L 5 R 3096/15

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 10 R 3250/13
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 5 R 3096/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 01.07.2015 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt Rente wegen Erwerbsminderung.

Die 1958 geborene Klägerin (GdB 50 seit 05.02.2009) hat keinen Beruf erlernt. Sie war mit Unterbrechungen u.a. durch die Geburt ihrer 5 Kinder in ungelernten Tätigkeiten, zuletzt bis 14.11.2007 als Verpackerin, versicherungspflichtig beschäftigt. Nach Beendigung der Lohnfortzahlung bezog sie zunächst Krankengeld und sodann bis 13.08.2010 Arbeitslosengeld. Seit 14.08.2010 besteht Arbeitslosigkeit ohne Leistungsbezug.

Vom 13.03.2009 bis 03.04.2009 absolvierte die Klägerin eine stationäre Rehabilitationsbehandlung in der Reha-Klinik am K., Bad K ... Im Entlassungsbericht vom 09.04.2009 sind die Diagnosen Fibromyalgie, arterielle Hypertonie mit 4-fach-Kombination gut eingestellt sowie Adipositas per magna (BMI 46,6) festgehalten. Als Verpackerin könne die Klägerin nur unter 3 Stunden täglich arbeiten, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes aber (unter qualitativen Einschränkungen) 6 Stunden täglich und mehr verrichten.

Am 03.04.2009 beantragte die Klägerin erstmals Rente wegen Erwerbsminderung. Sie halte sich wegen Fibromyalgie, arterieller Hypertonie, gelegentlichen Suizidgedanken mit resignierender mittelgradiger depressiver Episode und wegen weiteren Erkrankungen seit dem 17. Lebensjahr für erwerbsgemindert.

Mit Bescheid vom 18.05.2009 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab. Zur Begründung führte sie aus, die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der Gewährung von Erwerbsminderungsrente seien nicht erfüllt. Im maßgeblichen Fünfjahreszeitraum vom 07.05.2004 bis 06.05.2009 seien nur 2 Jahre und 11 Monate mit Beiträgen belegt. Außerdem liege Erwerbsminderung nicht vor.

Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren (Widerspruchsbescheid vom 28.08.2009: versicherungsrechtliche Voraussetzungen der Rentengewährung zwar (doch) erfüllt, aber keine Erwerbsminderung) erhob die Klägerin am 21.09.2009 Klage (Verfahren S 1 R 3292/09) beim Sozialgericht Heilbronn (SG).

Das SG befragte behandelnde Ärzte. Der Orthopäde Dr. T. teilte im Bericht vom 20.11.2009 Behandlungstermine (zwischen 06.02.2009 und 23.10.2009 5 Termine) und Diagnosen (u.a. beginnende Coxarthrose beidseits, Adipositas per magna und Fibromyalgie) mit und vertrat die Auffassung, die Klägerin könne in ihrer zuletzt ausgeübten Tätigkeit und auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (leichte Tätigkeiten bei qualitativen Einschränkungen) noch 6 Stunden täglich erwerbstätig sein (beigefügt Arztbrief des Internisten und Rheumatologen Dr. Sch. vom 28.04.2008: u.a. derzeit keine wesentliche depressive Symptomatik). Der Internist und Kardiologe Dr. O. (2 Behandlungstermine; Behandlung wegen arterieller Hypertonie) gab im Bericht vom 25.11.2009 an, aus kardiologischer Sicht bestünden keine Einschränkungen für die sechsstündige Arbeit als Verpackerin bzw. für die sechsstündige Verrichtung leichter Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes (beigefügt Bericht der W.-Z. Kliniken, Rheumazentrum O., vom 30.10.2008 über eine stationäre Behandlung vom 21.10.2008 bis 04.11.2008, Entlassung in leicht gebessertem Allgemeinzustand). Die Fachärztin für spezielle Schmerztherapie Dr. St. teilte im Bericht vom 15.10.2010 mit, die Klägerin konsultiere sie seit 13.04.2010 alle 10 Tage. Sie leide an einem schweren Fibromyalgie-Syndrom und gebe derzeit an, sie könne nicht täglich 6 Stunden arbeiten. Sie (Dr. St.) könne zum zeitlichen Leistungsvermögen der Klägerin aber keine Angaben machen; hierzu möge der behandelnde Rheumatologe befragt werden. Der Internist und Rheumatologe Dr. Wi. führte im Bericht vom 19.07.2010 (unter wortgleicher Beschreibung am 14.07.2008 und 26.04.2010 erhobener Befunde und allgemeiner Darlegungen zum Fibromyalgie-Syndrom) aus, er behandele die Klägerin seit 14.07.2008 (Konsultation in der Regel einmal im Quartal). Die Klägerin gebe an, sie leide seit vielen Jahren unter "Schmerzen überall". Wegen des glaubhaft hohen Leidensdrucks von Seiten des chronischen Schmerzsyndroms liege Erwerbsunfähigkeit vor.

Das SG erhob sodann gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf Antrag und Kostenrisiko der Klägerin das Gutachten des Internisten und Rheumatologen Dr. He. (W.-Z. Kliniken, Bad Wa.) vom 17.05.2011 mit ergänzender Stellungnahme vom 05.12.2011. Die Klägerin gab bei der Anamnese (u.a.) an, man habe vor 9 Jahren das (eigene) Zweifamilienhaus gebaut; dabei habe sie viel mitgeholfen und auch körperlich schwer gearbeitet. Vor 2 Jahren sei es ohne erkennbaren Auslöser zu einer Ausbreitung der Schmerzen im ganzen Körper gekommen. Seitdem sei sie nicht mehr schmerzfrei. Dr. He. diagnostizierte bei der psychomotorisch eher lebhaften Klägerin ohne grob auffälligem Stimmungsniveau bei adäquater Auslenkbarkeit eine schwere anhaltende Schmerzstörung vom Fibromyalgie-Typ, massive Fettleibigkeit (Adipositas Grad III, BMI 48), medikamentös behandelten Bluthochdruck (arterielle Hypertonie), ein degeneratives Wirbelsäulenleiden, beginnende Kniegelenksarthrose beidseits, Mastdarmschwäche und Herabgestimmtheit (Dysthymie). Die Erwerbsfähigkeit der Klägerin werde in erster Linie durch die schwere Schmerzstörung beeinträchtigt. Trotz multidisziplinärer und polypragmaT. Therapie seien die Schmerzstärke im Eigenreport hoch, das Leistungsvermögen extrem niedrig, die Einschränkungen im Alltagsleben (Aktivitäten, Partizipationen) bei glaubhaften Eigen- und Fremdangaben groß. Die Krankheit habe weitgehend die Lebensgestaltung übernommen. Als Verpackerin könne die Klägerin nicht mehr 3 Stunden täglich arbeiten. Auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sei das Leistungsvermögen aufgehoben. Die Leistungseinschränkungen lägen seit Beginn des Jahres 2010 vor. Eine Wegstrecke von 500 Meter könne die Klägerin zu Fuß nur einmal am Tag zurücklegen.

Die Beklagte legte die beratungsärztliche Stellungnahme des Internisten, Rheumatologen und Sozialmediziners Dr. L. vom 07.10.2011 vor. Darin ist ausgeführt, Dr. He. habe die Annahme, die Klägerin könne geeignete leichte Tätigkeiten nicht mehr über 6 Stunden täglich verrichten und auch Wegstrecken von 500 Meter in knapp 20 Minuten nicht mehr mehrmals täglich zurücklegen, nicht ausreichend begründet. Die Befundlage, insbesondere die nur leichten Funktionseinschränkungen des Bewegungsapparats insgesamt sowie der psychische Befund und der insgesamt gute Allgemeinzustand der Klägerin sprächen aus sozialmedizinischer Sicht eindeutig für ein über sechsstündiges Leistungsvermögen hinsichtlich leidensgerechter Tätigkeiten, wie dies auch im Entlassungsbericht der Reha-Klinik am K., Bad K., vom 09.04.2009 angenommen worden sei.

In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 05.12.2011 hielt Dr. He. an seiner Auffassung fest. Dr. L. hielt in der beratungsärztlichen Stellungnahme vom 19.12.2011 an seiner Einschätzung ebenfalls fest. Nach wie vor fehle es an der hinreichenden Objektivierung des von der Klägerin vorgetragenen Leidensdrucks. Bei mehrjährigem Bestehen einer Schmerzerkrankung von quantitativ leistungsminderndem Ausprägungsgrad wären außerdem höhere psychische Beeinträchtigungen zu erwarten als nach der Befundlage aufgezeigt.

Die Klägerin legte weitere Atteste vor (darunter Attest der Psychiaterin und Psychotherapeutin Dr. G. vom 09.09.2011: Diagnosen Anpassungsstörung, chronisches Schmerzsyndrom vom Fibromyalgie-Typ; Klägerin klagsam, affektarm, affektive Resonanzfähigkeit vermindert, Grundstimmung gedrückt, Antrieb und Psychomotorik unauffällig).

Das SG erhob abschließend den Bericht der Allgemeinärztin Dr. Ga. vom 10.01.2012 (Behandlung seit 04.11.2004). Dr. Ga. teilte u.a. die der Klägerin - wegen einer Fibromyalgie mit schubweisem Verlauf ohne Schmerzfreiheit - verschriebenen Analgetika mit und vertrat die Auffassung, die Klägerin könne auch leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht mehr verrichten. Die Beklagte legte die abschließende beratungsärztliche Stellungnahme des Dr. L. vom 27.01.2012 vor. Darin heißt es u.a., der Verordnungsplan der Dr. Ga. belege einen quantitativ leistungsmindernden Ausprägungsgrad der Schmerzerkrankung nicht; es bleibe bei der bisherigen Leistungseinschätzung.

Am 24.04.2012 fand die mündliche Verhandlung des SG statt. Die Klägerin gab an, nach dem Bezug von Arbeitslosengeld I sei sie weiter arbeitssuchend gemeldet. Eine psychotherapeutische und schmerztherapeutische Behandlung finde derzeit (wie zunächst nach der Rehabilitationsbehandlung in Bad K.) nicht mehr statt; sie stehe bei mehreren Psychotherapeuten auf der Warteliste. Wenn es ihr ganz schlecht gehe, führe sie ein Gespräch mit der Hausärztin.

Das Klageverfahren wurde durch Vergleich beendet. Die Beklagte verpflichtete sich, der Klägerin ein Heilverfahren in einer psychosomatisch/schmerztherapeutisch ausgerichteten Klinik zu gewähren, in der auch eine Behandlung des massiven Übergewichts sowie des Lip- und Lymphödems der Klägerin möglich wäre.

Mit Bescheid vom 15.06.2012 gewährte die Beklagte der Klägerin die im Vergleich vereinbarte Leistung. Die Klägerin trat die Rehabilitationsbehandlung nicht an. Die Beklagte nahm die erteilte Kostenzusage nach Ablauf der Geltungsfrist wieder zurück.

Am 02.04.2013 stellte die Klägerin erneut einen Rentenantrag; sie könne (u.a.) wegen einer schweren depressiven Episode, einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer somatoformen Schmerzstörung und wegen Fibromyalgie nicht mehr erwerbstätig sein.

Die Beklagte erhob das Gutachten des Internisten Dr. Br. vom 06.06.2013. Dieser fand eine allenfalls diskret gedrückte Stimmungslage und diagnostizierte ein Fibromyalgie-Syndrom, einen medikamentös unzureichend eingestellten Bluthochdruck ohne Anhaltspunkte für Folgeerkrankungen sowie eine Adipositas III. Grades. Eine weitere Gewichtsreduktion sei dringend zu empfehlen. Dadurch dürften sich die Blutdruckeinstellung und die Beschwerden durch die Fibromyalgie bessern. Die Klägerin könne die zuletzt ausgeübte Tätigkeit sowie leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes (unter qualitativen Einschränkungen) 6 Stunden täglich und mehr verrichten.

Mit Bescheid vom 10.06.2013 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab.

Am 25.06.2013 legte die Klägerin Widerspruch ein. Sie leide an schweren Depressionen und müsse den Stuhlgang eigenhändig entfernen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 27.08.2013 wies die Beklagte den Widerspruch zurück, worauf die Klägerin am 17.09.2013 Klage beim SG erhob. Sie könne insbesondere wegen des Fibromyalgie-Syndroms und einer depressiven Störung mit gegenwärtig schwerer Episode, einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung und einer posttraumatischen Belastungsstörung (Attest der Psychologischen Psychotherapeutin Dipl.-Psych. Go. vom 09.10.2013) nicht mehr erwerbstätig sein.

Die Beklagte trat der Klage entgegen.

Das SG befragte behandelnde Ärzte. Die Dipl.-Psych. Go. gab im Bericht vom 23.12.2013 an, die Klägerin nehme seit 10.10.2012 an einer kognitiven Verhaltenstherapie teil (25 Sitzungen ausgeschöpft, Fortführung geplant). Es liege u.a. eine schwere Episode depressiver Symptomatik vor; sozialmedizinische Fragestellungen könne sie als psychologische Psychotherapeutin nicht beantworten. Der Neurologe Dr. Fr. teilte unter dem 15.01.2014 bzw. am 30.01.2014 mit, die Klägerin werde aufgrund einer schwergradigen depressiven Störung und einer posttraumatischen Belastungsstörung (seit 30.03.2001) neurologisch-psychiatrisch behandelt. Sie könne nicht mehr als 3 Stunden täglich arbeiten. Die Leistungseinschränkung bestehe seit Januar 2008.

Das SG erhob das neurologisch-psychiatrisch-schmerzmedizinische Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. R. (Ärztlicher Direktor der St.-R. Kliniken, Bad S.) vom 30.01.2015. Bei der Anamnese gab die Klägerin zum aktuellen Beschwerdebild (u.a.) an, sie fühle sich seit dem Jahr 1991 depressiv. Seinerzeit sei sie in einer psychiatrischen Klinik 4 Monate stationär behandelt worden. Die Depression führe sie darauf zurück, dass sie als Kind von ihrem Stiefvater, ihrem großen Bruder und auch von einem Onkel sexuell missbraucht worden sei. Zu einer schweren Depression sei es erneut vor ca. 2 Jahren gekommen. Außerdem leide sie seit 7 Jahren unter Schmerzen im ganzen Körper. Prof. Dr. R. eruierte den Tagesablauf der Klägerin, führte Untersuchungen (auch einen Gehtest: Gehstrecke 500 Meter in 12 Minuten sowie psychometrische Testverfahren bzw. Fragebogentests und apparative Testverfahren) durch und erhob (u.a.) den psychischen Befund. Dazu heißt es im Gutachten, im Verlauf der mehrstündigen Befragung sei es nicht zu einem Nachlassen der Konzentriertheit gekommen. Die Antriebslage wirke streckenweise vermindert. Hinsichtlich der Stimmungslage wirke die Klägerin überwiegend subdepressiv. Beim Besprechen angenehmer Themen komme es jedoch rasch zu einer Stimmungsaufhellung. Die affektive Modulationsfähigkeit sei leichtgradig eingeschränkt. Die Klägerin habe zum Tagesablauf berichtet, sie könne gemeinsam mit ihrem Ehemann kochen, die Spülmaschine be- und entladen, Wäsche sortieren, die Waschmaschine befüllen und Wäsche bügeln, ein Kraftfahrzeug führen, Einkaufswaren tragen, die Tageszeitung lesen, ein Thermalbad aufsuchen, Spaziergänge unternehmen und Brettspiele machen. Prof. Dr. R. diagnostizierte eine leichtgradige, anhaltende somatoforme Schmerzstörung, eine Dysthymia und degenerative Veränderungen der Wirbelsäule bzw. mehrerer Gelenke. Für die Leichtgradigkeit der Schmerzstörung spreche neben den Angaben aus der Aktenlage und der Anamnese vor allem der jetzt erhobene, nur leichtgradig gestörte psychische Befund. Auch die Analyse der Alltagsaktivitäten zeige, dass es der Klägerin noch möglich sei, einem geregelten Tagesablauf nachzugehen, so dass weder eine mittelschwere noch eine schwere anhaltende somatoforme Schmerzstörung angenommen werden müsse. Schmerzmedikamente bzw. schmerzdistanzierende Antidepressiva würden in mittlerer bzw. niedriger Dosierung eingenommen. Die von der Dipl.-Psych. Go. beschriebene schwere Depression sei abgeklungen bzw. in eine leichte Depression übergegangen. Von einer posttraumatischen Belastungsstörung könne nicht mehr ausgegangen werden; vielmehr liege eine Dysthymia (leichte Depression) vor. Die Leistungseinschätzung des Dr. He. (Leistungsvermögen unter 3 Stunden täglich) werde weder durch einen ausführlichen psychischen Befund noch durch die Beschreibung der Alltagsaktivitäten der Klägerin begründet; entsprechendes gelte für die Auffassung des Dr. Fr. Die Klägerin könne leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes (unter qualitativen Einschränkungen) noch ca. 8 Stunden täglich verrichten. Die Fähigkeit, die üblichen Wege zu und von der Arbeitsstelle zurückzulegen, sei nicht eingeschränkt.

Nachdem die Klägerin abschließend ein Protokoll der Dipl.-Psych. Go. vom 29.03.2015 zu einem Gespräch über das Gutachten des Prof. Dr. R. vorgelegt und daran festgehalten hatte, nicht mehr arbeiten zu können, wies das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 01.07.2015 ab. Zur Begründung führte es aus, der Klägerin stehe Erwerbsminderungsrente nicht zu, weil sie unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig sein könne; sie sei daher nicht erwerbsgemindert (§ 43 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch, SGB VI). Das gehe aus dem Gutachten des Prof. Dr. R. überzeugend hervor. Dieser habe eine nur leichtgradig ausgeprägte somatoforme Schmerzstörung sowie (lediglich) eine Dysthymia gefunden, eine schwergradige depressive Störung aber nicht (mehr) feststellen können. Dass die Klägerin die ihr von der Beklagten in Vollzug des im Verfahren S 1 3292/09 abgeschlossenen Vergleichs gewährte Rehabilitationsbehandlung nicht angetreten habe, verdeutliche, dass der Leidensdruck offenkundig nicht stark ausgeprägt sei. Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit (§ 240 Abs. 1 SGB VI) komme für die als ungelernte Arbeiterin auf den allgemeinen Arbeitsmarkt breit verweisbare Klägerin nicht in Betracht.

Gegen den ihr am 07.07.2015 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 24.07.2015 Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt sie vor, das SG habe die Schwere der bei ihr vorliegenden depressiven Störung verkannt. Sie leide, wie etwa aus dem Bericht der Dipl.-Psych. Go. hervorgehe, nach wie vor dauerhaft unter einer schwergradigen Depression. Deswegen könne sie nicht mehr erwerbstätig sein. Sie sei in umfangreicher Art und Weise psychosomatisch beeinträchtigt und seit vielen Jahren in ärztlicher Behandlung; das belege ihren Leidensdruck hinreichend. Ein Ende der Behandlungsmaßnahmen sei nicht abzusehen. Das von der Beklagten gewährte Heilverfahren habe sie gerade wegen ihres Krankheitsbildes nicht angetreten.

Die Klägerin hat das Attest des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. Ki. vom 22.09.2015 und das Attest der Dr. Ga. vom 10.09.2015 vorgelegt. Dr. Ki. hat ausgeführt, die Klägerin befinde sich seit dem 02.07.2014 in seiner ambulant geführten psychiatrischen Behandlung, aktuell unter der führenden Diagnose einer schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome und einer posttraumatischen Belastungsstörung. Es lägen entwicklungsgeschichtliche und lebensbelastende Faktoren (u.a. Vergewaltigung in erster Ehe) vor, die zu dem heutigen Beschwerdebild geführt hätten. Die Klägerin zeige ein verstärktes Rückzugsverhalten im Sinne einer durchgängig passiv-regressiven Lebenshaltung und einer zunehmend ausgeprägten depressiven Symptomatik. Trotz psychiatrischer Behandlung unter Einsatz von Psychopharmaka habe sich das Gesamtstimmungsbild bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht gebessert. Aus psychiatrischer Sicht seien die Voraussetzungen einer Erwerbsminderung gegeben. Dr. Ne. (Praxis Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. Ga.) hat ausgeführt, die Klägerin leide seit dem 17. Lebensjahr an chronisch rezidivierenden Schmerzen am Bewegungsapparat. Diese seien in den letzten 5 Jahren zu einem Dauerschmerz geworden mit Ausbreitung auf den ganzen Körper. Man habe 2008 eine Fibromyalgie diagnostiziert; eine interdisziplinäre Schmerztherapie werde durchgeführt. Bisher habe allerdings keine zufriedenstellende Schmerzlinderung erzielt werden können. Bei der Klägerin bestehe eine ausgeprägte depressive Stimmungslage. In den letzten 5 Jahren sei es eher zu einer deutlichen Verschlechterung sowohl des physischen als auch des psychischen Zustandes gekommen.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 01.07.2015 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 10.06.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.08.2013 zu verurteilen, ihr Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung ab 01.04.2013 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Auf Nachfrage des Berichterstatters hat die Klägerin mitgeteilt, sie wünsche keine Rehabilitationsbehandlung und wolle das Berufungsverfahren fortführen. Mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung sei sie nicht einverstanden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze sowie die Akten der Beklagten, des SG und des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gem. §§ 143, 144, 151 SGG statthafte und auch sonst zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet. Die Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, ihr Rente wegen Erwerbsminderung zu gewähren. Sie hat darauf keinen Anspruch.

Das SG hat in seinem Gerichtsbescheid zutreffend dargelegt, nach welchen Rechtsvorschriften (§§ 43, 240 SGB VI) das Rentenbegehren der Klägerin zu beurteilen ist, und weshalb ihr danach Rente nicht zusteht. Der Senat nimmt auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Gerichtsbescheids Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG). Ergänzend ist im Hinblick auf das Berufungsvorbringen der Beteiligten und die im Berufungsverfahren vorgelegten Unterlagen anzumerken:

Auch der Senat ist der Auffassung, dass die Klägerin leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts (unter qualitativen Einschränkungen) mindestens 6 Stunden täglich verrichten kann, weshalb Erwerbsminderung nicht vorliegt (§ 43 Abs. 3 SGB VI).

Eine rentenberechtigende Erwerbsminderung ist (schon) im ersten - durch gerichtlichen Vergleich beendeten - Rentenverfahren nicht festgestellt worden. Die Ärzte der Reha-Klinik am K., Bad K., haben während einer stationären Rehabilitationsbehandlung vom 13.03.2009 bis 03.04.2009 ein auf unter 6 Stunden täglich abgesunkenes Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht finden können. Die Klägerin ist im Entlassungsbericht vom 09.04.2009 vielmehr für fähig erachtet worden, Tätigkeiten dieser Art (unter qualitativen Einschränkungen) mindestens 6 Stunden täglich zu verrichten. Der im Klageverfahren S 1 R 3292/09 befragte Orthopäde Dr. T. und der Internist und Kardiologe Dr. O. haben diese Leistungseinschätzung für ihre Fachgebiete bestätigt (Bericht vom 20.11.2009 bzw. vom 25.11.2009). Auf psychiatrischem Fachgebiet sind sozialmedizinisch (rentenrechtlich) beachtliche Befunde nicht dokumentiert worden; in einem dem Bericht des Dr. T. beigefügten Arztbrief des Internisten und Rheumatologen Dr. Sch. vom 24.08.2008 heißt es (im Gegenteil), eine wesentliche depressive Symptomatik liege nicht vor. Die Schmerztherapeutin Dr. St. hat eine Leistungseinschätzung nicht abgegeben. Dr. Wi. hat zwar Erwerbsunfähigkeit befürwortet, sich hierfür im Kern aber auf subjektive Beschwerdeangaben der Klägerin gestützt, womit eine schlüssige sozialmedizinische Leistungseinschätzung für sich allein aber nicht zu begründen ist. Der Auffassung des gemäß § 109 SGG mit der Begutachtung der Klägerin beauftragten Dr. He. (Gutachten vom 17.05.2011) hat die Beklagte die überzeugenden Einwendungen des Beratungsarztes Dr. L. entgegengesetzt, der schlüssig dargelegt hat, dass auf die von Dr. He. erhobenen Befunde weder ein aufgehobenes Leistungsvermögen noch eine aufgehobene Wegefähigkeit gestützt werden kann; Dr. He. hatte (in psychiatrischer Hinsicht) lediglich eine Dysthymie und keine rentenrechtlich beachtliche Erkrankung des depressiven Formenkreises diagnostiziert und sich im Übrigen ebenfalls wesentlich auf subjektive Beschwerdeangaben der Klägerin gestützt. Auch die im weiteren Verfahrensgang vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen und Berichte haben eine rentenberechtigende (zeitliche) Leistungsminderung (insbesondere auf psychiatrischem - und damit zusammenhängend auch auf schmerztherapeutischem - Fachgebiet; Attest der Dr. G. vom 09.09.2011: Antrieb und Psychomotorik unauffällig; Stellungnahme des Dr. L. vom 19.12.2011: bei rentenberechtigender Schmerzerkrankung höhere psychische Beeinträchtigungen als dokumentiert zu erwarten) nicht belegen können, weshalb das Klageverfahren durch gerichtlichen Vergleich beendet worden ist. Die Klägerin hat die ihr vergleichsweise gewährte Rehabilitationsbehandlung freilich nicht angetreten und zuvor in der mündlichen Verhandlung des SG vom 24.04.2012 außerdem mitgeteilt, eine psychotherapeutische bzw. eine schmerztherapeutische Behandlung finde nicht mehr statt; sie führe - wenn es ihr ganz schlecht gehe - ein Gespräch mit der Hausärztin. Beides spricht gegen das Vorliegen eines durch eine höhergradige und sozialmedizinisch (rentenrechtlich) beachtliche Depressions- oder Schmerzerkrankung verursachten Leidensdrucks. Sollte sie aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage gewesen sein, die Rehamaßnahme anzutreten, hätte sie sich nicht nur am 29.06.2012, sondern auch danach noch einmal bei der Beklagten oder der Klinik melden müssen.

Ein wesentlich anderes Bild hat sich im zweiten (hier streitgegenständlichen) Rentenverfahren nicht ergeben. Dr. Br. hat im Verwaltungsgutachten vom 06.06.2013 nur eine allenfalls diskret gedrückte Stimmungslage gefunden und schlüssig eine rentenberechtigende Depressions- oder Schmerzerkrankung ausgeschlossen, zumal die von der Klägerin zur Begründung ihres Rentenbegehrens geltend gemachten Fibromyalgiebeschwerden (schon) durch Gewichtsreduktion gebessert werden könnten. Prof. Dr. R. hat die Leistungseinschätzung des Dr. Br. in seinem Gerichtsgutachten vom 30.01.2015 bestätigt. Der Gutachter hat (wie zuvor schon Dr. He. im gemäß § 109 SGG erhobenen Gutachten vom 17.05.2011) auf psychiatrischem Fachgebiet nur eine Dysthymia und in schmerzmedizinischer Hinsicht nur eine leichtgradige, anhaltende somatoforme Schmerzstörung gefunden. Für die Leichtgradigkeit der Schmerzstörung hat er sich überzeugend auf die von ihm erhobene Anamnese (etwa zum Tagesablauf der Klägerin) und den nur leichtgradig gestörten psychischen Befund sowie auf die nur niederschwellige medikamentöse Therapie gestützt. Prof. Dr. R. hat folgerichtig eine schwere Depressionserkrankung und auch eine posttraumatische Belastungsstörung ausgeschlossen. Seine sozialmedizinische Leistungseinschätzung (mindestens sechsstündiges Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts und bestehende Wegefähigkeit) überzeugt daher auch den Senat. Die zur Begründung des Rentenbegehrens im Berufungsverfahren noch vorgelegten Atteste des Dr. Ki. vom 22.09.2015 und der Dr. Ne. vom 10.09.2015 enthalten demgegenüber lediglich ärztliche Meinungsäußerungen, insbesondere zum Schweregrad psychiatrischer Erkrankungen, jedoch keine aus Befunden nachvollziehbar begründeten sozialmedizinischen Leistungseinschätzungen. Sie rechtfertigen angesichts der gegenteiligen Erkenntnisse im zeitnah (nur wenige Monate zuvor) erstellten Gutachten des Prof. Dr. R. keine andere Sicht der Dinge. Das gilt erst Recht für den vom SG erhobenen Bericht der Dipl.-Psych. Go. vom 23.12.2013, der dem Gutachter vorgelegen hat; die darin angegebene schwere depressive Episode ist nach den Erkenntnissen des Gutachters (jedenfalls) abgeklungen bzw. in eine leichte depressive Episode übergegangen.

Depressionserkrankungen führen im Übrigen nicht unbesehen zur Berentung. Sie sind vielmehr behandelbar und auch zu behandeln, bevor Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI angenommen werden kann (vgl. auch Senatsurteil vom 11.05.2011, - L 5 R 1823/10 -, nicht veröffentlicht). Wie aus den Leitlinien der Beklagten für die sozialmedizinische Begutachtung (Stand August 2012, Leitlinien) hervorgeht, bedingt eine einzelne mittelgradige oder schwere depressive Episode in den meisten Fällen vorübergehende Arbeitsunfähigkeit und erfordert eine Krankenbehandlung, stellt jedoch in Anbetracht der üblicherweise vollständigen Remission keine erhebliche Gefährdung der Erwerbsfähigkeit dar. Eine ungünstige Prognose bezüglich der Erwerbsfähigkeit kommt danach (erst) in Betracht, wenn mehrere der folgenden Faktoren zusammentreffen: Eine mittelschwer bis schwer ausgeprägte depressive Symptomatik, ein qualifizierter Verlauf mit unvollständigen Remissionen, erfolglos ambulante und stationäre, leitliniengerecht durchgeführte Behandlungsversuche, einschließlich medikamentöser Phasenprophylaxe (z.B. Lithium, Carbamazepin, Valproat), eine ungünstige Krankheitsbewältigung, mangelnde soziale Unterstützung, psychische Komorbidität, lange Arbeitsunfähigkeitszeiten und erfolglose Rehabilitationsbehandlung (Leitlinien S. 101 f.). Eine Krankengeschichte dieser Art ist bei der Klägerin nicht dokumentiert.

Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit (§ 240 SGB VI) kommt für die auf den allgemeinen Arbeitsmarkt breit verweisbare Klägerin nicht in Betracht.

Bei dieser Sachlage drängen sich dem Senat angesichts der vorliegenden Gutachten und Arztberichte weitere Ermittlungen, insbesondere weitere Begutachtungen, nicht auf.

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen, weshalb die Berufung der Klägerin erfolglos bleiben muss. Hierauf und auf § 193 SGG beruht die Kostenentscheidung.

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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