L 12 EG 8/11

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
Abteilung
12
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 9 EG 41/10
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 12 EG 8/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Gewährung von Elterngeld
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 17.01.2011 wird zurückgewiesen.

II. Der Beklagte erstattet dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Höhe des dem Kläger für L., geboren 2009, gewährten Elterngeldes, konkret die Frage, ob die Gutschrift auf einem Langzeitkonto rechtsmissbräuchlich ist, weil sie das steuerrechtliche Einkommen im Bezugszeitraum mindert.

Der Kläger beantragte für den Zeitraum vom 6. bis zum 14. Lebensmonat seines Sohnes die Gewährung von Elterngeld. Mit dem Antrag teilte er mit, dass er in den Zeiträumen vom 30.08.2009 bis 29.09.2009 und vom 30.04.2010 bis zum 29.05.2010 keine Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit erzielen werde. Im Zeitraum vom 30.09.2009 bis 29.04.2010 würde er wöchentlich 30 Stunden arbeiten und aus dieser Tätigkeit ein steuerpflichtiges Einkommen in Höhe von 401 EUR brutto beziehen. Zugleich legte er Abrechnungsbescheinigungen seines Arbeitgebers für den Zeitraum von März 2008 bis März 2009 vor, aus denen sich ergibt, dass er nach Abzug von Steuern und Sozialversicherung ein Nettoeinkommen zwischen 2.545,98 EUR und 3.011,48 EUR hatte. Außerdem liegt eine Verdienstbescheinigung des Arbeitgebers vom 20.10.2009 vor, in der er ihm für den Kalendermonat 9/2009 ein steuerpflichtiges Bruttoeinkommen von 147,55 EUR und für den Monat 10/2009 von 402,71 EUR bescheinigte. Für die Monate von November 2009 bis Mai 2010 bescheinigte der Arbeitgeber jeweils ein steuerpflichtiges Bruttoeinkommen von 3.537,71 EUR.

Mit vorläufigem Bescheid vom 04.11.2009 bewilligte der Beklagte für den sechsten Lebensmonat Elterngeld in Höhe von 1.800 EUR, für die Lebensmonate 7 bis 14 Elterngeld in Höhe von 622,45 EUR. Bei der Berechnung rechnete er in den Lebensmonaten 7 bis 14 ein Einkommen aus nichtselbstständiger Arbeit von 3.537,71 EUR brutto, entsprechend 1.994,04 EUR netto, an.

Mit Schreiben vom 31.12.2009 übersandte der Kläger Gehaltsabrechnungen für die Monate 11 und 12/2009, aus denen sich ergibt, dass er wegen einer "Umwandlung laufendes Entgelt" in Höhe von monatlich 1.335 EUR lediglich Nettobezüge von 374,26 EUR monatlich erzielte. Aus der Entgeltbescheinigung vom 10.06.2010 ergibt sich, dass der Kläger in den Monaten 10/2009 bis 4/2010 ein steuerpflichtiges Einkommen von 402,71 EUR beziehungsweise 274,49 EUR hatte. Dem beiliegenden Schreiben vom 11.06.2010 ist zu entnehmen, dass in den Monaten Oktober 2009 bis April 2010 jeweils eine Entgeltumwandlung in Höhe von 3.135 EUR beziehungsweise 3.209 EUR erfolgte.

Mit Bescheid vom 06.08.2010 setzte der Beklagte das für die Lebensmonate 7 bis 13 zustehende Elterngeld auf 300 EUR monatlich fest, für den 14. Lebensmonat auf 1.800 EUR und forderte den überzahlten Betrag von 1.079,60 EUR zurück. Dabei berücksichtigte er im Bezugszeitraum jeweils ein monatliches Einkommen des Klägers von 3.432,59 EUR beziehungsweise 3.504,50 EUR. Der Sinn des Elterngeldes sei es insbesondere, dass Familien sich in der Zeit des Leistungsbezugs ohne finanzielle Nöte vorrangig der Betreuung des Kindes widmen könnten. Dieser Zweck des Elterngeldes werde durch vertragliche Gestaltungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, nach denen etwa die Arbeitnehmer ihren Anspruch auf Entgelt erkennbar nur deshalb stunden, um Anspruch auf Elterngeld geltend zu machen, umgangen. Durch solche Gestaltungen entfalle Einkommen nach der Geburt nicht aufgrund der Betreuung des Kindes, sondern aufgrund vertraglicher Vereinbarung. Die Entgeltumwandlung werde daher als Einkommen im Sinne des Elterngeldgesetzes berücksichtigt.

Gegen diese Entscheidung legte der Kläger Widerspruch ein. Mit Widerspruchsbescheid vom 08.10.2010 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Steuerfreies Einkommen wäre nach § 2 Abs. 7 S. 3 BEEG nicht zu berücksichtigen. Die Vereinbarung einer Entgeltumwandlung in ein Langzeitkonto sei jedoch rechtsmissbräuchlich. Der Zweck des BEEG würde durch vertragliche Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, nach denen etwa die Arbeitnehmer ihren Anspruch auf Bezüge erkennbar nur deshalb stundeten, um ungeschmälert ihren Anspruch auf Elterngeld geltend zu machen, umgangen. Vergleichbares gelte bei dem gezielten Aufbau von Stundenkonten. Durch den Aufbau eines Langzeitkontos werde Einkommen in einen anderen Zeitraum verschoben mit dem Ziel, das Elterngeld trotz Erwerbstätigkeit anrechnungsfrei zu beziehen.

Hiergegen erhob der Kläger Klage beim Sozialgericht Nürnberg (SG). Der Kläger habe allein tarifvertragliche Ansprüche geltend gemacht. Dies könne ihm nicht zum Nachteil gereichen. Mit Urteil vom 17.01.2011 gab das SG der Klage statt und verpflichtete den Beklagten, bei der Berechnung des Elterngeldes für den 7. bis 13. Lebensmonat die Verdienstbescheinigung vom 10.06.2010 zugrunde zulegen. Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten liege nicht vor, wenn der Kläger von einer tarifvertraglich eingeräumten Gestaltungsmöglichkeit der Entgeltumwandlung Gebrauch mache, die sich auch sozialversicherungsrechtlich und steuerrechtlich auswirke. In einer solchen Fallgestaltung sei der Beklagte verpflichtet, das tatsächliche steuerpflichtige Einkommen aus Erwerbstätigkeit der endgültigen Berechnung zu Grunde zu legen.

Gegen diese Entscheidung legte der Beklagte Berufung ein. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts könne eine Sozialleistung unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs nicht geltend gemacht werden, wenn dies sozial unangemessen geschehe und der rechtsethischen Funktion des Rechts widerspräche. Bei der Einschätzung, ob eine rechtsmissbräuchliche Geltendmachung vorliege, sei der Schutzzweck der jeweiligen Norm zu berücksichtigen. Grundsätzlich sei zwar davon auszugehen, dass der Berechtigte den ihm zustehenden Anspruch im gesetzlich vorgegebenen Rahmen mit legalen Mitteln ausschöpfen könne, in Einzelfällen könne jedoch ein Rechtsmissbrauch angenommen werden. Für ein rechtsmissbräuchliches Vorgehen des Klägers sprächen folgende Gründe: Die Rechtsgestaltung wirke sich günstig auf die Bezugshöhe des Elterngeldes aus, die Rechtsgestaltung wirke nur im Bezugszeitraum, und die Rechtsgestaltung sei sozial unangemessen. Ein zu billigendes Eigeninteresse des Klägers fehle. Der Kläger habe keinerlei nachvollziehbare Gründe für die befristete Entgeltumwandlung vorgetragen. Er berufe sich lediglich darauf, seine tarifvertraglichen Ansprüche geltend gemacht zu haben.

Der Beklagte stellt den Antrag aus dem Schriftsatz vom 04.02.2011 und bittet hilfsweise um Zulassung der Revision.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die beigezogenen Beklagtenakten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Der Beklagte hat zu Unrecht abweichend von den gesetzlichen Vorschriften unter Annahme eines Rechtsmissbrauchs das Elterngeld unter Berücksichtigung eines nicht steuer- und sozialversicherungspflichtigen Einkommens berechnet. Dies hat das SG zutreffend festgestellt.

Unstreitig ist, dass der Kläger in den Monaten September 2009 bis April 2010 ein steuerpflichtiges Einkommen von maximal 402,71 EUR hatte, nachgewiesen durch die Verdienstbescheinigung des Arbeitgebers vom 10.06.2010. Dieses war nach § 2 Abs. 7 Satz 1 und 4 BEEG in der Fassung bis 31.12.2010 bei der Berechnung zu Grunde zu legen, wie das SG entschied.

Ein Leistungsausschluss contra legem unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs ist rechtswidrig. Er ist insbesondere mit § 31 SGB I, dem Vorbehalts des Gesetzes im Bereich des Sozialleistungsrechts, nicht vereinbar. Deshalb hat das Bundessozialgericht auch die Anwendung der Rechtsfigur des missglückten Arbeitsversuchs seit Inkrafttreten des SGB V abgelehnt: "Er ist im SGB 5 nicht vorgesehen und daher mit dem in § 31 SGB I geregelten Vorbehalt des Gesetzes unvereinbar." (Urteil vom 4. Dezember 1997,12 RK 3/97 Rn. 30). Diese Entscheidung ist auch auf Fälle eines vermeintlichen Missbrauchs zu übertragen, zumal die vom Beklagten zitierte Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Rechtsmissbrauch zeitlich vor der zitierten Entscheidung vom 04.12.1997 ergangen ist und den Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes nicht hinreichend berücksichtigt. In der Entscheidung zum Lohnsteuerklassenwechsel (Urteil vom 25.06.2009, B 10 EG 3/08 R, Rn. 28) hat der 10. Senat des BSG ebenfalls darauf hingewiesen, dass bei gesetzlich begründeten Ansprüchen auf Sozialleistungen (siehe § 31 SGB I) es nicht den rechtsethischen Anschauungen des Rechtsanwenders überlassen ist, festzulegen, wann ein Missbrauch vorliegt. Dabei könne sich der Schutzbereich der Norm sowie ihr Sinn und Zweck auch aus dem Fehlen einer bestimmten Regelung erschließen, sofern der Gesetzgeber diese bewusst unterlassen habe. Ein Missbrauchseinwand komme daher in erster Linie dann in Betracht, wenn der Gesetzgeber rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten übersehen habe, die sich erst bei der späteren Anwendung des Gesetzes zeigten, und er diese nach seiner sonstigen Zielsetzung mit Sicherheit unterbunden hätte. Hingegen könnten Gestaltungsmöglichkeiten, die der Gesetzgeber den Bürgern "sehenden Auges" überlassen habe, nicht im Nachhinein von den Rechtsanwender aus Gründen einer angenommenen "rechtsethischen Funktion des Rechts" begrenzt werden.

Neben dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes spricht der Gesichtspunkt der Rechtsunsicherheit, die dadurch entsteht, dass ein an sich rechtmäßiges Verhalten eines Sozialleistungsempfängers aufgrund einer "ethischen Bewertung" zum Leistungsausschluss führen kann, gegen einen Leistungsausschluss wegen eines vermeintlichen Rechtsmissbrauch. Auch auf diesen Gesichtspunkt hat das Bundessozialgericht bereits in seiner Entscheidung zum missglückten Arbeitsversuch deutlich hingewiesen.

Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, nach der der Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs einem gesetzlich bestimmten Sozialleistungsanspruch entgegensteht, kann nicht aufrechterhalten werden. Damit ist die Berufung unbegründet.

Folgt man entgegen der Auffassung des Senats der den Vorbehalt des Gesetzes in Ausnahmefällen einschränkenden Entscheidung des 10. Senats des BSG vom 25.06.2009, kann man kaum davon ausgehen, dass der Gesetzgeber tarifvertragliche Gestaltungsmöglichkeiten mit entsprechenden steuerrechtlichen Auswirkungen "mit Sicherheit unterbunden hätte". Auch dieses Urteil trägt die Entscheidung des Beklagten nicht.

Selbst wenn man mit den von der Bundesregierung erlassenen Richtlinien zum BEEG davon ausgeht, dass eine rechtsmissbräuchliche Gestaltung den Anspruch auf Elterngeld reduzieren oder ausschließen kann, ändert dies im Ergebnis nichts an der zutreffenden Entscheidung des Sozialgerichts Nürnberg. Insbesondere ist die Argumentation des Beklagten nicht nachvollziehbar, dass es für das Verhalten des Klägers keine nachvollziehbaren Gründe gibt. Ein "zu billigendes Eigeninteresse" des Klägers ist sehr wohl darin zu sehen, das Lebensarbeitszeit-Konto, das zudem durch Tarifvertrag insolvenzgesichert ist, aufzufüllen. Diesen Gesichtspunkt hat der Beklagte in seiner Argumentation völlig ausgeblendet.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision wird nicht zugelassen, da die Frage des Leistungsausschlusses wegen Rechtsmissbrauchs im entscheidungsrelevanten Umfang höchstrichterlich geklärt ist.
Rechtskraft
Aus
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