansicht, dass eine Leistungsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr vorliege.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 09.05.2014 sowie den Bescheid vom 10.05.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.08.2012 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 01.02.2012 Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Berichterstatter hat die Sach- und Rechtslage mit dem Beteiligten am 16.02.2016 erörtert. Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalt und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die nach den §§ 143, 144, 151 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist statthaft und zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet.

Gegenstand der Berufung ist der Bescheid der Beklagten vom 10.05.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.08.2012, mit dem der Antrag der Klägerin auf Rente wegen Erwerbsminderung abgelehnt worden ist.

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen, da der Bescheid rechtmäßig ist und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung und auch nicht auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit.

Versicherte haben gemäß §§ 43 Abs 1, Abs 2 SGB VI bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller bzw. teilweise Erwerbsminderung, wenn sie 1. voll bzw teilweise erwerbsgemindert sind, 2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und 3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs 3 SGB VI).

§ 240 SGB VI dehnt aus Gründen des Vertrauensschutzes den Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung auf vor dem 02.01.1961 geborene und berufsunfähig gewordene Versicherte aus, wenn die sonstigen Voraussetzungen des § 43 SGB VI erfüllt sind. Da die Kläger 1964 geboren ist, findet § 240 SGB VI auf sie keine Anwendung.

Die Voraussetzungen des §§ 43 Abs. 1, Abs. 2 SGB VI liegen bei der Klägerin nicht vor. Sie ist nicht erwerbsgemindert. Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass die Klägerin noch mindestens leichte Arbeiten im Wechsel zwischen Sitzen, Stehen, Gehen und dabei auch überwiegend sitzend auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mindestens sechs Stunden arbeitstäglich verrichten kann. Nicht mehr zumutbar sind Arbeiten mit Ersteigen von Leitern und Gerüsten, ununterbrochenes Gehen oder Stehen, Arbeiten auf unebenem Boden und schiefen Ebenen, Arbeiten unter ungünstigen Einflüssen von Vibration/Erschütterung und Witterung, mit erhöhter Unfall- oder Verletzungsgefahr, im Knien und in der Hocke, Arbeiten im Akkord, in Nachtschichten sowie Tätigkeiten mit besonderen Anforderungen an Konzentration und Gedächtnis oder mit Kundenkontakt. Auch wenn die Benennung von konkreten Verweisungstätigkeiten nicht erforderlich ist, so kann die Klägerin nach Auffassung des Senats noch einfache Prüftätigkeiten, einfache sitzende Montier-/Sortiertätigkeiten oder andere vergleichbare Hilfstätigkeiten vollschichtig ausüben. Bei dieser Einschätzung stützt sich der Senat insbesondere auf die schlüssigen und überzeugenden Ausführungen der Gutachter Dr. Wi., Dr. N. und Dr. V., die auch im Einklang mit der Einschätzung des behandelnden Orthopäden Dr. W. stehen.

Dagegen kann die Leistungseinschätzung des Hausarztes Dr. S. nicht überzeugen. Der Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit eines Versicherten durch gerichtliche Sachverständige kommt nach ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl Urteile vom 18.06.2013, L 11 R 506/12; 17.01.2012, L 11 R 4953) grundsätzlich ein höherer Beweiswert zu als der Einschätzung der behandelnden Ärzte. Bei der Untersuchung von Patienten unter therapeutischen Gesichtspunkten spielt die Frage nach der Einschätzung des beruflichen Leistungsvermögens in der Regel keine Rolle. Dagegen ist es die Aufgabe des Sachverständigen, die Untersuchung gerade im Hinblick darauf vorzunehmen, ob und in welchem Ausmaß gesundheitliche Beschwerden zu einer Einschränkung des beruflichen Leistungsvermögens führen. In diesem Zusammenhang muss der Sachverständige auch die Beschwerdeangaben eines Versicherten danach überprüfen, ob und inwieweit sie sich mit dem klinischen Befund erklären lassen. Im Übrigen hat Dr. S. den Schwerpunkt der gesundheitlichen Einschränkungen bei der Psyche nur vermutet und das aufgehobene Leistungsbild alleine auf diese Vermutung gestützt. Eine umfangreiche psychische Befunderhebung bei Dr. S. ist nicht aktenkundig. Schwerwiegende internistische oder sonstige Befunde lassen sich weder aus den von ihm beigefügten Befundberichten noch aus seiner elektronischen Karteikarte entnehmen. Deshalb ist seine Leistungseinschätzung nicht schlüssig.

Der Schwerpunkt der gesundheitlichen Beeinträchtigungen liegt ausweislich sämtlicher Gutachter und der behandelnden Ärzte auf dem psychischen Fachgebiet. Für eine Leistungsminderung relevante pathologische internistische oder neurologische Befunde liegen nicht vor. Insbesondere hat sich 2008 der Verdacht auf einen Hirnstamminsult nicht erhärtet. Die neurologische Untersuchung im Klinikum P. im November 2008 ergab einen psychisch und neurologisch unauffälligen Befund. Die Ärzte gingen von einer funktionellen Störung als Ursache für den geklagten Drehschwindel aus. Auch Dr. Wi. beschrieb anlässlich seiner Begutachtung im August 2013 einen neurologisch unauffälligen Befund. Die bei der Untersuchung durch Dr. V. gezeigten neurologischen Einschränkungen (ua positives Wurzelreizzeichen nach Lasegue) waren in sich nicht konsistent. So war zB der Langsitz möglich.

Eine zeitliche Leistungsminderung lässt sich auch nicht mit den bei der Klägerin bestehenden chirurgisch-orthopädischen Gesundheitsstörungen begründen. Darauf hat bereits der behandelnde Orthopäde Dr. W. hingewiesen, nach dem zuletzt eine Einschränkung der Funktion der rechten Schulter im Vordergrund stand. Auch Dr. E., bei dem die Klägerin bis 2012 in Behandlung war, hat keine schwerwiegenden orthopädischen Befunde beschrieben. Dies steht im Einklang mit den Ergebnissen der Untersuchung durch Dr. Sch. im Mai 2012 und den Befunden anlässlich der Begutachtung durch Dr. N. im April 2015. Dort zeigte sich an der rechten Schulter trotz Schmerzen keine wesentliche Gebrauchseinschränkung, an der Wirbelsäule keine bedeutsame Funktionsbehinderung, ein erhebliches Übergewicht und am linken Knie bei Gonarthrose eine fehlende Bewegungslimitierung. Diese gesundheitlichen Einschränkungen rechtfertigen ausschließlich die oben beschriebenen qualitativen Leistungseinschränkungen.

Aber auch unter Zugrundelegung der bestehenden psychiatrischen Gesundheitsstörungen lässt sich keine zeitliche Einschränkung der Leistungsfähigkeit begründen. Wie Dr. V. in Übereinstimmung mit Dr. Wi. nachvollziehbar ausgeführt hat, liegt bei der Klägerin eine somatoforme Schmerzstörung vor. Darüber hinaus besteht der Verdacht auf schmerzmittelinduzierte Kopfschmerzen. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats (zB Urteile vom 14.12.2010, L 11 R 3243/09, 20.07.2010, L 11 R 5140/09, 24.09.2009, L 11 R 742/09) wird der Schweregrad psychischer Erkrankungen und somatoformer Schmerzstörungen aus den daraus resultierenden Defiziten im Hinblick auf die Tagesstrukturierung, das allgemeine Interessenspektrum und die soziale Interaktionsfähigkeit abgeleitet und daran gemessen. Es ist jedoch zu beachten, dass die Tagesstrukturierung mit jedem Gutachten dürftiger ausfallen kann. Außerdem ist zu berücksichtigen, ob und in welcher Form der Betroffene versucht, einem sich aus der Schmerzstörung ergebenden Leidensdruck durch angemessene therapeutische Bemühungen entgegenzuwirken. Solange zumutbare Behandlungsmöglichkeiten auf psychischem bzw psychiatrischem Gebiet gar nicht versucht werden und noch ein entsprechend erfolgversprechendes Behandlungspotential besteht, kann eine dauerhafte quantitative Leistungsminderung grundsätzlich nicht auf eine aktuell Arbeitsunfähigkeit verursachende psychische Erkrankung gestützt werden (BayLSG 15.02.2012, L 19 R 774/06; hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, BVerfG 29.05.2013, 1 BvR 1522/12, BVerfGK 20, 139; siehe auch Senatsurteil vom 22.04.2015, L 11 R 5112/14; LSG Berlin-Brandenburg 18.09.2008, L 3 R 1816/07, juris RdNr 36).

Bei allen Begutachtungen im Verwaltungs-, Klage- und Berufungsverfahren ließ sich allenfalls ein leichtgradig depressiver Befund feststellen. Eine Tagesstruktur ist vorhanden. Die Klägerin bewältigt auch ihren Alltag, wenn auch mit Einschränkungen und Gefühl der Überforderung insbesondere bei der Erziehung von derzeit noch neun Kindern, die im Haushalt leben. Hinzu kommt, dass es im Hinblick auf die von der Klägerin vorgebrachten psychischen Gesundheitsstörungen derzeit vollständig an einer leitlinienorientierten Behandlung fehlt. Die Klägerin ist nicht in fachpsychiatrischer Behandlung, eine stationäre psychiatrische Behandlung wie auch eine Psychotherapie oder medikamentöse Therapie fanden in der Vergangenheit niemals statt. Die jahrelang fehlende Therapie spricht deshalb gegen einen erheblichen Leidensdruck. Vielmehr spricht für den Senat in Übereinstimmung mit Dr. Wi. vieles dafür, dass mithilfe einer der Klägerin zumutbaren psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung bzgl der depressiven Symptomatik wie auch die Schmerzsymptomatik innerhalb sehr kurzer Zeit (bis zu drei Monaten) mit einer deutlichen Besserung zu rechnen wäre. Es liegt also auch kein Dauerzustand (mehr als sechs Monate) vor. Nicht nachvollziehbar für den Senat ist das Argument der Klägerin, sie bekomme keinen Therapieplatz. Denn sie hat sich trotz zwischenzeitlich vierjährigem Verwaltungs- und Gerichtsverfahren erst ein einziges Mal bei einem privatärztlich abrechnenden Psychiater vorgestellt.

Anhaltspunkte dafür, dass vorliegend in der Person der Klägerin eine Summierung ungewöhnlicher Leistungsbeeinträchtigungen oder eine spezifische Leistungsbeeinträchtigung gegeben wäre, bestehen nicht. Den qualitativen Beschränkungen wird zum großen Teil bereits durch den Umstand, dass nur leichte Arbeiten zumutbar sind, Rechnung getragen. Schließlich ist hier auch nicht von einem verschlossenen Arbeitsmarkt im Sinne der Rechtsprechung des BSG und der dort aufgestellten Kriterien auszugehen (siehe BSG 30.11.1983, 5a RKn 28/82, BSGE 56, 64, SozR 2200 § 1246 Nr 110; siehe insbesondere auch hierzu den bestätigenden Beschluss des Großen Senats vom 19.12.1996, BSGE 80, 24, SozR 3-2600 § 44 Nr 8; siehe auch BSG 05.10.2005, B 5 RJ 6/05 R, SozR 4-2600 § 43 Nr 5). Es war im Übrigen im Hinblick auf das zur Überzeugung des Senats bestehende Leistungsvermögen von mindestens sechs Stunden pro Arbeitstag unter Berücksichtigung nicht arbeitsmarktunüblicher qualitativer Leistungseinschränkungen zu der Frage, inwieweit welche konkrete Tätigkeit der Klägerin noch leidensgerecht und zumutbar ist, keine Prüfung durchzuführen, da die jeweilige Arbeitsmarktlage bei einer Leistungsfähigkeit von sechs Stunden täglich und mehr nicht zu berücksichtigen ist (§ 43 Abs 3 letzter Halbsatz SGB VI).

Der Sachverhalt ist vollständig aufgeklärt; die vorhandenen Gutachten und Arztauskünfte bilden eine ausreichende Grundlage für die Entscheidung des Senats. Die vorliegenden Gutachten von Dr. Wi., Dr. N. und Dr. V. haben dem Senat die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen vermittelt (§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG, § 412 Abs 1 ZPO). Die Gutachten gehen von zutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen aus, enthalten keine unlösbaren inhaltlichen Widersprüche und geben auch keinen Anlass, an der Sachkunde oder Unparteilichkeit der Gutachter zu zweifeln. Im Übrigen stimmen sie in ihrer Leistungsbeurteilung vollständig überein; weitere Beweiserhebungen waren daher von Amts wegen nicht mehr notwendig.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Nr 1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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