S 2 EG 11/13

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
Abteilung
2
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 2 EG 11/13
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 17 EG 4/16
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Unionsbürger sind bis zu einer entgegenstehenden Entscheidung der Ausländerbehörde freizügigkeitsberechtigte Ausländer im Sinne des § 1 Abs. 7 BEEG, da sie sich auf das von den im Rahmen des Binnenmarktes gewährleisteten Grundfreiheiten unabhängige und unmittelbar geltende Freizügigkeitsrecht aus Art. 21 Abs. 1 AEUV berufen können (Anschluss an BFH v. 27.4.2015 – III B 127/14).

2. Eine Prüfung des materiellen Aufenthaltsrechts eines Unionsbürgers im Rahmen der Feststellung der Freizügigkeitsberechtigung im Sinne des § 1 Abs. 7 BEEG erfolgt weder im Verwaltungsverfahren durch die Elterngeldstelle noch im Gerichtsverfahren durch das Sozialgericht, sondern ist der Ausländerbehörde und den Verwaltungsgerichten vorbehalten.

3. Die Übergangsbestimmungen zum EU-Beitritt schränken lediglich die im Rahmen des Binnenmarktes gewährleisteten Grundfreiheiten ein, nicht hingegen das aus der Unionsbürgerschaft abgeleitete Freizügigkeitsrecht aus Art. 21 Abs. 1 AEUV.
Der Bescheid vom 27. November 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1. Februar 2013 wird abgeändert und der Beklagte verurteilt, der Klägerin Elterngeld für den 3.-8. Lebensmonat ihres am 22. Februar 2012 geborenen Kindes K. in Höhe von monatlich 300,00 EUR zu zahlen. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Elterngeld nach dem Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (in der Fassung des Haushaltbegleitgesetzes 2011 vom 9.12.2010, BGBl. I, 1885 – im Folgenden BEEG a.F. –) für den 3. bis 8. Lebensmonat der Tochter der Klägerin.

Die Klägerin ist bulgarische Staatsangehörige und reiste Anfang des Jahres 2011 nach Deutschland zu ihrem Partner, der als Asylbewerber grundsätzlich der Residenzpflicht in Leipzig unterlag. Sie wohnte in der S. Straße, Berlin, und suchte Arbeit, fand aber zunächst keine. Die Klägerin meldete ein Gewerbe im Bereich Küchenhilfe, Gebäudereinigung und Kellnern an. Am 10. November 2011 wurde ihr von der Ausländerbehörde eine Bescheinigung nach § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) ausgestellt. Vom 1. Dezember 2011 bis 31. Januar 2012 war die Klägerin im Rahmen eines befristeten "Subunternehmervertrags" bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 10 Stunden und einer Vergütung von monatlich 100,00 EUR in einer Pizzeria im Bereich "Küchenreinigung – Vorbereitung" tätig. Die Klägerin war ferner in Deutschland nicht krankenversichert; sie hatte bei der Bundesagentur für Arbeit auch keine Arbeitsgenehmigung/EU beantragt. Anfang des Jahres 2012 zog die Klägerin in die O.Straße Berlin, um.

Am 22. Februar 2012 gebar die Klägerin ihre Tochter K.; sie und ihre Tochter wurden in der Folge vom Kinder- und Jugendgesundheitsdienst des Gesundheitsamtes des Bezirksamts Mitte von Berlin betreut. Die Klägerin erhielt keine Mutterschaftsleistungen. Sie beantragte beim Beklagten – unter Angabe ihrer alten Anschrift in der S. Straße – am 12. April 2012 Elterngeld für 12 Lebensmonate ihrer Tochter in Höhe des Mindestbetrags.

Am 21. September 2012 führte der Prüf- und Ermittlungsdienst des Beklagten in der Unterkunft S. Straße einen Hausbesuch durch, bei dem die Klägerin nicht vorgefunden wurde; die angetroffenen Personen gaben an, dass die Klägerin mit ihrer Tochter in der O.Straße wohne. Bei einem anschließenden Hausbesuch in der O.Straße wurden an den Klingelschildern und Briefkästen keine Hinweise auf die Klägerin festgestellt. Mit Bescheid vom 10. Oktober 2012 lehnte der Beklagte die Gewährung von Elterngeld daraufhin mit der Begründung ab, dass sie keinen Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland habe. Dagegen erhob die Klägerin mit Schreiben vom 22. Oktober 2012 Widerspruch, in dem sie ausführte, in der O.Straße zu wohnen; sie legte dem Widerspruch eine Anmeldebestätigung vom selben Tag bei, die einen Einzug in die O.Straße am 15. Oktober 2012 auswies. Daraufhin ließ der Beklagte erneut einen Hausbesuch durchführen, bei dem am 7. November 2012 festgestellt wurde, dass die Klägerin mit ihrer Tochter und dem Kindesvater in der O. Straße lebte.

Sodann bewilligte der Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 27. November 2012 Elterngeld für den 9. bis 14. Lebensmonat der Tochter in Höhe der Mindestbetrags von 300,00 EUR. Den dagegen gerichteten Widerspruch der Klägerin vom 10. Dezember 2011 wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 1. Februar 2013 als unbegründet zurück, weil der Wohnsitz in Deutschland erst ab 15. Oktober 2011 nachgewiesen worden sei.

Mit der am 25. Februar 2013 erhobenen Klage begehrt die Klägerin zuletzt noch die Gewährung von Elterngeld für weitere 6 Lebensmonate ihrer Tochter. Ihren Wohnsitz habe sie nach der Geburt dauerhaft in Berlin gehabt, wie der Kinder- und Jugendgesundheitsdienst bestätigen könne. Mangels einer entgegenstehenden Entscheidung der Ausländerbehörde sei sie als Bulgarin auch freizügigkeitsberechtigt im Sinne des § 1 Abs. 7 BEEG. Ferner könne sich ein Aufenthaltsrecht auch aus § 2 Abs. 3 FreizügG/EU ergeben, da sie ihre Erwerbstätigkeit in der Pizzeria unfreiwillig aufgrund der bevorstehenden Geburt aufgeben musste; im Übrigen ergebe sich ein Aufenthaltsrecht auch daraus, dass sich der Vater der Tochter in Deutschland aufhalte und sein Asylverfahren noch nicht abgeschlossen sei. Das Elterngeld falle schließlich auch unter den Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlamentes und des Rates (VO [EG] 883/2004), so dass sie nicht schlechter als Inländer behandelt werden dürfe.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid vom 27. November 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1. Februar 2013 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, ihr Elterngeld für den 3. bis 8. Lebensmonat ihres am 22. Februar 2012 geborenen Kindes K. zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er trägt vor, dass die Klägerin keine freizügigkeitsberechtigte Ausländerin sei, da ihr kein materielles Aufenthaltsrecht zur Seite stehe. Auch könne sich die Klägerin aufgrund der Rechtsprechung des EuGH in den Rechtssachen Alimanovic und Dano nicht auf den Diskriminierungsschutz aus Art. 4 VO (EG) 883/2004 berufen, weil danach Voraussetzung für die Anwendung des Gleichbehandlungsgebots sei, dass der Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedsstaates die Voraussetzungen der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 (RL 2004/38/EG) erfülle, was bei der Klägerin nicht der Fall sei. Soweit der BFH zuletzt im Bereich des einkommenssteuerrechtlichen Kindergeldes entschieden habe, dass sich Unionsbürger auch im Zeitraum eingeschränkter Freizügigkeit auf das von der Arbeitnehmerfreizügigkeit unabhängige Freizügigkeitsrecht aus Art. 21 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) berufen könnten, so verkenne der BFH, dass das Aufenthaltsrecht aus Art. 21 AEUV nicht vorbehaltlos bestehe, sondern infolge der Umsetzung der RL 2004/38/EG durch das FreizügG/EU eingeschränkt sei. Ferner habe das BSG in drei Entscheidungen am 3. Dezember 2015 im Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende, die dem Elterngeld systematisch näher stünden als die Regelungen zum Kindergeld, entschieden, dass zwischen materieller und formeller Freizügigkeitsberechtigung unterschieden werden müsse und Voraussetzung für einen Anspruch auf Sozialleistungen das Vorliegen eines materiellen Freizügigkeitsrechtes sei. Schließlich konterkariere die Gewährung von Elterngeld an Unionsbürger, die in Deutschland wohnhaft sind, ohne im materiellen Sinne freizügigkeitsberechtigt zu sein, den deutschen und europäischen gesetzgeberischen Willen, eine Einwanderung in das deutsche Sozialsystem ohne eigene wirtschaftliche Grundlage zu verhindern.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der zum Gegenstand der Beratung und Entscheidung der Kammer gemachten Prozessakte, der Verwaltungsakte des Beklagten sowie des beigezogenen Vorgangs des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes des Jugendamtes des Bezirksamts Mitte von Berlin Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 54 Abs. 1 und 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage ist begründet. Der Bescheid vom 27. November 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1. Februar 2013 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch auf die Gewährung von Elterngeld für den 3. bis 8. Lebensmonat ihrer am 22. Februar 2012 geborenen Tochter, denn sie war in diesem Zeitraum eine freizügigkeitsberechtigte Ausländerin.

Nach § 1 Abs. 1 BEEG hat Anspruch auf Elterngeld, wer einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat (Nr. 1), mit seinem Kind in einem Haushalt lebt (Nr. 2), dieses Kind selbst betreut und erzieht (Nr. 3) und keine oder keine volle Erwerbstätigkeit ausübt (Nr. 4). Die genannten Voraussetzungen erfüllte die Klägerin, was zwischen den Beteiligten auch nicht im Streit steht. Soweit der Beklagte zunächst den Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt der Klägerin in Deutschland in Zweifel gezogen hatte, so hat er daran zuletzt nicht mehr festgehalten. Auch die Kammer hat aufgrund der Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung und insbesondere der Vermerke im Vorgang des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes, der regelmäßige (direkt nach der Geburt in etwa wöchentliche und später sodann in etwa monatliche) Vorsprachen der Klägerin und ihrer Tochter zu Beratungs- und Untersuchungsterminen belegt, keinen Zweifel daran, dass die Klägerin nach der Geburt durchgehend mit ihrer Tochter – und auch überwiegend mit dem Kindsvater – in der O.Straße gelebt hat.

Die Klägerin unterfällt darüber hinaus als Unionsbürgerin nicht der einschränkenden Regelung des § 1 Abs. 7 BEEG.

Ob sich dies aus der Anwendung des Gleichbehandlungsgebots der VO (EG) 883/2004 ergibt, kann die Kammer dahingestellt lassen, denn bereits aus der Regelung des § 1 Abs. 7 BEEG selbst ergibt sich deren Unanwendbarkeit auf die Klägerin im vorliegenden Fall. Die Kammer brauchte daher nicht zu entscheiden, ob das Gleichbehandlungsgebot aus Art. 4 VO (EG) 883/2004 eingreift (zwar unterfällt das Elterngeld als Familienleistung gemäß Art. 3 Abs. 1 lit. j der VO [EG] 883/2004 dem sachlichen Anwendungsbereich der Verordnung [vgl. etwa Sächsisches LSG v. 13.11.2013 – L 7 EG 5/12, RdNr. 17; juris], indes kann sich auf das Gleichbehandlungsgebot aus Art. 4 VO [EG] 883/2004 nach der Rechtsprechung des EuGH nur berufen, wessen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats die Voraussetzungen der RL 2004/38/EG erfüllt [so ausdrücklich EuGH in der Rechtssache "Dano" v. 11.11.2014 – C 333/13, RdNr. 69 und 83; juris]; ob die Klägerin, die in den Monaten Dezember 2011 bis Januar 2012 geringfügig erwerbstätig war, sich insoweit auf ein nachgelagertes Aufenthaltsrecht aus Art. 7 Abs. 3 lit. a oder c der RL (EG) 2004/38 berufen kann, erscheint als offen [vgl. LSG Berlin-Brandenburg v. 28.1.2013 – L 14 AS 3133/12 B ER, RdNr. 12 zur unfreiwilligen Arbeitslosigkeit aufgrund einer Schwangerschaft; LSG Berlin-Brandenburg v. 20.5.2008 – L 15 AS 54/08 SO ER, RdNr. 19 und SG Berlin v. 29.6.2012 – S 96 AS 15360/12 ER, RdNr. 25ff. zur Schwangerschaft als einem der Krankheit oder einem Unfall vergleichbaren unbeeinflussbaren Umstand einer vorübergehenden Erwerbsunfähigkeit; vgl. auch SG Aurich v. 30.3.2015 – S 35 AS 237/14 ER, RdNr. 18 zur möglichen unfreiwilligen Arbeitslosigkeit bei einem befristeter Vertrag; jeweils juris]; ein – von der Klägerin in Anlehnung an die Entscheidung des BSG v. 30.1.2013 – B 4 AS 54/11 R, RdNr. 34, juris, vorgebrachtes – Aufenthaltsrecht aus familiären Gründen vor dem Hintergrund, dass das Asylverfahren des Kindsvaters noch nicht abgeschlossen war, wäre insoweit indes ohne Bedeutung, weil es sich dabei weder um ein Aufenthaltsrecht im Sinne der RL [EG] 2004/38 handeln würde, noch daraus eine Freizügigkeitsberechtigung im Sinne des AEUV bzw. des FreizügG/EU abgeleitet werden kann).

Die Voraussetzungen des § 1 Abs. 7 BEEG, der weitere Anforderungen an den Elterngeldbezug bei Ausländern stellt, treffen auf die Klägerin nicht zu. Nach § 1 Abs. 7 BEEG können nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer nur dann anspruchsberechtigt für die Gewährung von Elterngeld sein, wenn sie einen der in § 1 Abs. 7 Nr. 1-3 BEEG benannten Aufenthaltstitel besitzen (wobei "besitzen" nach der Rechtsprechung des BSG die tatsächliche Innehabung des Titels und nicht den bloßen Anspruch auf diesen bedeutet; vgl. BSG v. 28.11.2012 – B 10 EG 14/12 B, 1.OS und RdNr. 7, BSG [Teilurteil] v. 3.12.2009 – B 10 EG 6/08 R, RdNr. 33; juris), denn nach der Intention des Gesetzgebers soll das Elterngeld (wie auch andere Familienleistungen, vgl. § 62 Abs. 2 Einkommenssteuergesetz [EStG], § 1 Abs. 3 Bundeskindergeldgesetz [BKGG] und § 1 Abs. 2a Unterhaltsvorschussgesetz [UhVorschG]) für nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer von deren voraussichtlich dauerhaftem Aufenthalt im Bundesgebiet abhängig sein (vgl. BT-Drs. 16/1889, S. 19 sowie für die anderen Familienleistungen BT-Drs. 16/1368, S. 8f.). Aus der Tatsache, dass die einschränkende Regelung nur für nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer gilt und für freizügigkeitsberechtigte Ausländer keine weitere Sonderregelung existiert, folgt, dass freizügigkeitsberechtigte Ausländer Deutschen gleichgestellt sind und folglich die Anspruchsberechtigung auf Elterngeld allein von der Erfüllung der Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 BEEG abhängt.

Die Klägerin ist als Unionsbürgerin eine freizügigkeitsberechtigte Ausländerin, so dass sie dem Anwendungsbereich des § 1 Abs. 7 BEEG nicht unterfällt. Sie kann sich bis zu einer entgegenstehenden Entscheidung der Ausländerbehörde auf das Aufenthaltsrecht aus Art. 21 AEUV (früher Art. 18 EGV) berufen. Nach § 21 Abs. 1 AEUV hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in diesen Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. Es handelt sich dabei um ein von den im Rahmen des Binnenmarktes gewährleisteten Grundfreiheiten unabhängiges und unmittelbar geltendes Freizügigkeitsrecht (BFH v. 27.4.2015 – III B 127/14, RdNr. 13; BVerwG v. 10.11.1999 – 6 C 30/98, RdNr. 45; jeweils juris; Khan in Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2010, RdNr. 1; Oppermann/Classen/Nettersheim, Europarecht, 6. Aufl. 2014, § 16 RdNr. 15f.; Herdegen, Europarecht, 16. Aufl. 2014, § 12 RdNr. 3).

Es gilt insoweit aufgrund der Tatsache, dass Unionsbürger keinen Aufenthaltstitel benötigen, die generelle Freizügigkeitsvermutung bis die Ausländerbehörde nach §§ 7 Abs. 1, 11 Abs. 2 FreizügG/EU festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht mehr besteht (so ausdrücklich BSG v. 3.12.2015 – B 4 AS 44/15 R, RdNr. 34; juris; s.a. BT-Drs. 15/420, S. 106; Schreiber in ZAR 2015, 46 [49 m.w.N.]). Das Freizügigkeitsrecht endet mithin erst, wenn in einer Entscheidung der Ausländerbehörde das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts festgestellt wird (BFH, a.a.O., RdNr. 14; BSG, a.a.O.). Die förmliche Feststellung obliegt allein den Ausländerbehörden und den Verwaltungsgerichten (vgl. BFH, a.a.O) und damit weder den Sozialleistungsträgern noch den Sozialgerichten, so dass diese im Falle des Nichthandelns der Ausländerbehörde von einem Fortbestehen des Freizügigkeitsrechts ausgehen müssen (vgl. Schreiber, a.a.O.). Insoweit ist es daher auch ohne Belang, dass das Freizügigkeitsrecht des Art. 21 Abs. 1 AEUV, wie vom Beklagten zutreffend vorgebracht, nicht schrankenlos besteht, denn Sozialleistungsträger wie Sozialgerichte haben im Rahmen der Prüfung des Freizügigkeitsrechts bis zu einer entgegenstehenden Entscheidung der Ausländerbehörde von der generellen Freizügigkeitsvermutung auszugehen und besitzen keine Prüfungskompetenz für die Schranken des Freizügigkeitsrechts. Unbeachtlich ist insoweit auch die Tatsache, dass die Klägerin als bulgarische Staatsangehörige, für die in der ersten Beitrittszeit eine Beschränkung der Arbeitnehmer- und der Dienstleistungsfreizügigkeit bestand (vgl. Art. 23 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Bulgarien und Rumäniens und die Anpassungen der Verträge, auf denen die Europäische Union beruht [ABl. EU Nr. L 157 v. 21.5.2005, S. 203; berichtigt ABl. EU Nr. L 347 v. 30.12.2011, S. 62] i.V.m. Anhang VI der Liste nach Artikel 23 der Beitrittsakte [Übergangsbestimmungen, Bulgarien], wobei nach den dortigen Nr. 2 und 13 im streitgegenständlichen Zeitraum sowohl die Arbeitnehmerfreizügigkeit [Nr. 2] als auch die Dienstleistungsfreiheit für das Reinigungsgewerbe und sonstige Dienstleistungen [Nr. 13] für bulgarische Staatangehörige eingeschränkt war), über keine Arbeitsgenehmigung/EU gemäß § 284 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) verfügte, weil § 13 FreizügG/EU in Verbindung mit den besonderen Bedingungen in der Übergangsphase bis zum 31. Dezember 2013 für Staatsbürger der beitretenden Staaten Bulgarien und Rumänien das Freizügigkeitsrecht nicht in Gänze, sondern nur in seiner Ausprägung als Arbeitnehmer-, Niederlassungs- und Dienstleistungsfreizügigkeit (vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 1-3 FreizügG/EU) beschränkte (vgl. auch FG Berlin-Brandenburg v. 22.4.2015 – 12 K 12140/13, RdNr. 19; juris), so dass das aus der Unionsbürgerschaft abgeleitete Freizügigkeitsrecht nach Art. 21 Abs. 1 AEUV davon nicht betroffen ist.

Soweit der Beklagte – insbesondere im Hinblick auf die Entscheidung des BFH v. 27.4.2015 – III B 127/14 zur Kindergeldberechtigung von Unionsbürgern – einwendet, dass das BSG in drei Entscheidungen am 3. Dezember 2015 im Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende, die dem Elterngeld systematisch näher stünden als die Regelungen zum Kindergeld, entschieden habe, dass zwischen materieller und formeller Freizügigkeitsberechtigung unterschieden werden müsse und Voraussetzung für einen Anspruch auf Sozialleistungen das Vorliegen eines materiellen Freizügigkeitsrechtes sei, so trifft dieser Einwand nicht zu. Zunächst ist zu konstatieren, dass die Regelungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende denen des Elterngelds nicht näher stehen, als die des Kindergeldrechts. Dies folgt zum einen daraus, dass es sich beim Elterngeld wie auch beim Kindergeld um Familienleistungen handelt, die der Gesetzgeber im Hinblick auf den Bezug durch Ausländer einheitlich regeln wollte (vgl. BT-Drs. 16/1889, S. 19 sowie BT-Drs. 16/1368, S. 8f.); folglich sind die diesbezüglichen Regelungen der § 1 Abs. 7 BEEG und § 62 Abs. 2 EStG nahezu identisch (wie auch die entsprechenden Regelugen der weiteren Familienleistungen in § 1 Abs. 3 BKGG und § 1 Abs. 2a UhVorschG). Zum anderen sind im Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende gänzlich andere Voraussetzungen zu prüfen, als im Elterngeld- und Kindergeldrecht. Während nach § 1 Abs. 7 BEEG und § 62 Abs. 2 EStG nur nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer besondere Aufenthaltstitel zur Leistungsberechtigung vorweisen müssen und freizügigkeitsberechtigte Ausländer den Deutschen gleichgestellt sind, gilt nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), dass von Leistungen nach dem SGB II Ausländer für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts ausgenommen sind, die weder Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund § 2 Abs. 3 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind (Nr. 1) und Ausländer generell ausgeschlossen sind, wenn sich deren Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt (Nr. 2). Damit gibt das SGB II im Gegensatz zum BEEG – und den Regelungen über die anderen Familienleistungen – ausdrücklich vor, dass eine Prüfung des materiellen Aufenthaltsrechts vorzunehmen ist, wobei es die Ausnahmen von der Leistungsberechtigung explizit an die europäischen Schranken der Freizügigkeit koppelt (s. BT-Drs 16/5065, S. 234, wonach mit den Neuregelungen in § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II die RL 2004/38/EG im SGB II-Leistungsrecht umgesetzt und insbesondere von der Möglichkeit des Leistungsausschlusses nach Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG Gebrauch gemacht werden sollte; vgl. dazu auch BSG v. 3.12.2015 – B 4 AS 44/15 R, RdNr. 17; juris). Eine entsprechende Einschränkung anknüpfend an die europäischen Schranken der Freizügigkeit enthält die Regelung des § 1 Abs. 7 BEEG, die wie auch § 62 Abs. 2 EStG allein an die Freizügigkeitsberechtigung anknüpft, ebenso nicht, wie dort im Übrigen auch keine Verpflichtung und somit gleichfalls Berechtigung zur Prüfung des materiellen Aufenthaltsrechts enthalten ist, weil allein die – generelle – Freizügigkeitsberechtigung feststehen muss.

Dies deckt sich im Übrigen auch mit der Rechtsprechung des unter anderem für den Bereich des Elterngelds zuständigen 10. Senats des BSG, der entschieden hat, dass aufenthaltsrechtliche Fragen nicht im Verwaltungsverfahren oder sozialgerichtlichen Verfahren zu klären sind (BSG v. 28.11.2012 – B 10 EG 14/12 B, RdNr. 7 und BSG [Teilurteil] v. 3.12.2009 – B 10 EG 6/08 R, RdNr. 33 jeweils zu der Frage des Besitzes des Aufenthaltstitels für nicht freizügigkeitsberechtigten Ausländer im Rahmen der parallelen Regelung in § 1 Abs. 6 Bundeserziehungsgeldgesetz [BErzGG]). Gilt indes für nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer, dass diese sich auf den Aufenthaltstitel – unabhängig von dessen Richtigkeit, solange er nicht von der Ausländerbehörde aufgehoben wird – berufen können, so dürfen Unionsbürger, die durch das unmittelbar kraft Primärrecht (vgl. Art. 21 Abs. 1 AEUV) begründete Aufenthaltsrecht, dass einen Aufenthaltstitel nicht voraussetzt (ein solcher Aufenthaltstitel, der die Freizügigkeit konstitutiv feststellt, existiert im Übrigen nicht; die bis 29. Januar 2013 auf der Grundlage des § 5 Abs. 1 FreizügG/EU a.F. erteilte Freizügigkeitsbescheinigung war nach einhelliger Auffassung nur deklaratorischer Natur, vgl. statt aller BSG v. 3.12.2015 – B 4 AS 44/15 R, RdNr. 33f.; juris), privilegiert werden, nicht schlechter stehen (s.a. Schreiber, ZAR 2015, 46 [50f.]). Wie bei nicht freizügigkeitsberechtigten Ausländern erfordert daher Feststellung des Wegfalls des aufgrund der generellen Freizügigkeitsvermutung zunächst bestehenden Freizügigkeitsrechts bei Unionsbürgern, dass eine entsprechende Entscheidung der Ausländerbehörde vorliegt.

Im hiesigen Fall ist die Klägerin daher mangels einer entsprechenden Entscheidung der Ausländerbehörde als freizügigkeitsberechtigte Ausländerin anzusehen. Dies gilt erst Recht vor dem Hintergrund, dass ihr am 10. November 2011 von der Ausländerbehörde eine – wenn auch "nur" deklaratorische – Freizügigkeitsbescheinigung ausgestellt wurde, die ihrerseits nie aufgehoben wurde. Dem steht auch nicht entgegen, dass in den Genuss des Elterngelds – wie auch der anderen Familienleistungen – nach dem Willen des Gesetzgebers nur Ausländer kommen sollen, die voraussichtlich dauerhaft in Deutschland bleiben werden. Denn solange die Ausländerbehörde keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegen Unionsbürger einleitet, spricht – wie auch bei der Klägerin – nichts gegen einen dauerhaften Aufenthalt (wie dies im Übrigen auch für nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer gilt, bei denen zwar der Sozialleistungsträger den Wegfall der Voraussetzungen des Aufenthaltstitels annimmt, dieser aber von der Ausländerbehörde nicht festgestellt worden ist). Daher kann, solange nicht eine entsprechende Feststellung des Wegfalls der Freizügigkeitsberechtigung durch die Ausländerbehörde vorliegt, auch entgegen der Auffassung des Beklagten nicht von einem Konterkarieren des deutschen und europäischen gesetzgeberischen Willens, eine Einwanderung in das deutsche Sozialsystem ohne eigene wirtschaftliche Grundlage zu verhindern, gesprochen werden, wenn Elterngeld an Unionsbürger ohne materielles Aufenthaltsrecht gewährt wird, weil diese sich sodann weiterhin in Deutschland aufhalten dürfen; im Übrigen fehlt dem Beklagten insoweit bereits die dahingehende Prüfungskompetenz, ein Fehlen des materiellen Aufenthaltsrechts bei Unionsbürgern festzustellen.

Der Beklagte war mithin zur Erbringung des Elterngelds in Höhe des Mindestbetrags – wie im Verwaltungsverfahren beantragt – zu verurteilen, denn anzurechnende Mutterschaftsleistungen oder Einkommen im Bezugszeitraum erzielte die Klägerin nicht. Wie beantragt war der Beklagte im Übrigen zur Erbringung des Elterngelds für den 3. bis 8. Lebensmonat zu verurteilen; in Anbetracht der bereits erfolgten Bewilligung für den 9. bis 14. Lebensmonat steht einer Anspruchsberechtigung für die im Klageverfahren begehrten weiteren 6 Monate die Regelung des § 4 Abs. 3 Satz 1 BEEG a.F. nicht entgegen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG und folgt dem Ergebnis der Hauptsache.

Die Berufung ist für den Beklagten gemäß §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG zulässig, weil dessen Beschwerdewert angesichts der Verurteilung zur Erbringung von Elterngeld für 6 weitere Monate in Höhe von jeweils 300,00 EUR den Betrag von 750,00 EUR übersteigt.
Rechtskraft
Aus
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