Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
27
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 141 R 2843/12
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 27 R 802/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ein zehnjähriges Kind das in einem Waisenheim in einem Ghetto lebt konnte Zeiten zurücklegen
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 22. September 2015 geändert. Die Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 5. August 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Juni 2012 verurteilt, die Zeiten vom 1. Januar bis zum 31. März 1944 als glaubhaft gemachte Beitragszeiten nach § 1 ZRBG vorzumerken. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen. Die Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens zu einem Neuntel zu erstatten. Im Übrigen findet keine Kostenerstattung statt. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Vormerkung von Beitragszeiten in der Zeit von Februar 1942 bis März 1944.
Die im Jahr 1933 geborene Klägerin, die heute als israelische Staatsbürgerin in Israel lebt, ist Verfolgte der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Im hier streitbefangenen Zeitraum lebte sie in den Ghettos L und M im Gebiet T.
Erstmals im Februar 1990 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung von Altersrente; dies lehnte die Beklagte damals ab, weil die Klägerin das erforderliche Alter noch nicht erreicht hatte. Zuletzt im März 2010 beantragte die Klägerin bei der Beklagten erneut eine Rente wegen Alters. In dem dabei verwendeten Formular gab die Klägerin an, sie habe in der Zeit von Februar 1942 bis März 1944 im Ghetto L landwirtschaftliche Arbeiten verrichtet.
Die Beklagte zog die Entschädigungsakten des Amtes für Wiedergutmachung in D sowie die Akten der Claims Conference, des Bundesamtes für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen und der Conference on Jewish Claims against Germany, Inc. mit den darin enthaltenen folgenden Erklärungen der Klägerin bei:
a) Eidesstattliche Versicherung zum Antrag auf Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (BEG) vom 23.07.1964: " ... Ich war sehr oft krank, doch weder erhielt ich aerztliche Behandlung, noch waren Medikamente vorhanden. Als ich schließlich im Maerz 1944 befreit wurde, war ich ein krankes, unterernaehrtes Kind." b) Antragsformular auf Versichertenrente aus der deutschen Rentenversicherung, Antrag vom 07.08.1990, unter dem Punkt 4) a) Freiheitsentziehung: "September 1941 bis Winter 1943" c) Bericht über die Feststellung der deutschen Sprach- und Kulturzugehörigkeit, Schriftprobe vom 19.06.1991: "Im Jahre 1944 bis 1951 habe ich im Weisenhaus gelebt, weil ich ein Weisenkind war." Unter Punkt 12. Ergebnis der Befragung wird dort zusammenfassen ausgeführt: " Die AST wurde im Alter von 8 Jahren von der Verfolgung erfasst. Der Vater kam in der Verfolgung um und in den Kriegswirren kam sie ihrer Mutter abhanden. Sie geriet in ein Waisenhaus und verblieb dort bis 1950." d) Fragebogen für die Claims Conference vom 24.02.1993: " Wir litten alle an Hunger und um etwas zu essen zu erlangen, verrichtete meine Mutter alle möglichen Arbeiten bei der örtlichen Bevölkerung und ich und meine Geschwister bettelten. Ich sammelte Brennessel um eine Brühe zu machen und erkrankte ernsthaft. 2 Brüder sind dem Hunger erlegen und unsere Mutter verließ uns da wir als Dorfwaise die Chance hatten in ein Kinderheim von Saint Herein zu kommen ". e) Eidesstattliche Versicherung vom 12.03.1998: " Mit einem von meiner Brueder wurde ich später in ein Waisenhaus aufgenommen und im März 1944 wurden wird befreit." f) Antrag auf "Anerkenntnisleistung an Verfolgte für Arbeit in einem Ghetto, die keine Zwangsarbeit war und bisher ohne sozialversicherungsrechtliche Berücksichtigung geblieben ist" beim Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen vom 21.12.2008 unter Punkt 3.4.c): "Ich wurde zusammen mit der Familie aus S, B, R durch A, M, T, U und L ins Ghetto L, T, U, deportiert, wo ich mich im Waisenhaus vom 1941 bis 1944 befand. Es gelang mir dort die Arbeit zu finden. Ich grub Gruben fuer die Toiletten für die Soldaten. Fuer meine Arbeit erhielt ich nur aermliche Ernaehrungsmitteln." Unter Punkt 4) wird ausgeführt, dass die Klägerin Gruben für die Toiletten der Soldaten ausgegraben habe. Diese Arbeit habe sie sich selbst gesucht (4.4). g) Antrag auf Altersrente für ehemalige Ghettobeschäftigte mit Wohnsitz im Ausland vom 10.03.2010 unter Punkt 4: Die Klägerin gibt an, sich von Februar 1942 bis März 1944 im Ghetto L aufgehalten und landwirtschaftliche Arbeiten auf Feldern/Judenrat ausgeübt zu haben. h) Eidesstattliche Erklärung vom 22.05.2011: " Vom Oktober 1941 bis Maerz 1944 befanden wir uns im Ghetto L. Die Bedingungen dort waren sehr schlecht und da wir keine Habseligkeiten hatten, um sie zu tauschen, bettelten wir am Anfang. Aber es konnte nicht lange dauern und meine Mutter bat beim Judenrat Arbeit und erfuellte verschiedene landwirtschaftliche Arbeiten, ich half ihr. Dafuer erhielten wir Mittagessen täglich und zusaetzliche Lebensmittel woechentlich. Und spaeter, als ich schon im Kinderheim war, hatten wir auch gearbeitet und es waren auch landwirtschaftliche Arbeiten, weil es in so kleinem Dorf keine anderen Arbeiten gab. In den Angaben fuer Claims Conference habe ich nur erzaehlt, dass wir hungerten und bettelten und ich hielt es nicht fuer wichtig ueber meine freiwillige Arbeit zu erzaehlen."
Den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Altersrente lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 5. August 2011 ab: Eine Rente aus Beschäftigungszeiten in einem Ghetto in T nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) sei nicht möglich, weil die Beitragszeiten nicht glaubhaft gemacht worden seien. Die Angaben der Klägerin enthielten Widersprüche gegenüber den Angaben im Entschädigungsverfahren. Es liege zudem keine eigenständige, von der Arbeit der Familienangehörigen abgrenzbare und eigens entlohnte Tätigkeit vor, die Klägerin habe vielmehr ihrer Mutter bei der Arbeit geholfen. Den Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit ähnlicher Begründung durch Widerspruchsbescheid vom 11. Juni 2012 zurück.
Mit ihrer zum Sozialgericht erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Ziel weiter verfolgt, eine Rente wegen Alters unter Berücksichtigung der Beitragszeiten aus den Ghettos L und M zu erhalten.
Hierzu hat sie im Verlaufe des erstinstanzlichen Verfahrens drei eidesstattliche Erklärungen zu den Gerichtsakten gereicht.
Ihre eidesstattliche Erklärung vom 26. Dezember 2012 hatte folgenden Wortlaut:
"Waehrend des Krieges war ich in 2 Ghettos: L und M. Es war sehr schweres Leben. Da wir keine Habseligkeiten hatten, mussten wir am Anfang unseres Aufenthaltes in L betteln. Meine Mutter musste auch Zwangsarbeiten erfuellen und sie hat Gruben ausgehoben. Ich habe solche Arbeiten nicht erfuellt, ich war zu klein dafuer. Meine Mutter hat solche Arbeiten ein-, zweimal in der Woche gemacht. Aber, um etwas zu verdienen, mussten wir doch arbeiten. Mit Hilfe vom Judenrat hat meine Mutter landwirtschaftliche Arbeiten bekommen, bei diesen Arbeiten habe ich ihr geholfen. Dafuer erhielten wir Mittagessen und zusaetzliche Lebensmittel. Und spaeter im Ghetto M, als ich schon im Kinderheim war, habe ich auch landwirtschaftliche Arbeiten erfuellt, und in solch kleinem Dorf gab es keine andere Arbeit. Frueher habe ich ueberhaupt ueber meine freiwillige Arbeit nicht erzaehlt, damals wollte ich nur zeigen, dass wir hungerten."
Eine weitere, nicht datierte, am 17. April 2015 bei Gericht eingegangene eidesstattliche Erklärung hatte folgenden Wortlaut:
"Ich befand mich in T vom Oktober 1941 bis Maerz 1944. Bis zum Ende 1943 war ich im Ghetto L und vom Februar 1942 bis Ende 1943 erfuellte ich mit meiner Mutter zusammen landwirtschaftliche Arbeiten, Zwangsarbeiten (Toiletten fuer die Soldaten aufheben) habe ich nicht erfuellt, das ein-, zweimal in der Woche meine Mutter gemacht hat. Ich war zu jener Zeit 8-9 Jahre alt. Wenn ich solches angegeben hatte, bitte ich um Entschuldigung. Vom ende 1943 bis 03.1944 befand ich mich im Kinderheim im Ghetto M, wo ich auch mit anderen Kindern landwirtschaftliche Arbeiten erfuellt hatte."
Eine weitere, am 22. Juli 2015 und ebenfalls undatierte eidesstattliche Erklärung hatte folgenden Wortlaut:
"Wie ich schon geschrieben hatte, habe ich in 2 Ghettos-L und Murafa landwirtschaftliche Arbeiten erfuellt, dafuer bekam ich zusaetzliche Lebensmittel. Meine Mutter musste ausser der landwirtschaftlichen Arbeiten auch ein-, zweimal in der Woche Zwangsarbeiten erfuellen. Sie hat Gruben ausgehoben. Da ich noch klein war, hat man mich zu Zwangsarbeiten nicht geschickt und ich halbe solche Arbeiten nicht erfuellt. Mein VS habe ich mit dem VS meiner Mutter nicht verwechselt. Wir haben beide landwirtschaftliche Arbeiten erfuellt. Ich habe nur ihre Zwangsarbeiten auch mir zugeschrieben, damit mein VS schrecklicher darstellen. Mein VS war wirklich schrecklich, aber nicht in solchem Grade, wie bei meiner Mutter."
Mit Urteil vom 22. September 2015 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen: Zwar könnten auch Kinder im geringeren Lebensalter beitragspflichtige Versicherungszeiten, insbesondere in Ghettos, zurückgelegt haben. Im vorliegenden Fall seien jedoch die Voraussetzungen weder für die Zeit in dem Kinderheim in dem Ghetto M noch für die Zeit in dem Ghetto L glaubhaft gemacht worden, weil es mehrere Möglichkeiten des Geschehensablaufes gebe, von denen keine überwiegend wahrscheinlich sei.
Mit ihrer Berufung zum Landessozialgericht verfolgt die Klägerin ihr Ziel weiter. Sie macht geltend, die widersprüchlichen Angaben in Entschädigungsverfahren einerseits und Rentenverfahren andererseits seien auf Erinnerungsschwierigkeiten und auf die unterschiedlichen Zielrichtungen des Entschädigungsrechts einerseits und des Rentenrechts andererseits zurückzuführen. Im Hinblick auf die Verhältnisse in den Ghettos in T bezieht sie sich außerdem auf ein von ihr zu den Akten gereichtes Gutachten zur geopolitischen Verordnung der Verfolgungsstätten W/T und G/T bei der Besatzung der während des 2. Weltkriegs eroberten Gebiete der UdSSR im Zuge der deutsch-rumänischen Allianz und der Verfolgungsgeschichte vor Ort, das im Auftrage des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in einem Rechtsstreit zum Aktenzeichen L 18 KN 156/13 erstattet worden war.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 7. April 2016 haben die Beteiligten einen Teilvergleich hinsichtlich der Rentengewährung geschlossen. Danach wird die Frage der Rentengewährung im vorliegenden Rechtsstreit nicht weiter verfolgt. Die Beklagte wird nach Abschluss des Vormerkungsverfahrens unter Zugrundelegung von dessen Ergebnis einen neuen Bescheid über die Rentengewährung erteilten. Hierbei wird sie von einer Antragstellung im Jahr 2010 ausgehen und sich weder auf Verwirkung noch auf Verjährung noch auf sonstige zeitliche Ausschlussgründe berufen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 22. September 2015 zu ändern und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 5. August 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Juni 2012 zu verurteilen, die Zeit von Februar 1942 bis März 1944 als glaubhaft gemachte Beitragszeit nach § 1 ZRBG vorzumerken.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsakten der Beklagten, die im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG), der jetzt nur noch geltend gemachte Vormerkungsanspruch ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang auch gegeben. Für den Zeitraum von Januar bis März 1944 sind die Tatbestandsvoraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG erfüllt. Nach dieser Vorschrift gilt das ZRBG
"für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben, wenn 1. die Beschäftigung a) aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist, b) gegen Entgelt ausgeübt wurde und 2. das Ghetto sich in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war, soweit für diese Zeiten nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird."
Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin in dem Zeitraum Januar bis März 1944. Sie ist Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes. Sie hielt sich zwangsweise im Zeitraum auch von Januar bis März 1944 im Ghetto M auf, das sich im damals deutsch besetzten Gebiet T befand. Der Aufenthalt der Klägerin im Ghetto M ist glaubhaft gemacht, denn er ist überwiegend wahrscheinlich. Zwar hat die Klägerin in früheren Angaben nur das Ghetto L erwähnt, jedoch ist im Zusammenhang aller Erklärungen von Anfang an deutlich geworden, dass die Klägerin sich jedenfalls ab dem Ende des Jahres 1943 in einem Waisenheim aufgehalten hat, das sich im Ghetto M befand.
Es liegt ferner eine "Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto" im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG vor. Diese Formulierung ist so zu verstehen, dass jegliche Beschäftigung innerhalb und außerhalb des räumlichen Bereichs eines Ghettos darunter fällt, die von Verfolgten ausgeübt wurde, während sie sich zwangsweise in einem Ghetto aufgehalten haben (Bundessozialgericht, Urteil vom 2. Juni 2009, B 13 R 139/08 R, juris Rn. 16 m.w.N.). Die Klägerin übte zwar die Beschäftigung außerhalb des räumlichen Bereichs des Ghettos, nämlich in landwirtschaftlichen Betrieben aus, sie hielt sich aber während dieser Zeit zwangsweise in einem Ghetto auf.
Schließlich werden die von der Klägerin geltend gemachten Ghetto-Beitragszeiten auch nicht in der israelischen Nationalversicherung oder in einem anderen System der sozialen Sicherheit rentensteigernd berücksichtigt (§ 1 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbs. ZRBG).
Die Klägerin hat im fraglichen Zeitraum auch eine aus eigenem Willensentschluss zustande gekommene Beschäftigung ausgeübt (§ 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. A ZRBG). Dies ist glaubhaft gemacht, weil sich mit überwiegender Wahrscheinlichkeit aus der Zusammenschau der von der Klägerin abgegebenen Erklärungen für den hier fraglichen Zeitraum von Januar bis März 1944 ergibt, dass die Klägerin in betrieblicher Eingliederung Arbeiten durchgeführt hat, die nicht als Zwangsarbeiten anzusehen waren. Die Tatsache, dass die Klägerin solche Arbeiten ausgeführt hat, ergibt sich mit überwiegender Wahrscheinlichkeit aus der tatsächlichen Situation im fraglichen Zeitraum. Auch wenn die Klägerin in dieser Zeit als 10jähriges Mädchen in einem Waisenheim im jüdischen Ghetto untergebracht war, bedeutet dies nicht, dass sie dort verpflegt wurde. Vielmehr war die Situation, insbesondere auch was die Versorgung mit Lebensmitteln betraf, derart angespannt, dass auch Kinder nur dann Nahrung erhalten konnten, wenn sie Arbeiten verrichteten.
Es handelt sich auch nicht um Zwangsarbeit. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (ausführlich Urteil vom 2. Juni 2009 – B 13 R 81/08 R) ist die aus eigenem Willensentschluss zustande gekommene Beschäftigung im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. A ZRBG von einer Zwangsarbeit im Sinne des Gesetzes über die Errichtung der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" vom 2. August 2000 abzugrenzen (BSG, Urteil vom 2. Juni 2009, B 13 R 139/08 R, juris, Rn. 19).
Zwangsarbeit ist die Verrichtung von Arbeit unter obrigkeitlichem (hoheitlichem) Zwang, wie zum Beispiel bei Strafgefangenen und Kriegsgefangenen. Typisch ist dabei zum Beispiel die obrigkeitliche Zuweisung von Arbeiten an bestimmte Unternehmen, ohne dass die Arbeiter selbst hierauf Einfluss haben. Eine verrichtete Arbeit entfernt sich umso mehr von dem Typus des Arbeits-/Beschäftigungsverhältnisses und nähert sich dem Typus der Zwangsarbeit an, je weiter sie durch hoheitliche Eingriffe überlagert wird, denen sich der Betroffene nicht entziehen kann.
Eine aus eigenem Willensentschluss aufgenommene Beschäftigung liegt hingegen vor, wenn der Ghetto-Bewohner hinsichtlich des Zustandekommens oder der Durchführung der Arbeit noch eine Dispositionsbefugnis, zumindest dergestalt hatte, dass er die Annahme oder Ausführung der Arbeit auch ohne Gefahr von Leib, Leben oder seine Restfreiheit ablehnen konnte (BSG, Urteil vom 2. Juni 2009, B 13 R 139/08 R m.w.N., juris, Rn. 21).
Auch die Annahme einer vom Judenrat angebotenen Arbeit erfüllt das Tatbestandsmerkmal der "aus eigenem Willensentschluss" zustande gekommenen Beschäftigung (BSG, Urteile vom 2. Juni 2009, B 13 R 81/08 R und B 13 R 139/08 R m.w.N.).
Vorliegend war die Beschäftigung der Klägerin in landwirtschaftlichen Betrieben in der Nähe des Ghettos mit überwiegender Wahrscheinlichkeit mit der Unterbringung der Klägerin in dem Kinderheim verknüpft und steht damit zur Überzeugung des Senats einer Arbeit gleich, die in der vorgenannten Weise vom Judenrat vermittelt wurde. Es stellt für den Senat keinen rechtserheblichen Unterschied dar, ob ein Jugendlicher oder Erwachsener eine Tätigkeit vom Judenrat zugewiesen bekommt oder ob ein Waisenkind eine solche Tätigkeit durch das ihm als Aufenthaltsstätte dienende Waisenheim bzw. dessen Leitung zugeteilt erhält.
Darüber hinaus steht auch das niedrige Alter der Klägerin der Annahme einer aus eigenem Willensentschluss aufgenommenen Beschäftigung im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG nicht entgegen. Die Klägerin war in dem hier in Betracht zu ziehenden Zeitraum von Januar bis März 1944 zehn Jahre alt. Das Bundessozialgericht hat bereits in seinem Urteil vom 14. Juli 1999 (SozR 3-5070, § 14 Nr. 2) deutlich gemacht, dass im Zuge der Ghetto-Rechtsprechung keine Lebensalters-Untergrenze von 14 Jahren, wie nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu Ersatzzeiten, zugrunde zu legen ist. Ein Mindestalter war überdies seit dem Gesetz über Änderung des Versicherungsgesetzes für Angestellte und der Reichsversicherungsordnung vom 10. November 1922 (Reichsgesetzblatt I, S. 849) auch nicht mehr in § 1226 Reichsversicherungsordnung alter Fassung geregelt, weil wegen des Schutzcharakters der Rentenversicherungspflicht auch eine verbotswidrige Kinderarbeit zur Versicherungspflicht führen sollte (BSG, Urteil vom 2. Juni 2009, B 13 R 139/08 R, juris, Rn. 24).
Der Senat hält es für deutlich überwiegend wahrscheinlich, dass bereits zehnjährige Kinder in der fraglichen Zeit, die auf sich allein gestellt in einem Ghetto-Waisenheim lebten, Tätigkeiten etwa in nahe gelegenen landwirtschaftlichen Betrieben von ernsthaftem wirtschaftlichen Wert verrichtet haben. Es handelte sich dabei zwar fraglos um Kinderarbeit, diese stand aber aus den bereits genannten Gründen der Annahme eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses nicht entgegen.
Die Klägerin hat die Beschäftigung auch gegen Entgelt ausgeübt (§ 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b ZRBG). Zwar hat die Klägerin im hier maßgeblichen Zeitraum weder Bargeld noch Lebensmittelcoupons erhalten, doch sind die von der Klägerin erhaltenen Nahrungsmittel, die sie für ihre Arbeit in den landwirtschaftlichen Betrieben erhielt, gleichfalls als Entgelt zu werten. Denn Entgelt im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b ZRBG ist jede Entlohnung, nicht nur in Geld, sondern auch in Form von Nahrungsmitteln. Weitergehende Erfordernisse (z.B. Einhaltung einer Mindesthöhe – Miternährung einer anderen Person) müssen nicht erfüllt werden. Unerheblich ist, ob das Entgelt nur geringfügig war oder zum Umfang der geleisteten Arbeit in keinem angemessenen Verhältnis stand, ob als Entgelt nur Sachbezüge gewährt wurden oder ob das Geld unmittelbar von der Beschäftigungsstelle oder von einer anderen Instanz, z.B. dem Judenrat, gewährt wurde. Vor diesem Hintergrund spielt es keine Rolle, dass die der Klägerin ausgehändigten Nahrungsmittel wahrscheinlich nur geringen wirtschaftlichen Wert besaßen und möglicherweise gänzlich außer Verhältnis zum Umfang der geleisteten Arbeit standen; es ist gleichfalls rechtlich unerheblich, dass die Klägerin diese Nahrungsmittel wahrscheinlich nicht direkt für sich selbst verwertet hat, sondern möglicherweise auch zur Ernährung anderer Kinder dem Waisenheim zur Verfügung zu stellen hatte. Denn nur auf dieser Grundlage können Sinn und Zweck des ZRBG erfüllt werden. Das Gesetz soll Verfolgten für deren Beschäftigung während ihres Zwangsaufenthaltes in einem vom Deutschen Reich zu verantwortenden Ghetto eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung ermöglichen. Erforderlich ist lediglich ein Austauschverhältnis zwischen Arbeit und Entgelt, wie es der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts entspricht (BSG, Urteil vom 2. Juni 2009, B 13 R 129/08 R, juris, Rn. 27, 28). Diese Voraussetzungen erfüllte die Klägerin.
Im Übrigen jedoch war die Berufung zurückzuweisen. Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage für die Zeiträume von Februar 1942 bis Dezember 1943 abgewiesen. Zu dieser Zeit hielt sich die Klägerin noch nicht im Ghetto M auf, sondern lebte gemeinsam mit ihrer Mutter im Ghetto L. Wie das Sozialgericht im Einzelnen zutreffend ausgeführt hat, ist es für diesen Zeitraum nicht wahrscheinlich, dass die Klägerin ein eigenständiges Beschäftigungsverhältnis eingegangen und hierfür Entgelt erhalten hat. Überwiegend wahrscheinlich ist vielmehr, dass die zu Beginn des Zeitraumes erst achtjährige Klägerin ihrer Mutter mit Tätigkeiten geholfen und sie dabei unterstützt hat. Eine abgrenzbare Tätigkeit von eigenem wirtschaftlichen Wert und insbesondere eine abgrenzbare selbständige Entlohnung der Klägerin – sei es auch nur durch den Erhalt von Sachbezügen – ist zwar nicht ausgeschlossen, sie ist aber auch nicht überwiegend wahrscheinlich. Wesentlich wahrscheinlicher hingegen ist, dass die Klägerin kein eigenes Beschäftigungsverhältnis hatte, sondern lediglich ihrer Mutter Hilfe und Unterstützung zuteil werden ließ. Dies schließt nach den vorgenannten Kriterien die Annahme eines Beschäftigungsverhältnisses auch nach § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZRBG aus.
Dies gilt auch im Hinblick auf die letzten Monate des Jahres 1943. Zwar hält es der Senat für ernsthaft möglich, dass die Klägerin bereits im Verlaufe des Herbstes 1943 in das Waisenheim im Ghetto M gelangte. Jedoch lassen sich aus den Angaben der Klägerin keine konkreten Anhaltspunkte für einen genauen oder auch nur annähernd bestimmbaren Beginn dieses Aufenthaltes im Ghetto M gewinnen. Überwiegend wahrscheinlich ist für den Senat vor diesem Hintergrund erst der Aufenthalt ab dem Jahr 1944, weshalb nur für die Zeit ab Januar 1944 die Glaubhaftmachung einer Beschäftigungszeit gelungen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und entspricht dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst. Zu entscheiden hatte der Senat letztlich über die Vormerkung von 26 Monaten, hierbei ist die Klägerin mit drei Monaten erfolgreich geblieben und im Übrigen erfolglos gewesen.
Die Revision war nicht zuzulassen, Zulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 SGG liegen
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Vormerkung von Beitragszeiten in der Zeit von Februar 1942 bis März 1944.
Die im Jahr 1933 geborene Klägerin, die heute als israelische Staatsbürgerin in Israel lebt, ist Verfolgte der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Im hier streitbefangenen Zeitraum lebte sie in den Ghettos L und M im Gebiet T.
Erstmals im Februar 1990 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung von Altersrente; dies lehnte die Beklagte damals ab, weil die Klägerin das erforderliche Alter noch nicht erreicht hatte. Zuletzt im März 2010 beantragte die Klägerin bei der Beklagten erneut eine Rente wegen Alters. In dem dabei verwendeten Formular gab die Klägerin an, sie habe in der Zeit von Februar 1942 bis März 1944 im Ghetto L landwirtschaftliche Arbeiten verrichtet.
Die Beklagte zog die Entschädigungsakten des Amtes für Wiedergutmachung in D sowie die Akten der Claims Conference, des Bundesamtes für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen und der Conference on Jewish Claims against Germany, Inc. mit den darin enthaltenen folgenden Erklärungen der Klägerin bei:
a) Eidesstattliche Versicherung zum Antrag auf Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (BEG) vom 23.07.1964: " ... Ich war sehr oft krank, doch weder erhielt ich aerztliche Behandlung, noch waren Medikamente vorhanden. Als ich schließlich im Maerz 1944 befreit wurde, war ich ein krankes, unterernaehrtes Kind." b) Antragsformular auf Versichertenrente aus der deutschen Rentenversicherung, Antrag vom 07.08.1990, unter dem Punkt 4) a) Freiheitsentziehung: "September 1941 bis Winter 1943" c) Bericht über die Feststellung der deutschen Sprach- und Kulturzugehörigkeit, Schriftprobe vom 19.06.1991: "Im Jahre 1944 bis 1951 habe ich im Weisenhaus gelebt, weil ich ein Weisenkind war." Unter Punkt 12. Ergebnis der Befragung wird dort zusammenfassen ausgeführt: " Die AST wurde im Alter von 8 Jahren von der Verfolgung erfasst. Der Vater kam in der Verfolgung um und in den Kriegswirren kam sie ihrer Mutter abhanden. Sie geriet in ein Waisenhaus und verblieb dort bis 1950." d) Fragebogen für die Claims Conference vom 24.02.1993: " Wir litten alle an Hunger und um etwas zu essen zu erlangen, verrichtete meine Mutter alle möglichen Arbeiten bei der örtlichen Bevölkerung und ich und meine Geschwister bettelten. Ich sammelte Brennessel um eine Brühe zu machen und erkrankte ernsthaft. 2 Brüder sind dem Hunger erlegen und unsere Mutter verließ uns da wir als Dorfwaise die Chance hatten in ein Kinderheim von Saint Herein zu kommen ". e) Eidesstattliche Versicherung vom 12.03.1998: " Mit einem von meiner Brueder wurde ich später in ein Waisenhaus aufgenommen und im März 1944 wurden wird befreit." f) Antrag auf "Anerkenntnisleistung an Verfolgte für Arbeit in einem Ghetto, die keine Zwangsarbeit war und bisher ohne sozialversicherungsrechtliche Berücksichtigung geblieben ist" beim Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen vom 21.12.2008 unter Punkt 3.4.c): "Ich wurde zusammen mit der Familie aus S, B, R durch A, M, T, U und L ins Ghetto L, T, U, deportiert, wo ich mich im Waisenhaus vom 1941 bis 1944 befand. Es gelang mir dort die Arbeit zu finden. Ich grub Gruben fuer die Toiletten für die Soldaten. Fuer meine Arbeit erhielt ich nur aermliche Ernaehrungsmitteln." Unter Punkt 4) wird ausgeführt, dass die Klägerin Gruben für die Toiletten der Soldaten ausgegraben habe. Diese Arbeit habe sie sich selbst gesucht (4.4). g) Antrag auf Altersrente für ehemalige Ghettobeschäftigte mit Wohnsitz im Ausland vom 10.03.2010 unter Punkt 4: Die Klägerin gibt an, sich von Februar 1942 bis März 1944 im Ghetto L aufgehalten und landwirtschaftliche Arbeiten auf Feldern/Judenrat ausgeübt zu haben. h) Eidesstattliche Erklärung vom 22.05.2011: " Vom Oktober 1941 bis Maerz 1944 befanden wir uns im Ghetto L. Die Bedingungen dort waren sehr schlecht und da wir keine Habseligkeiten hatten, um sie zu tauschen, bettelten wir am Anfang. Aber es konnte nicht lange dauern und meine Mutter bat beim Judenrat Arbeit und erfuellte verschiedene landwirtschaftliche Arbeiten, ich half ihr. Dafuer erhielten wir Mittagessen täglich und zusaetzliche Lebensmittel woechentlich. Und spaeter, als ich schon im Kinderheim war, hatten wir auch gearbeitet und es waren auch landwirtschaftliche Arbeiten, weil es in so kleinem Dorf keine anderen Arbeiten gab. In den Angaben fuer Claims Conference habe ich nur erzaehlt, dass wir hungerten und bettelten und ich hielt es nicht fuer wichtig ueber meine freiwillige Arbeit zu erzaehlen."
Den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Altersrente lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 5. August 2011 ab: Eine Rente aus Beschäftigungszeiten in einem Ghetto in T nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) sei nicht möglich, weil die Beitragszeiten nicht glaubhaft gemacht worden seien. Die Angaben der Klägerin enthielten Widersprüche gegenüber den Angaben im Entschädigungsverfahren. Es liege zudem keine eigenständige, von der Arbeit der Familienangehörigen abgrenzbare und eigens entlohnte Tätigkeit vor, die Klägerin habe vielmehr ihrer Mutter bei der Arbeit geholfen. Den Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit ähnlicher Begründung durch Widerspruchsbescheid vom 11. Juni 2012 zurück.
Mit ihrer zum Sozialgericht erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Ziel weiter verfolgt, eine Rente wegen Alters unter Berücksichtigung der Beitragszeiten aus den Ghettos L und M zu erhalten.
Hierzu hat sie im Verlaufe des erstinstanzlichen Verfahrens drei eidesstattliche Erklärungen zu den Gerichtsakten gereicht.
Ihre eidesstattliche Erklärung vom 26. Dezember 2012 hatte folgenden Wortlaut:
"Waehrend des Krieges war ich in 2 Ghettos: L und M. Es war sehr schweres Leben. Da wir keine Habseligkeiten hatten, mussten wir am Anfang unseres Aufenthaltes in L betteln. Meine Mutter musste auch Zwangsarbeiten erfuellen und sie hat Gruben ausgehoben. Ich habe solche Arbeiten nicht erfuellt, ich war zu klein dafuer. Meine Mutter hat solche Arbeiten ein-, zweimal in der Woche gemacht. Aber, um etwas zu verdienen, mussten wir doch arbeiten. Mit Hilfe vom Judenrat hat meine Mutter landwirtschaftliche Arbeiten bekommen, bei diesen Arbeiten habe ich ihr geholfen. Dafuer erhielten wir Mittagessen und zusaetzliche Lebensmittel. Und spaeter im Ghetto M, als ich schon im Kinderheim war, habe ich auch landwirtschaftliche Arbeiten erfuellt, und in solch kleinem Dorf gab es keine andere Arbeit. Frueher habe ich ueberhaupt ueber meine freiwillige Arbeit nicht erzaehlt, damals wollte ich nur zeigen, dass wir hungerten."
Eine weitere, nicht datierte, am 17. April 2015 bei Gericht eingegangene eidesstattliche Erklärung hatte folgenden Wortlaut:
"Ich befand mich in T vom Oktober 1941 bis Maerz 1944. Bis zum Ende 1943 war ich im Ghetto L und vom Februar 1942 bis Ende 1943 erfuellte ich mit meiner Mutter zusammen landwirtschaftliche Arbeiten, Zwangsarbeiten (Toiletten fuer die Soldaten aufheben) habe ich nicht erfuellt, das ein-, zweimal in der Woche meine Mutter gemacht hat. Ich war zu jener Zeit 8-9 Jahre alt. Wenn ich solches angegeben hatte, bitte ich um Entschuldigung. Vom ende 1943 bis 03.1944 befand ich mich im Kinderheim im Ghetto M, wo ich auch mit anderen Kindern landwirtschaftliche Arbeiten erfuellt hatte."
Eine weitere, am 22. Juli 2015 und ebenfalls undatierte eidesstattliche Erklärung hatte folgenden Wortlaut:
"Wie ich schon geschrieben hatte, habe ich in 2 Ghettos-L und Murafa landwirtschaftliche Arbeiten erfuellt, dafuer bekam ich zusaetzliche Lebensmittel. Meine Mutter musste ausser der landwirtschaftlichen Arbeiten auch ein-, zweimal in der Woche Zwangsarbeiten erfuellen. Sie hat Gruben ausgehoben. Da ich noch klein war, hat man mich zu Zwangsarbeiten nicht geschickt und ich halbe solche Arbeiten nicht erfuellt. Mein VS habe ich mit dem VS meiner Mutter nicht verwechselt. Wir haben beide landwirtschaftliche Arbeiten erfuellt. Ich habe nur ihre Zwangsarbeiten auch mir zugeschrieben, damit mein VS schrecklicher darstellen. Mein VS war wirklich schrecklich, aber nicht in solchem Grade, wie bei meiner Mutter."
Mit Urteil vom 22. September 2015 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen: Zwar könnten auch Kinder im geringeren Lebensalter beitragspflichtige Versicherungszeiten, insbesondere in Ghettos, zurückgelegt haben. Im vorliegenden Fall seien jedoch die Voraussetzungen weder für die Zeit in dem Kinderheim in dem Ghetto M noch für die Zeit in dem Ghetto L glaubhaft gemacht worden, weil es mehrere Möglichkeiten des Geschehensablaufes gebe, von denen keine überwiegend wahrscheinlich sei.
Mit ihrer Berufung zum Landessozialgericht verfolgt die Klägerin ihr Ziel weiter. Sie macht geltend, die widersprüchlichen Angaben in Entschädigungsverfahren einerseits und Rentenverfahren andererseits seien auf Erinnerungsschwierigkeiten und auf die unterschiedlichen Zielrichtungen des Entschädigungsrechts einerseits und des Rentenrechts andererseits zurückzuführen. Im Hinblick auf die Verhältnisse in den Ghettos in T bezieht sie sich außerdem auf ein von ihr zu den Akten gereichtes Gutachten zur geopolitischen Verordnung der Verfolgungsstätten W/T und G/T bei der Besatzung der während des 2. Weltkriegs eroberten Gebiete der UdSSR im Zuge der deutsch-rumänischen Allianz und der Verfolgungsgeschichte vor Ort, das im Auftrage des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in einem Rechtsstreit zum Aktenzeichen L 18 KN 156/13 erstattet worden war.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 7. April 2016 haben die Beteiligten einen Teilvergleich hinsichtlich der Rentengewährung geschlossen. Danach wird die Frage der Rentengewährung im vorliegenden Rechtsstreit nicht weiter verfolgt. Die Beklagte wird nach Abschluss des Vormerkungsverfahrens unter Zugrundelegung von dessen Ergebnis einen neuen Bescheid über die Rentengewährung erteilten. Hierbei wird sie von einer Antragstellung im Jahr 2010 ausgehen und sich weder auf Verwirkung noch auf Verjährung noch auf sonstige zeitliche Ausschlussgründe berufen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 22. September 2015 zu ändern und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 5. August 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Juni 2012 zu verurteilen, die Zeit von Februar 1942 bis März 1944 als glaubhaft gemachte Beitragszeit nach § 1 ZRBG vorzumerken.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsakten der Beklagten, die im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG), der jetzt nur noch geltend gemachte Vormerkungsanspruch ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang auch gegeben. Für den Zeitraum von Januar bis März 1944 sind die Tatbestandsvoraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG erfüllt. Nach dieser Vorschrift gilt das ZRBG
"für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben, wenn 1. die Beschäftigung a) aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist, b) gegen Entgelt ausgeübt wurde und 2. das Ghetto sich in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war, soweit für diese Zeiten nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird."
Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin in dem Zeitraum Januar bis März 1944. Sie ist Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes. Sie hielt sich zwangsweise im Zeitraum auch von Januar bis März 1944 im Ghetto M auf, das sich im damals deutsch besetzten Gebiet T befand. Der Aufenthalt der Klägerin im Ghetto M ist glaubhaft gemacht, denn er ist überwiegend wahrscheinlich. Zwar hat die Klägerin in früheren Angaben nur das Ghetto L erwähnt, jedoch ist im Zusammenhang aller Erklärungen von Anfang an deutlich geworden, dass die Klägerin sich jedenfalls ab dem Ende des Jahres 1943 in einem Waisenheim aufgehalten hat, das sich im Ghetto M befand.
Es liegt ferner eine "Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto" im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG vor. Diese Formulierung ist so zu verstehen, dass jegliche Beschäftigung innerhalb und außerhalb des räumlichen Bereichs eines Ghettos darunter fällt, die von Verfolgten ausgeübt wurde, während sie sich zwangsweise in einem Ghetto aufgehalten haben (Bundessozialgericht, Urteil vom 2. Juni 2009, B 13 R 139/08 R, juris Rn. 16 m.w.N.). Die Klägerin übte zwar die Beschäftigung außerhalb des räumlichen Bereichs des Ghettos, nämlich in landwirtschaftlichen Betrieben aus, sie hielt sich aber während dieser Zeit zwangsweise in einem Ghetto auf.
Schließlich werden die von der Klägerin geltend gemachten Ghetto-Beitragszeiten auch nicht in der israelischen Nationalversicherung oder in einem anderen System der sozialen Sicherheit rentensteigernd berücksichtigt (§ 1 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbs. ZRBG).
Die Klägerin hat im fraglichen Zeitraum auch eine aus eigenem Willensentschluss zustande gekommene Beschäftigung ausgeübt (§ 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. A ZRBG). Dies ist glaubhaft gemacht, weil sich mit überwiegender Wahrscheinlichkeit aus der Zusammenschau der von der Klägerin abgegebenen Erklärungen für den hier fraglichen Zeitraum von Januar bis März 1944 ergibt, dass die Klägerin in betrieblicher Eingliederung Arbeiten durchgeführt hat, die nicht als Zwangsarbeiten anzusehen waren. Die Tatsache, dass die Klägerin solche Arbeiten ausgeführt hat, ergibt sich mit überwiegender Wahrscheinlichkeit aus der tatsächlichen Situation im fraglichen Zeitraum. Auch wenn die Klägerin in dieser Zeit als 10jähriges Mädchen in einem Waisenheim im jüdischen Ghetto untergebracht war, bedeutet dies nicht, dass sie dort verpflegt wurde. Vielmehr war die Situation, insbesondere auch was die Versorgung mit Lebensmitteln betraf, derart angespannt, dass auch Kinder nur dann Nahrung erhalten konnten, wenn sie Arbeiten verrichteten.
Es handelt sich auch nicht um Zwangsarbeit. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (ausführlich Urteil vom 2. Juni 2009 – B 13 R 81/08 R) ist die aus eigenem Willensentschluss zustande gekommene Beschäftigung im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. A ZRBG von einer Zwangsarbeit im Sinne des Gesetzes über die Errichtung der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" vom 2. August 2000 abzugrenzen (BSG, Urteil vom 2. Juni 2009, B 13 R 139/08 R, juris, Rn. 19).
Zwangsarbeit ist die Verrichtung von Arbeit unter obrigkeitlichem (hoheitlichem) Zwang, wie zum Beispiel bei Strafgefangenen und Kriegsgefangenen. Typisch ist dabei zum Beispiel die obrigkeitliche Zuweisung von Arbeiten an bestimmte Unternehmen, ohne dass die Arbeiter selbst hierauf Einfluss haben. Eine verrichtete Arbeit entfernt sich umso mehr von dem Typus des Arbeits-/Beschäftigungsverhältnisses und nähert sich dem Typus der Zwangsarbeit an, je weiter sie durch hoheitliche Eingriffe überlagert wird, denen sich der Betroffene nicht entziehen kann.
Eine aus eigenem Willensentschluss aufgenommene Beschäftigung liegt hingegen vor, wenn der Ghetto-Bewohner hinsichtlich des Zustandekommens oder der Durchführung der Arbeit noch eine Dispositionsbefugnis, zumindest dergestalt hatte, dass er die Annahme oder Ausführung der Arbeit auch ohne Gefahr von Leib, Leben oder seine Restfreiheit ablehnen konnte (BSG, Urteil vom 2. Juni 2009, B 13 R 139/08 R m.w.N., juris, Rn. 21).
Auch die Annahme einer vom Judenrat angebotenen Arbeit erfüllt das Tatbestandsmerkmal der "aus eigenem Willensentschluss" zustande gekommenen Beschäftigung (BSG, Urteile vom 2. Juni 2009, B 13 R 81/08 R und B 13 R 139/08 R m.w.N.).
Vorliegend war die Beschäftigung der Klägerin in landwirtschaftlichen Betrieben in der Nähe des Ghettos mit überwiegender Wahrscheinlichkeit mit der Unterbringung der Klägerin in dem Kinderheim verknüpft und steht damit zur Überzeugung des Senats einer Arbeit gleich, die in der vorgenannten Weise vom Judenrat vermittelt wurde. Es stellt für den Senat keinen rechtserheblichen Unterschied dar, ob ein Jugendlicher oder Erwachsener eine Tätigkeit vom Judenrat zugewiesen bekommt oder ob ein Waisenkind eine solche Tätigkeit durch das ihm als Aufenthaltsstätte dienende Waisenheim bzw. dessen Leitung zugeteilt erhält.
Darüber hinaus steht auch das niedrige Alter der Klägerin der Annahme einer aus eigenem Willensentschluss aufgenommenen Beschäftigung im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG nicht entgegen. Die Klägerin war in dem hier in Betracht zu ziehenden Zeitraum von Januar bis März 1944 zehn Jahre alt. Das Bundessozialgericht hat bereits in seinem Urteil vom 14. Juli 1999 (SozR 3-5070, § 14 Nr. 2) deutlich gemacht, dass im Zuge der Ghetto-Rechtsprechung keine Lebensalters-Untergrenze von 14 Jahren, wie nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu Ersatzzeiten, zugrunde zu legen ist. Ein Mindestalter war überdies seit dem Gesetz über Änderung des Versicherungsgesetzes für Angestellte und der Reichsversicherungsordnung vom 10. November 1922 (Reichsgesetzblatt I, S. 849) auch nicht mehr in § 1226 Reichsversicherungsordnung alter Fassung geregelt, weil wegen des Schutzcharakters der Rentenversicherungspflicht auch eine verbotswidrige Kinderarbeit zur Versicherungspflicht führen sollte (BSG, Urteil vom 2. Juni 2009, B 13 R 139/08 R, juris, Rn. 24).
Der Senat hält es für deutlich überwiegend wahrscheinlich, dass bereits zehnjährige Kinder in der fraglichen Zeit, die auf sich allein gestellt in einem Ghetto-Waisenheim lebten, Tätigkeiten etwa in nahe gelegenen landwirtschaftlichen Betrieben von ernsthaftem wirtschaftlichen Wert verrichtet haben. Es handelte sich dabei zwar fraglos um Kinderarbeit, diese stand aber aus den bereits genannten Gründen der Annahme eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses nicht entgegen.
Die Klägerin hat die Beschäftigung auch gegen Entgelt ausgeübt (§ 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b ZRBG). Zwar hat die Klägerin im hier maßgeblichen Zeitraum weder Bargeld noch Lebensmittelcoupons erhalten, doch sind die von der Klägerin erhaltenen Nahrungsmittel, die sie für ihre Arbeit in den landwirtschaftlichen Betrieben erhielt, gleichfalls als Entgelt zu werten. Denn Entgelt im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b ZRBG ist jede Entlohnung, nicht nur in Geld, sondern auch in Form von Nahrungsmitteln. Weitergehende Erfordernisse (z.B. Einhaltung einer Mindesthöhe – Miternährung einer anderen Person) müssen nicht erfüllt werden. Unerheblich ist, ob das Entgelt nur geringfügig war oder zum Umfang der geleisteten Arbeit in keinem angemessenen Verhältnis stand, ob als Entgelt nur Sachbezüge gewährt wurden oder ob das Geld unmittelbar von der Beschäftigungsstelle oder von einer anderen Instanz, z.B. dem Judenrat, gewährt wurde. Vor diesem Hintergrund spielt es keine Rolle, dass die der Klägerin ausgehändigten Nahrungsmittel wahrscheinlich nur geringen wirtschaftlichen Wert besaßen und möglicherweise gänzlich außer Verhältnis zum Umfang der geleisteten Arbeit standen; es ist gleichfalls rechtlich unerheblich, dass die Klägerin diese Nahrungsmittel wahrscheinlich nicht direkt für sich selbst verwertet hat, sondern möglicherweise auch zur Ernährung anderer Kinder dem Waisenheim zur Verfügung zu stellen hatte. Denn nur auf dieser Grundlage können Sinn und Zweck des ZRBG erfüllt werden. Das Gesetz soll Verfolgten für deren Beschäftigung während ihres Zwangsaufenthaltes in einem vom Deutschen Reich zu verantwortenden Ghetto eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung ermöglichen. Erforderlich ist lediglich ein Austauschverhältnis zwischen Arbeit und Entgelt, wie es der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts entspricht (BSG, Urteil vom 2. Juni 2009, B 13 R 129/08 R, juris, Rn. 27, 28). Diese Voraussetzungen erfüllte die Klägerin.
Im Übrigen jedoch war die Berufung zurückzuweisen. Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage für die Zeiträume von Februar 1942 bis Dezember 1943 abgewiesen. Zu dieser Zeit hielt sich die Klägerin noch nicht im Ghetto M auf, sondern lebte gemeinsam mit ihrer Mutter im Ghetto L. Wie das Sozialgericht im Einzelnen zutreffend ausgeführt hat, ist es für diesen Zeitraum nicht wahrscheinlich, dass die Klägerin ein eigenständiges Beschäftigungsverhältnis eingegangen und hierfür Entgelt erhalten hat. Überwiegend wahrscheinlich ist vielmehr, dass die zu Beginn des Zeitraumes erst achtjährige Klägerin ihrer Mutter mit Tätigkeiten geholfen und sie dabei unterstützt hat. Eine abgrenzbare Tätigkeit von eigenem wirtschaftlichen Wert und insbesondere eine abgrenzbare selbständige Entlohnung der Klägerin – sei es auch nur durch den Erhalt von Sachbezügen – ist zwar nicht ausgeschlossen, sie ist aber auch nicht überwiegend wahrscheinlich. Wesentlich wahrscheinlicher hingegen ist, dass die Klägerin kein eigenes Beschäftigungsverhältnis hatte, sondern lediglich ihrer Mutter Hilfe und Unterstützung zuteil werden ließ. Dies schließt nach den vorgenannten Kriterien die Annahme eines Beschäftigungsverhältnisses auch nach § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZRBG aus.
Dies gilt auch im Hinblick auf die letzten Monate des Jahres 1943. Zwar hält es der Senat für ernsthaft möglich, dass die Klägerin bereits im Verlaufe des Herbstes 1943 in das Waisenheim im Ghetto M gelangte. Jedoch lassen sich aus den Angaben der Klägerin keine konkreten Anhaltspunkte für einen genauen oder auch nur annähernd bestimmbaren Beginn dieses Aufenthaltes im Ghetto M gewinnen. Überwiegend wahrscheinlich ist für den Senat vor diesem Hintergrund erst der Aufenthalt ab dem Jahr 1944, weshalb nur für die Zeit ab Januar 1944 die Glaubhaftmachung einer Beschäftigungszeit gelungen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und entspricht dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst. Zu entscheiden hatte der Senat letztlich über die Vormerkung von 26 Monaten, hierbei ist die Klägerin mit drei Monaten erfolgreich geblieben und im Übrigen erfolglos gewesen.
Die Revision war nicht zuzulassen, Zulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 SGG liegen
Rechtskraft
Aus
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