L 11 R 1040/15

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 12 R 379/13
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 R 1040/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 30.01.2015 und der Bescheid der Beklagten vom 03.07.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.12.2012 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.04.2012 bis 31.03.2018 zu gewähren. Im Übrigen wird die Berufung des Klägers zurückgewiesen.

Von den außergerichtlichen Kosten des Klägers im Klage- und Berufungsverfahren trägt die Beklagte die Hälfte.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt im Wege eines Überprüfungsverfahrens Rente wegen Erwerbsminderung ab 2003.

Der 1959 geborene Kläger, gelernter Tankwart, war seit 1979 als Lagerarbeiter, zuletzt in einem Baumarkt, versicherungspflichtig beschäftigt. Bis 08.06.2006 sind für den Kläger Pflichtbeiträge entrichtet worden, zuletzt wegen des Bezugs von Sozialleistungen. Vom 09.06.2006 bis 01.07.2008 (25 Monate) war der Kläger arbeitslos gemeldet ohne Leistungsbezug, vom 02.07.2008 bis 30.09.2010 sind keine rentenrechtlichen Zeiten zurückgelegt worden.

Am 29.10.2003 beantragte der Kläger Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte zog Arztunterlagen bei und ließ den Kläger sozialmedizinisch begutachten (internistisch durch die Sozialmedizinerin B., orthopädisch durch Dr. Sch. und nervenärztlich durch Dr. Br.). Diese Gutachten liegen nicht mehr vor, jedoch das zusammenfassende Gutachten des Internisten und Sozialmediziners MDR L ... Dieser führte im Gutachten vom 02.04.2004 (Bl 117 Verwaltungsakte) die Gesamtdiagnosen dekompensierte soziophobische Entwicklung bei vielschichtiger Persönlichkeitsstörung, HWS-Syndrom mit sensibler Irritation der Nervenwurzel C6 links, toxische Enzymaktivität der Leber und unkomplizierte Varikosis der Beine auf. Hauptbefund sei die dekompensierte langjährige soziophobische und depressive Entwicklung, die am letzten Arbeitsplatz kulminiert habe. Die Leistungsfähigkeit sei zu stabilisieren; nur durch eine stationäre psychosomatische Reha-Maßnahme bestehe Aussicht auf ein vollschichtiges Leistungsvermögen. Unter dem 17.06.2004 legte MDR L. ergänzend dar, nach dem Gutachten des Dr. Br. bestehe zwar derzeit Arbeitsunfähigkeit; vollschichtige Leistungsfähigkeit (im rentenrechtlichen Sinn) sei jedoch anzunehmen.

Vom 20.07. bis 17.08.2004 absolvierte der Kläger eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme in der K.klinik, Fachklinik für Psychosomatik und Psychotherapie, St. B. Im Entlassungsbericht vom 23.08.2004 sind die Diagnosen anhaltende, schwere Depression, Persönlichkeitsstörung sowie Verdacht auf Morbus Bechterew festgehalten. Als Lagerarbeiter könne der Kläger nur unter drei Stunden täglich arbeiten, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts (unter qualitativen Einschränkungen) jedoch sechs Stunden täglich und mehr verrichten (Reha-Akte).

Mit Bescheid vom 18.6.2004 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab. Den Widerspruch des Klägers wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 13.10.2004 zurück.

Am 02.11.2004 erhob der Kläger Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG - S 12 R 3848/04). Wegen häufiger Nervenschmerzen an der Halswirbelsäule, Depressionen und immer wiederkehrenden schweren Rheumaschüben könne er einer geregelten Beschäftigung nicht nachgehen.

Das SG befragte die behandelnden Ärzte Dr. Q. (Hausarzt), Dr. La. (Orthopäde) und Dr. G. (Nervenarzt) als sachverständige Zeugen, die alle davon ausgingen, dass der Kläger nicht mehr sechs Stunden täglich arbeiten könne.

Zusätzlich holte das SG ein orthopädisches Gutachten bei Dr. W. ein (Chefarzt der Ziegelfeld-Klinik, St. B.). Dieser diagnostizierte im Gutachten vom 13.01.2006 Zervicobrachialgie bei ausgeprägter Osteochondrosis intervertebralis C5 bis C7; Bandscheibenvorfall C5/C6 und C6/C7 rechts lateral ohne Wurzelreizsymptomatik, chronisches Lumbalsyndrom bei Wirbelsäulenfehlstatik und beginnenden degenerativen Veränderungen präsakral, femoropatellare Symptomatik beidseits, Schulterbeschwerden rechts ohne eindeutiges Impingement, plantarer Fersensporn, Verdacht auf Spondylitis ankylosans sowie Raynaud-Symptomatik. Der bisherige Verlauf, insbesondere die unauffällige Blutsenkung zu verschiedenen Zeitpunkten, spreche eher gegen die Annahme einer floriden Form des Morbus Bechterew. Durch die nachvollziehbaren Veränderungen auf orthopädischem Fachgebiet sei die Belastbarkeit des Klägers derzeit nur leicht reduziert. Er könne leichte, gelegentlich auch mittelschwere Tätigkeiten (unter qualitativen Einschränkungen) regelmäßig über sechs Stunden täglich leisten. Aufgrund der Diskrepanz zwischen den angegebenen Beschwerden und den klinischen, eher unauffälligen Befunden stünden die Gesundheitsstörungen auf nervenärztlichem Fachgebiet eindeutig im Vordergrund.

Dr. Ku. (Chefarzt der W.-Klinik, St. B.) diagnostizierte im psychiatrisch-psychotherapeutischen Gutachten vom 09.02.2006 auf der Grundlage einer dreitägigen stationären Begutachtung auf seinem Fachgebiet eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung sowie eine ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung. Aggravationstendenzen seien nicht erkennbar. Über die orthopädisch bedingten Funktionseinschränkungen hinausgehende Leistungsminderungen ließen sich in qualitativer Hinsicht feststellen, soweit es um Tätigkeiten mit häufigen, fordernden Sozialkontakten und Sozialkontakten unter besonderem Zeitdruck gehe. Einschränkungen bestünden somit für Tätigkeiten mit Publikumsverkehr und für Tätigkeiten mit fordernden sozialen Interaktionen im Kollegenkreis. Qualitative Leistungseinschränkungen seien auch für Tätigkeiten unter anhaltend hohem Zeitdruck und unter häufig wechselnden oder ständig wechselnden Arbeitszeiten anzunehmen. Die quantitative Leistungsfähigkeit des Klägers sei jedoch nicht gemindert. Er könne leichte bis gelegentlich mittelschwere Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts (unter qualitativen Einschränkungen) vollschichtig verrichten.

Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung holte das SG ein weiteres Gutachten bei Prof. Dr. Mo. (Leiter des interdisziplinären Schmerzzentrums im Neurozentrum der Universitätsklinik F.) mit neuroradiologischem Zusatzgutachten von Prof. Dr. Schu. ein. Im Gutachten vom 18.05.2007 führte Prof. Dr. Mo. aus, von den diffusen, fast den ganzen Körper betreffenden Schmerzen seien lediglich die HWS-Beschwerden nachvollziehbar, die jedoch im Augenblick nicht im Vordergrund des Beschwerdebildes stünden. Für einen aktiven Morbus Bechterew gebe es weder radiologisch noch klinisch oder laborchemisch verlässliche Anhaltspunkte. Besonders nach fünfzehnjähriger Anamnese müsste sich diese Erkrankung in einem fortgeschrittenen Stadium mit schweren Einschränkungen der BWS-, LWS- und Beckenbeweglichkeit befinden. Die Bewegungen in den genannten Regionen seien jedoch fast völlig uneingeschränkt. Der Gutachter diagnostizierte eine anhaltende, somatoforme Störung der zentralen Schmerzverarbeitung vor dem Hintergrund einer trotz mannigfaltiger Therapie unverminderten, mindestens mittel- bis schwergradigen depressiven Episode mit Angststörungen, Phobien und Panikattacken mit spezifischer Persönlichkeitsstörung, Zervikobrachialgie bei degenerativen Veränderungen der HWS und bereits 1995 bestehender, langstreckiger Spinalkanalstenose HWK 4 bis HWK 7 mit Betonung HWK 5/6 und 6/7 und bereits damals aufgebrauchten subarachonoidalen Liquorräumen, chronische lumbale Schmerzen bei Fehlhaltung und bei leichten degenerativen Veränderungen, femoro-patellare Symptomatik beider Kniegelenke, Schulterbeschwerden rechts ohne klare organische Ursache, plantarer Fersensporn (Fremddiagnose), fragliche Steatotis hepatis mit erhöhten Leberwerten, vor allem mit Erhöhung der Gamma-GT ohne abdominelle Beschwerden, rezidivierende Nephrolithiasis, zur Zeit gutachterlich nicht relevant sowie chronisches Schmerzsyndrom im Chronifizierungsstadium I (Fremddiagnose, gutachterlich nicht relevant - siehe abschließende Beurteilung). Die seelisch bedingten Störungen stellten die Hauptdiagnose und den Ursprung vieler Beschwerden des Klägers dar und seien Ursache der Schmerzen. Diese Störungen seien in der Hauptdiagnose ausführlich mit anhaltenden somatoformen Störungen der zentralen Schmerzverarbeitung sowie einer speziellen Persönlichkeitsstörung beschrieben worden. Simulation oder Aggravation liege nicht vor. Der Verdacht auf weitere Verschlimmerung der HWS-Degeneration habe sich nicht bewahrheitet. Der Kläger könne auf Grund seiner im Vordergrund stehenden seelischen Gesundheitsstörung durchaus einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nachgehen, vorausgesetzt, die somatoforme Schmerzstörung mit depressiven Episoden werde adäquat behandelt. Leichte körperliche Arbeiten in wechselnder Körperhaltung (ohne Heben und Tragen von Lasten von mehr als 5 bis 10 Kilogramm; ohne Akkord-, Fließband-, Schicht- und Nachtarbeit; ohne Arbeiten in Kälte und Nässe; ohne Tätigkeiten mit Publikumsverkehr bzw besonderer nervlicher Beanspruchung) seien vollschichtig möglich. Insgesamt handele es sich hauptsächlich um die Folgen der seelischen Erkrankungen des Klägers, die seit Jahren anhielten. Die degenerativen Veränderungen bewegten sich in altersentsprechenden Grenzen. Die bisherige medikamentöse, psychotherapeutische und rehabilitative Therapie habe die Prognose nicht günstig beeinflussen können, so dass man jetzt davon ausgehen müsse, dass die Einschränkungen anhaltenden Charakter hätten. Eine rapide und grundsätzliche Änderung des seelischen und körperlichen Gesundheitszustandes sei unwahrscheinlich. Die Einschätzung des Dr. Weise (orthopädisches Zusatzgutachten) und des Dr. Ku. (psychiatrisch-psychotherapeutisches Gutachten) wichen in den Hauptfragen kaum von der vorliegenden Leistungsbeurteilung ab. Aus speziellem schmerzdiagnostischem und schmerztherapeutischem Blickwinkel bestehe keine Abweichung zu den genannten Gutachten. Die bisherige Schmerztherapie entspreche in keiner Weise der Behandlung eines chronifizierten Schmerzzustandes.

Mit Urteil vom 19.09.2007 wies das SG die Klage ab. Erwerbsminderungsrente (§§ 43, 240 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - SGB VI) stehe dem auf den allgemeinen Arbeitsmarkt breit verweisbaren Kläger nicht zu, da er leichte Tätigkeiten unter qualitativen Einschränkungen mindestens sechs Stunden täglich verrichten könne (§ 43 Abs 3 SGB V). Das gehe aus den vorliegenden Gutachten des orthopädischen, psychiatrischen und schmerzmedizinischen Fachgebiets überzeugend hervor. Auch die Schmerzsymptomatik könne eine zeitliche Einschränkung des Leistungsvermögens nach den schlüssigen Einschätzungen der Gutachter nicht begründen.

Die dagegen fristgemäß am 16.01.2008 eingelegte Berufung wies das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg mit Urteil vom 19.11.2008 (L 5 R 269/08) zurück. Es teilte die Beweiswürdigung des SG. Auch nach seiner Auffassung hatte die eingehende und umfangreiche Begutachtung des Klägers im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren eine rentenberechtigende Leistungsminderung nicht ergeben. Die nicht weiter substantiiert begründeten abweichenden Auffassungen behandelnder Ärzte könnten die in sich schlüssigen und konsistenten Erkenntnisse der Gutachter nicht ausräumen. Prof. Dr. Mo. habe im Übrigen klar und überzeugend dargelegt, dass es für einen aktiven Morbus Bechterew weder radiologisch noch klinisch oder laborchemisch verlässliche Anhaltspunkte gebe. Davon abgesehen komme es für die Gewährung von Erwerbsminderungsrente auf Diagnosen, erst recht auf Verdachtsdiagnosen, ohnehin nicht an. Ausschlaggebend seien allein Funktionseinschränkungen. Insoweit gehe aber aus allen vorliegenden Gutachten klar hervor, dass leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts (unter qualitativen Einschränkungen) noch vollschichtig verrichtet werden könnten, was eine Berentung ausschließe.

Ende des Jahres 2008 wurde beim Kläger eine Urogenitaltuberkulose festgestellt, die bis Mai 2009 medikamentös behandelt wurde. Im selben Jahr wurde außerdem eine chronische Nebenhodenentzündung rechts diagnostiziert; am 24.08.2010 erfolgte dann eine Resektion des rechten Nebenhodens.

Am 17.04.2012 beantragte der Kläger erneut eine Rente wegen Erwerbsminderung ausgehend von der ersten Antragstellung im Oktober 2003. Bei ihm habe eine schwere Tuberkuloseerkrankung vorgelegen, die im ersten Rentenverfahren übersehen und erst Ende 2008 diagnostiziert worden sei. Der Antrag richtete sich zugleich auf Überprüfung der seinerzeitigen Rentenablehnung.

Die Beklagte ließ den Kläger durch den Internisten und Sozialmediziner Dr. C. untersuchen und begutachten. Dieser führte im Gutachten vom 28.06.2012 aus, dass bei dem Kläger eine Urogenitaltuberkulose "mit Sicherheit mehrere Jahre vor der Diagnosestellung" (2008) bestanden habe. Diese sei wegen uncharakteristischer Symptome erst spät erkannt worden und seit 2009 wieder ausgeheilt. Mit Bescheid vom 03.07.2012 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Für einen Leistungsfall am 17.04.2012 (Neuantrag) seien die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht mehr erfüllt, weil im (verlängerten) Zeitraum vom 01.09.2004 bis 16.04.2012 statt der erforderlichen 36 nur 26 Monate mit Pflichtbeiträgen belegt seien. Eine Erwerbsminderung habe am 18.10.2003 (erster Rentenantrag) nicht vorgelegen. Insoweit verbleibe es bei den Feststellungen aus dem Rentenbescheid vom 18.06.2004 und dem LSG-Urteil vom 19.11.2008.

Mit seinem am 30.07.2012 eingegangen Widerspruch berief sich der Kläger erneut auf seine verkannte Tbc-Erkrankung und bat um Überprüfung. Die Beklagte zog die Gerichtsakten bei und legte diese ihrem sozialmedizinischen Dienst vor. Dr. C. führte in einer ergänzenden Stellungnahme vom 02.11.2012 dazu aus, die nun bekannte Urogenitaltuberkulose erkläre einen Teil der im früheren Rentenverfahren in zahlreichen Gutachten festgehaltenen Beschwerden nachträglich. Unabhängig von der jeweiligen Ursache seien die damaligen Beschwerden jedoch umfassend gutachterlich gewürdigt worden. Ein nachträglicher Grund für eine quantitative Leistungsminderung liege in der erst 2008 erkannten und bis 2009 erfolgreich behandelten Tuberkulose daher nicht. Mit Widerspruchsbescheid vom 19.12.2012 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Auch die erneute Überprüfung habe ergeben, dass der Kläger weder zu einem früheren Zeitpunkt noch aktuell weniger als mindestens sechs Stunden täglich leistungsfähig sei. Darüber hinaus fehlten für den Neuantrag vom 17.04.2012 die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen.

Hiergegen richtet sich die am 21.01.2013 zum SG erhobene Klage. Ergänzend zu seinem bisherigen Vorbringen, das der Kläger wiederholt und vertieft, verweist er darauf, dass insbesondere die Schmerzen in früheren Gutachten fälschlich auf eine psychische Fehlverarbeitung zurückgeführt worden seien.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat ausgeführt, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen zuletzt am 31.08.2010 erfüllt gewesen seien. Die Leistungsbeurteilung im rechtskräftigen Urteil des LSG Baden-Württemberg halte sie weiterhin für zutreffend.

Mit Gerichtsbescheid vom 30.01.2015 hat das SG die Klage abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Rücknahme des bestandskräftigen Ablehnungsbescheids vom 18.06.2004 im Wege einer Überprüfung nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Es sei nicht festzustellen, ob der Kläger bis zum Wegfall der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen am 01.09.2010 erwerbsgemindert gewesen sei und die Rentenablehnung daher rechtswidrig sei. Unter Berücksichtigung aller vorliegenden medizinischen Unterlagen und der noch aktenkundigen Gutachten stehe nicht fest, dass der Kläger nur noch unter sechs Stunden täglich leistungsfähig gewesen sei. Den Kläger treffe die Folge der Beweislosigkeit. Die Diagnosen als solche seien nicht maßgeblich für das Vorliegen einer Erwerbsminderung. Folglich sei auch das bedauerliche Verkennen der beim Kläger nach seinen Angaben seit 2001, nach Dr. C. mehrere Jahre vor 2008 bestehenden Urogenitaltuberkulose sowohl durch die behandelnden Ärzte wie auch die Gutachter nicht unmittelbar rechtserheblich. Medizinische Diagnosen seien im vorliegenden Zusammenhang bloß Hilfstatsachen für die Feststellung leistungseinschränkender Funktionseinbußen. Die damaligen Beschwerden des Klägers seien in den Gutachten hinlänglich aufbereitet und in ihren Auswirkungen gewürdigt worden. Eine quantitative Leistungsminderung sei daraus nicht abzuleiten und nicht abzuleiten gewesen. Auch der Neuantrag vom 17.04.2012 sei abzulehnen, da schon die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen von mindestens 36 Monaten mit Pflichtbeiträgen auch im verlängerten 5-Jahres-Zeitraum nicht erfüllt seien.

Gegen den seinem Bevollmächtigten am 05.02.2015 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 05.03.2015 eingelegte Berufung des Klägers. Das SG führe aus, dass der Eintritt einer Erwerbsminderung nicht feststehe. Der Gutachter Dr. Ka. (MDK) habe dagegen bereits im Gutachten vom 15.04.2004 festgestellt: "Aus medizinischer Sicht auf Dauer AU/Med Voraussetzungen für eine erhebliche Minderung/Gefährdung der Erwerbsfähigkeit/Minderung der EF liegen vor". Bereits 2004 habe dieser Gutachter ausgeführt, dass der Kläger die Tätigkeit im Baumarkt nicht mehr ausüben könne. Bereits zum damaligen Zeitpunkt habe der Gutachter mithin das Nachgehen dieser ungelernten Tätigkeit als ausgeschlossen erachtet. Dies zeige, dass der Kläger entgegen der Feststellungen gerade nicht sechs Stunden täglich habe erwerbstätig sein können. Bereits erstinstanzlich sei zudem eine Stellungnahme des behandelnden Arztes Dr. Si. vom 18.03.2014 vorgelegt worden. Aus dieser gehe hervor, dass beim Kläger aufgrund der massiven Beschwerden bereits am 24.08.2010 eine Resektion des Nebenhodens habe durchgeführt werden müssen. Diese Maßnahme stelle aufgrund der durchgehend bestehenden Schmerzen die ultima ratio dar und belege abermals, dass der Kläger bereits vor dem 01.09.2010 im geforderten Umfang erwerbsgemindert gewesen sei. Die vorgelegten Arztberichte belegten die massive Leidensgeschichte des Klägers durchgehend. Aufgrund der Tuberkuloseerkrankung sei von einer erheblichen Erwerbsminderung auszugehen.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 30.01.2015 und den Bescheid der Beklagten vom 03.07.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.12.2012 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 18.06.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.10.2004 zu verurteilen, ihm ausgehend von einem Leistungsfall im Oktober 2003 eine Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Der Senat hat ein Gutachten aufgrund ambulanter Untersuchung bei Prof. Dr. Wa., Klinik Innere Medizin IV (Nephrologie und Allgemeinmedizin) der Universitätsklinik F. in Auftrag gegeben. Mit Gutachten vom 28.01.2016 hat Prof. Dr. Wa. unter Mitarbeit von Prof. Dr. Hu. und Herrn Ja. folgende Gesundheitsstörungen festgestellt: &61630; Chronisches Schmerzsyndrom (R52.2) bei urogenitaler Tuberkulose (A18.1) ED 2008 &61630; Depression (F33.4) &61630; Ängstlich-vermeidende selbstunsichere Persönlichkeitsstörung (F60.6) &61630; Zervikobrachialgien bei degenerativen HWS-Veränderungen (M48.02) &61630; Raynaud Syndrom (I73.0) &61630; Atherosklerotische Herzkrankheit (I25.10) &61630; Zn Leistenhernienoperation rechts 2008 (K40.90) &61630; Zn Appendizitis 1973 (K35,8) &61630; unklare Erhöhung der Gamma-GT (R74.9) Die führende Einschränkung stelle das chronische Schmerzsyndrom dar, welches am ehesten auf die Urogenitaltuberkulose zurückzuführen sei. Zu den Dauerschmerzen träten mehrmals am Tag (3-4x) Schmerzspitzen auf, die bis zu mehreren Stunden andauern könnten. Im Rahmen der Raynaud Symptomatik komme es in Abhängigkeit von der Außentemperatur zu akuten Einschränkungen der Feinmotorik der Hände. Bei dem ausgeprägten chronifizierten Schmerzsyndrom erschienen nur leichte Tätigkeiten von weniger als drei Stunden pro Tag möglich. Das Schmerzsyndrom habe seit 2001 zu einer zunehmenden funktionellen Einschränkung geführt. Bei zu später Diagnose der Urogenitaltuberkulose könne es trotz medikamentöser Therapie zu einem Fortbestehen der Symptome kommen. Einschränkend sei anzumerken, dass sich die Diagnose auf die Aussagen des Klägers stütze.

Die Beklagte hat hierzu eine Stellungnahme ihres beratungsärztlichen Dienstes vorgelegt. Dr. Luc. führt unter dem 29.02.2016 aus, dass wesentliche Kriterien für die gutachterliche Beurteilung von Schmerzerkrankungen die auf Plausibilität geprüften Angaben des Klägers bezüglich der Teilhabeeinschränkungen, die Beschreibung der Bewegungsabläufe und die konkrete Schmerztherapie seien. Alle diese Informationen fehlten in dem internistischen Gutachten. Ob und ggf auf welche Weise eine Plausibilitätsprüfung der Angaben des Klägers erfolgt sei, sei dem Gutachten nicht zu entnehmen. Nach dem Gutachten des universitären Schmerzzentrums vom 18.05.2007 habe seinerzeit ein vollschichtiges Leistungsvermögen bezüglich leichter körperlicher Arbeit bestanden. Im internistisch-sozialmedizinischen Gutachten vom 28.06.2012 seien der Allgemeineindruck, Muskulatur, Bewegungen und das Gangbild als unauffällig beschrieben. Retrospektiv sprächen die erhobenen Befunde gegen eine Reduktion des quantitativen Leistungsvermögens. Das Gutachten vom 28.01.2016 sei daher nicht geeignet, um einen mehr als fünf Jahre zurückliegenden Leistungsfall außerhalb des internistischen Fachgebiets gesichert abzuleiten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Akten der Beklagten, des SG und des LSG Baden-Württemberg Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers hat teilweise Erfolg.

Die nach den §§ 143, 144, 151 Abs 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist statthaft, zulässig und teilweise begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit vom 01.04.2012 bis 31.03.2018. Dagegen besteht kein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung für die Zeit davor. Insoweit ist die Berufung unbegründet.

Der geltend gemachte Anspruch richtet sich für eine Rentengewährung aufgrund des im April 2012 gestellten Antrages (nur) nach § 43 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) in der ab 01.01.2008 geltenden Fassung des Art 1 Nr 12 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20.04.2007 (BGBl I, 554). Versicherte haben nach § 43 Abs 2 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung und nach § 43 Abs 1 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie voll bzw teilweise erwerbsgemindert sind (Nr 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr 3). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Sowohl für die Rente wegen teilweiser als auch für die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist Voraussetzung, dass die Erwerbsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung gemindert sein muss. Entscheidend ist darauf abzustellen, in welchem Umfang ein Versicherter durch Krankheit oder Behinderung in seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird und in welchem Umfang sich eine Leistungsminderung auf die Fähigkeit, erwerbstätig zu sein, auswirkt. Bei einem Leistungsvermögen, das dauerhaft eine Beschäftigung von mindestens sechs Stunden täglich bezogen auf eine Fünf-Tage-Woche ermöglicht, liegt keine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs 1 und Abs 2 SGB VI vor. Wer noch sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts arbeiten kann, ist nicht erwerbsgemindert; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs 3 SGB VI).

Soweit der Kläger zudem einen Rentenanspruch aufgrund eines bereits im Oktober 2003 eingetretenen Leistungsfalls geltend macht, ist als Rechtsgrundlage in verfahrensrechtlicher Hinsicht zusätzlich § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) heranzuziehen. Denn der im Oktober 2003 gestellte Rentenantrag ist durch Bescheid vom 18.06.2004 bestandskräftig abgelehnt worden. Rente aufgrund des im Oktober 2003 gestellten Antrages kann daher nur gewährt werden, wenn der Bescheid vom 18.06.2004 aufgehoben wird.

Nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Ziel des § 44 SGB X ist es, die Konfliktsituation zwischen der Bindungswirkung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes und der materiellen Gerechtigkeit zu Gunsten letzterer aufzulösen (vgl etwa BSG 04.02.1998, B 9 V 16/96 R, SozR 3-1300 § 44 Nr 24). Ist ein Verwaltungsakt rechtswidrig, hat der betroffene Bürger einen einklagbaren Anspruch auf Rücknahme des Verwaltungsaktes unabhängig davon, ob der Verwaltungsakt durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigt wurde (BSG 28.01.1981, 9 RV 29/80, BSGE 51, 139, SozR 3900 § 40 Nr 15).

Die Voraussetzungen des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X für einen Anspruch auf Rücknahme des die Rente ablehnenden Bescheids vom 18.06.2004 sind nicht erfüllt, weil die Beklagte die Gewährung der Rente damals zu Recht abgelehnt hat. Der Senat ist zwar der Überzeugung, dass der Kläger seit Dezember 2008 nicht mehr in der Lage ist, drei Stunden und mehr pro Arbeitstag tätig zu sein. Er hält es aber für nicht erwiesen, dass der Leistungsfall der Erwerbsminderung bereits früher eingetreten ist. Für die Zeit bis November 2012 steht nicht fest, dass der Kläger nur noch in der Lage gewesen wäre, weniger als sechs Stunden täglich zu arbeiten. Diese Nichterweislichkeit geht nach Ausschöpfung der noch vorhandenen Ermittlungsmöglichkeiten zu Lasten des Klägers (Grundsatz der materiellen Beweislast).

Der Kläger hatte in den vergangenen Jahren über starke Schmerzen geklagt, die von den Ärzten nicht in erster Linie als organisch begründet gewertet wurden. Während noch im Jahr 2004 bei verschiedenen Untersuchungen eine depressive Entwicklung im Vordergrund gestanden hatte, erfolgte die Bewertung der Schmerzsymptomatik ab 2006 unter der Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung. Ende 2008 wurde dann erstmals eine urogenitale Tuberkulose diagnostiziert, die bis Mai 2009 medikamentös behandelt wurde. Als Folge dieser Erkrankung litt der Kläger zudem an einer chronischen Nebenhodenentzündung, so dass im Jahr 2010 der rechte Nebenhoden entfernt werden musste. Im Gutachten des Prof. Dr. Wa., Ärztlicher Direktor der Klinik IV, Nephrologie und Allgemeinmedizin, des Universitätsklinikums F., das dieser unter Mitarbeit von Prof. Dr. Hu. und Herrn Ja. für den Senat erstattet hat, wird die Erkrankung des Klägers nunmehr als chronisches Schmerzsyndrom bezeichnet, welches am ehesten auf die Urogenitaltuberkulose zurückzuführen sei. Dieser Auffassung schließt sich der Senat an. Aufgrund eines ebenfalls bestehenden Raynaud-Syndroms kommt es außerdem in Abhängigkeit der Außentemperaturen zu vorübergehender Taubheit und einem Erblassen der Hände. Damit verbunden ist dann eine akute Einschränkung der Feinmotorik der Hände. Die übrigen Erkrankungen des Klägers - chronische Niereninsuffizienz und Hypertonie - haben aus Sicht des Sachverständigen (noch) keinen wesentlichen Einfluss auf die berufliche Leistungsfähigkeit des Klägers. Auch diese Bewertung des gerichtlichen Sachverständigen teilt der Senat und legt sie seiner Beurteilung zugrunde.

Das chronische Schmerzsyndrom ist derart ausgeprägt, dass der Kläger derzeit nur leichte körperliche Arbeiten von weniger als drei Stunden täglich verrichten kann. Dies entnimmt der Senat ebenfalls dem Gutachten des Prof. Dr. Wa., dem er sich auch insoweit anschließt. Ausschlaggebend hierfür sind die vom Kläger angegebenen Dauerschmerzen in der Flanke, welche in den Hoden ausstrahlen und die mit mehreren Schmerzspitzen pro Tag, die bis zu drei Stunden anhalten können, verbunden sind. Das Gehen längerer Strecken ist ihm nicht möglich und nach 10 Treppenstufen ist er erschöpft. Der gerichtliche Sachverständige ist sich der Tatsache bewusst, dass das chronische Schmerzsyndrom letztlich nicht exakt objektivierbar ist, wie er auf Seite 10 seines Gutachtens ausdrücklich festhält. Er weist jedoch darauf hin, dass er die Schilderungen des Klägers für glaubhaft erachtet (Seite 12 des Gutachtens) und legt die Gründe für seine von den früheren Gutachten abweichende Auffassung ausführlich dar. So erläutert er unter Hinweis auf eine in der medizinischen Literatur beschriebene Fallserie, dass dort zwar eine Persistenz der Schmerzen nach erfolgreicher Behandlung nicht mehr angegeben worden sei, er macht aber deutlich, dass sich dieses Ergebnis nicht mit dem Fall des Klägers vergleichen lasse. Hier habe es sieben Jahre bis zur Stellung der Diagnose und Einleitung einer Therapie gedauert. Dies sei ein Umstand, der wahrscheinlich zur Chronifizierung beigetragen habe. Bei zu später Diagnose könne es trotz medikamentöser Therapie zu einem Fortbestehen der Symptome kommen. Eine Beteiligung der Nebenhoden könne auch Jahre nach medikamentöser Therapie auftreten. Angesichts dieser Argumente und der Tatsache, dass der Gutachter aufgrund seines persönlichen Eindrucks, den er anlässlich seiner Untersuchung des Klägers gewonnen hat, dessen Angaben für glaubhaft erachtet, hält der Senat die Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit des Klägers durch Prof. Dr. Wa. für zutreffend. Es ist deshalb unerheblich, ob die Urogenitaltuberkulose - wie dies der von der Beklagten gehörte Dr. C. vertreten hat - aufgrund der medikamentösen Behandlung zwischenzeitlich ausgeheilt ist.

Dieser Beurteilung des beruflichen Leistungsvermögens steht nach Ansicht des Senats nicht entscheidend entgegen, dass die vom Kläger angegebene Schmerzsymptomatik in den früheren Gutachten sozialmedizinisch abweichend bewertet wurde. In seinem Gutachten vom 09.02.2006 beschreibt Dr. Ku. unter der Rubrik "Psychodynamischer Befund" seinen bei der Untersuchung des Klägers gewonnenen Eindruck eines zentralen Stellenwerts der Schmerzsymptomatik, welche die Tagestruktur und die Sozialkontakte des Klägers bestimme (Bl 94 der SG-Akte S 12 RJ 3848/04). Die stark einschränkende Schmerzsymptomatik wurde von ihm im wechselseitigen Zusammenhang mit der seit der Jugend des Klägers bestehenden ängstlich vermeidenden Lebensweise gesehen. Im Umgang mit der Symptomatik spielten die Ängste des Klägers vor Kränkung, Zurückweisung und vor Beschämtwerden eine große Rolle (Bl 105 der SG-Akte S 12 RJ 3848/04). Dr. Ku. kam damals zu dem Ergebnis, dass die aufgrund der Schmerzsymptomatik beim Kläger eingetretenen Funktionsstörungen ihren Niederschlag in den orthopädisch bedingten Funktionseinschränkungen gefunden hätten und damit ausreichend gewürdigt seien. Da die orthopädischen Erkrankungen aber nicht besonders gravierend waren, ergab sich daraus auch keine Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit des Klägers in zeitlicher Hinsicht. Nach dem Gutachten des Prof. Dr. Wa. spricht jedoch vieles dafür, dass schon damals eine Urogenitaltuberkulose vorlag und für die Schmerzsymptomatik ursächlich war. Deshalb stand die Schmerzsymptomatik nicht (jedenfalls nicht nur) im wechselseitigen Zusammenhang mit der seit der Jugend des Klägers bestehenden ängstlich vermeidenden Lebensweise. Nach Ansicht des Senats ist damit zwar nicht nachgewiesen, dass der Kläger aufgrund der Schmerzen bereits damals nur noch weniger als sechs Stunden pro Tag arbeiten konnte. Andererseits enthält das Gutachten des Dr. Ku. aber auch kein Argument, das geeignet ist, die von Prof. Dr. Wa. vorgenommene Einschätzung zu widerlegen. Gleiches gilt für die von Prof. Dr. Mo. vorgenommene Einschätzung im Gutachten vom 18.05.2007, wonach der Kläger "aufgrund seiner im Vordergrund stehenden seelischen Gesundheitsstörung durchaus einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nachgehen" könne. Denn diese Beurteilung stand unter dem Vorbehalt, dass "die somatoforme Schmerzstörung mit depressiven Episoden" adäquat behandelt wird (Bl 155 der SG-Akte S 12 RJ 3848/04). Da eine der Ursachen für die Schmerzsymptomatik - die Urogenitaltuberkulose – gar nicht erkannt worden war, konnte auch keine adäquate Schmerzbehandlung stattfinden.

Der Senat ist davon überzeugt, dass der Leistungsfall der vollen Erwerbsminderung am 22.12.2008 eingetreten ist. An diesem Tag stellte sich der Kläger in der pneumologischen Ambulanz des Universitätsklinikums F. vor. Dort wurde eine chronische Nebenhodenentzündung bei Verdacht auf Nierentuberkulose bei 3-mal positivem PCR für Tuberkulose in der Urinuntersuchung diagnostiziert, die bis dahin erfolgte Medikation um die Einnahme von Isozid 300 ergänzt und dringend eine weitere urologische Abklärung zur Sicherung des Diagnoseverdachts empfohlen (Arztbrief Prof. Dr. Mü.-Qu. vom 14.01.2009, Bl 96 der SG-Akte S 12 R 379/13). Ein früherer Leistungsfall ist zwar möglich, aber nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen. Bei der Untersuchung durch Dr. Ku. 2004 standen noch Schmerzen an der Wirbelsäule im Vordergrund (Bl 102 der SG-Akte S 12 RJ 3848/04). Es ist daher nicht sicher feststellbar, dass die heutige Schmerzsymptomatik schon damals im gleichen Ausmaß vorgelegen hat.

Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen liegen vor. In den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung am 22.12.2008 sind mehr als drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit entrichtet worden. Im Zeitraum vom 22.12.2003 bis 21.12.2008 sind zwar nur 31 Kalendermonate mit Pflichtbeiträgen belegt, doch ist dieser Zeitraum um 25 Monate an Zeiten iSd § 43 Abs 4 Nr 3 SGB VI (Arbeitslosigkeit ohne Leistungsbezug) zu verlängern. Die 25 Monate, um die der maßgebliche Zeitraum zu verlängern ist, sind durchweg mit Pflichtbeiträgen belegt. In dem verlängerten Zeitraum wurden deshalb mehr als drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung entrichtet. Die Beklagte geht davon, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen letztmals bei Eintritt des Leistungsfalles am 31.08.2010 erfüllt sind (Schriftsatz vom 29.04.2013, Bl 46 der SG-Akte S 12 R 379/13).

Befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit werden nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet (§ 101 Abs 1 SGB VI). Maßgeblich ist im Übrigen der Rentenantrag (§ 99 Abs 1 Satz 2 SGB VI). Da der Leistungsfall zur Überzeugung des Senats bereits seit dem 22.12.2008 nachgewiesen ist, wie oben ausgeführt, die Rente aber erst im April 2012 beantragt wurde, ist der Rentenbeginn am 01.04.2012.

Die Rente war zu befristen, da ein Dauerzustand zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht angenommen werden kann. Renten, auf die ein Anspruch unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage besteht, werden unbefristet geleistet, wenn unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann; hiervon ist nach einer Gesamtdauer der Befristung von neun Jahren auszugehen (§ 102 Abs 2 Satz 5 SGB VI). Eine Besserung im Gesundheitszustand ist solange noch nicht unwahrscheinlich, solange nicht alle therapeutischen Behandlungsmöglichkeiten erschöpft sind. Hierzu zählen alle anerkannten Behandlungsmethoden, auch geläufige Operationen, die zur Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit führen können, soweit nicht im Gesundheitszustand des Versicherten liegende Kontraindikationen entgegenstehen (BSG 29.03.2005, B 13 RJ 31/05 R, SozR 4-2600 § 102 Nr 2). Nach § 102 Abs 2 S 1 SGB VI sind Erwerbsminderungsrenten grundsätzlich auf längstens drei Jahre zu befristen. Wenn auf die Rente - wie vorliegend - ein Anspruch unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage besteht, wird sie nur dann unbefristet geleistet, wenn unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann. Es ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht ausgeschlossen, dass sich das Leiden des Klägers wieder derartig bessert, dass ein Wiedereintritt in eine mindestens sechsstündige leichte Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt möglich wird, auch wenn die Prognose nach den Ausführungen von Prof. Dr. Wa. eher schlecht ist. Der Senat hält es nicht für erwiesen, dass beim Kläger bereits alle therapeutischen Behandlungsmöglichkeiten erschöpft sind. Die Rente steht dem Kläger daher zunächst befristet bis zum 31.03.2015 zu.

Da dieser Zeitraum bereits abgelaufen ist, wird die Rente um weitere drei Jahre bis 31.03.2018 verlängert. Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung werden gemäß § 19 Satz 1 SGB IV zwar nur auf Antrag gewährt, wenn nicht etwas anderes bestimmt ist (§ 115 Abs 1 Satz 1 SGB VI). Bei einem laufenden Gerichtsverfahren über den Rentenanspruch ist ein solcher Antrag immer in dem Fortbetreiben des Verfahrens durch den Versicherten zu sehen (LSG Baden-Württemberg 18.05.2015, L 11 R 1126/14, juris; vgl LSG Sachsen-Anhalt 19.07.2011, L 3 R 485/07 unter Hinweis auf BSG 14.11.2002, B 13 RJ 47/01 R, BSGE 90, 136, SozR 3-2600 § 300 Nr 18).

Einen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Vorliegen von Berufsunfähigkeit nach § 240 SGB VI hat der Kläger nicht. Der Kläger ist zwar vor dem Stichtag 02.01.1961 geboren, er hat jedoch den erlernten Beruf als Tankwart bereits 1979 (nicht aus gesundheitlichen Gründen) aufgegeben und seither im Wesentlichen ungelernte Tätigkeiten als Lagerarbeiter verrichtet. Damit ist er auf sämtliche Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar.

Der Sachverhalt ist vollständig aufgeklärt; das Gutachten von Prof. Dr. Wa. hat damit dem Senat die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen vermittelt (§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG, § 412 Abs 1 ZPO). Weitere Beweiserhebungen waren daher von Amts wegen nicht mehr notwendig und auch nicht ersichtlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Dabei wurde berücksichtigt, dass die Berufung nur teilweise erfolgreich war.

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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