L 2 AS 388/16 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
2
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 56 AS 5012/15 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 2 AS 388/16 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 AS 132/16 S
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Antragstellerin zu 1) gegen den Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 19.01.2016 wird zurückgewiesen. Die Beschwerde des Antragstellers zu 2) gegen den Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 19.01.2016 wird als unzulässig verworfen. Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

Der Senat geht davon aus, dass die Beschwerde sowohl von der Antragstellerin zu 1) als auch vom Antragsteller zu 2) eingelegt worden ist. Zwar ist der Beschwerdeschrift nur noch der Name der Antragstellerin zu 1) vorangestellt, während die Antragsschrift vom 30.11.2015 noch mit "Bedarfsgemeinschaft S u. H M" überschrieben ist. Gleichwohl wird aus der Beschwerdeschrift aber durch die wiederholte Verwendung des Plurals "wir" deutlich, dass der Rechtsbehelf beiden Antragstellern zuzurechnen ist.

Die Beschwerde des Antragstellers zu 2) ist unzulässig, weil es an einem Rechtsschutzbedürfnis fehlt. Die angefochtenen Bescheide richten sich allein an die Antragstellerin zu 1). Nur sie ist vom Antragsgegner zur Rentenantragstellung aufgefordert worden. Der 1946 geborene Antragsteller zu 2) bezieht hingegen bereits seit 2011 eine Vollrente wegen Alters. Eine rechtliche Betroffenheit ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass die Antragsteller eine Bedarfsgemeinschaft bilden, denn bei den Leistungsansprüchen nach dem Sozialgesetzbuch 2. Buch (SGB II) handelt es sich um Individualansprüche der Personen und nicht um einen Gesamtanspruch der Bedarfsgemeinschaft.

Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin zu 1) ist unbegründet.

Das Sozialgericht hat es mit dem angefochtenen Beschluss zu Recht abgelehnt, die aufschiebende Wirkung der Klage mit dem Az. S 56 AS 5019/15 bei dem Sozialgericht Dortmund gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 28.08.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.11.2015 anzuordnen. Entgegen der mit der Beschwerdeschrift wiederholten Auffassung der Antragsteller richtet sich der einstweilige Rechtsschutz im vorliegenden Verfahren nicht nach § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), sondern nach Abs. 1 dieser Vorschrift. Gegenüber dem Anwendungsbereich des § 86b Abs. 1 ist die Regelung in Abs. 2 nachrangig, denn deren Anwendungsbereich ist nach dem Gesetzeswortlaut nur dann eröffnet, soweit ein Fall des Abs. 1 nicht vorliegt (siehe § 86b Abs. 2 S. 1 SGG).

Gemäß § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Weitere Kriterien für die Anwendung dieser gerichtlichen Anordnungsbefugnis sind gesetzlich nicht geregelt. Sie sind durch Auslegung zu gewinnen. Diese ergibt, dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs oder einer Anfechtungsklage Ergebnis einer Interessenabwägung ist. Die aufschiebende Wirkung eines solchen Rechtsbehelfs ist anzuordnen, wenn im Rahmen der Interessenabwägung dem privaten Aufschubinteresse gegenüber dem öffentlichen Interesse einer sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes Vorrang gebührt. Bei dieser Interessenabwägung ist insbesondere die - nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage zu bewertende - Erfolgsaussicht des Rechtsbehelfs in der Hauptsache zu berücksichtigen. Ferner ist zu beachten, dass der Gesetzgeber in Fällen des § 86 a Abs. 2 Nrn. 1 - 4 SGG das Entfallen der aufschiebenden Wirkung angeordnet und damit grundsätzlich ein überwiegendes Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes geregelt hat (vgl. Landessozialgericht [LSG] Nordrhein-Westfalen [NRW], Beschluss vom 01.06.2015, Az.: L 2 AS 730/15 B, bei juris Rn. 5). Davon abzuweichen besteht nur Anlass, wenn im konkreten Fall ein überwiegendes privates Aufschubinteresse feststellbar ist. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung muss eine mit gewichtigen Argumenten zu begründende Ausnahme sein (LSG NRW, Beschluss vom 09.12.2013, Az.: L 2 AS 1956/13 B ER, bei juris Rn. 3). Eine solche Ausnahme liegt dann vor, wenn der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist. Ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Vollziehung offensichtlich rechtswidriger Verwaltungsakte ist nicht erkennbar. Ist der Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig, ist die aufschiebende Wirkung regelmäßig nicht anzuordnen. Sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs nicht abschätzbar, ist eine allgemeine Interessenabwägung durchzuführen. Dabei sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers in die Abwägung einzustellen (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 12.05.2005, Az. 1 BvR 569/05, bei juris Rn. 26; siehe auch LSG NRW, Beschluss vom 01.06.2015, Az.: L 2 AS 730/15 B, bei juris Rn. 5).

Die Klage der Antragstellerin vom 30.11.2015 vor dem Sozialgericht Dortmund zum Az. S 56 AS 5019/15 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 28.08.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.11.2015 hat gemäß § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG in Verbindung mit § 39 Nr. 3 SGB II keine aufschiebende Wirkung.

Der auf Anordnung derselben gerichtete Antrag hat keinen Erfolg, weil sich die Aufforderung zur Rentenantragstellung jedenfalls nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung nicht als rechtswidrig erweist. Die angefochtenen Bescheide des Antragsgegners finden ihre Rechtsgrundlage in § 12a und § 5 Abs. 3 SGB II, deren Regelungen nach höchstrichterlicher Rechtsprechung (siehe dazu Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 19.08.2015 zum Aktenzeichen B 14 AS 1/15 R - Rn. 15 der Wiedergabe bei juris) keinen Anlass für verfassungsrechtliche Bedenken bieten. Die am 02.06.1952 geborene Antragstellerin hat auch das 63. Lebensjahr vollendet und ist nach der Wertung des parlamentarisch legitimierten Gesetzgebers damit grundsätzlich verpflichtet, vorrangige Leistungen, zu denen Rentenansprüche aus der gesetzlichen Rentenversicherung zählen, zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit in Anspruch zu nehmen. Diese grundsätzliche Verpflichtung entfällt allerdings dann, wenn sich die vorzeitige Inanspruchnahme einer Rente wegen Alters im Einzelfall als unbillig erweist. Wann von einer solchen Unbilligkeit auszugehen ist, wird in der im Jahre 2008 in Kraft getretenen Verordnung zur Vermeidung unbilliger Härten durch Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente abschließend (siehe dazu BSG, am angegebenen Ort, zur Rn. 23 der Wiedergabe bei juris) geregelt (zur Verordnungsermächtigung siehe § 13 Abs. 2 SGB II). Sämtliche dort genannten Tatbestände werden von der Antragstellerin jedoch nicht erfüllt.

Die Bescheide leiden auch nicht an einem sonstigen Mangel. Insbesondere hat der Antragsgegner zutreffend erkannt, dass die Aufforderung zur Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente eine Ermessensentscheidung voraussetzt. Ermessen wurde in nicht zu beanstandender Weise ausgeübt. Es finden sich zwar keine umfangreichen Ermessenserwägungen, sondern nur die Ausführungen, man habe vom "eingeräumten Ermessen pflichtgemäß Gebrauch gemacht" und die Entscheidung sei "unter Würdigung Ihrer persönlichen Umstände" ergangen. Dies ist aber nicht zu beanstanden, denn es entspricht pflichtgemäßem Ermessen des Leistungsträgers, im Regelfall von der Ermächtigung zur Aufforderung zur Antragstellung Gebrauch zu machen und nur bei ganz besonderen Härten im Einzelfall, die aufgrund außergewöhnlicher Umstände eine vorzeitige Altersrente als unzumutbar erscheinen lassen, im Ermessenswege von der Aufforderung Abstand zu nehmen. Soweit sich Umstände für eine besondere Härte im Einzelfall nicht aufdrängen, ist es zudem am Leistungsberechtigten, atypische Umstände seines Einzelfalles vorzubringen, damit diese vom Sozialleistungsträger bei seiner Entscheidung berücksichtigt werden können. Derartige besondere Umstände sind hier aber von der Antragstellerin nicht vorgebracht worden und auch nicht ersichtlich. Insbesondere kann eine Unzumutbarkeit nicht darauf gestützt werden, die vorzeitige Altersrente reiche nicht zum notwendigen Lebensunterhalt aus und erfordere daneben die Gewährung von Leistungen zur Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII. Nach den gesetzlichen Vorgaben reicht es nämlich bereits aus, wenn durch die Rentengewährung eine Verminderung der Hilfebedürftigkeit (mit Rentenbeginn dann im Rahmen des SGB XII) eintritt (siehe dazu auch BSG, am angegebenen Ort, zur Rn. 33 und 41 der Wiedergabe bei juris).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 SGG.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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