L 10 R 1959/15

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 12 R 2538/13
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 R 1959/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 14.04.2015 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die teilweise Rücknahme einer unrichtigen Neuberechnung von Witwenrente wegen Einkommensanrechnung im Mai 2006 und die Erstattung überzahlter Rente streitig.

Die am 1939 geborene Klägerin ist die Ehefrau des am 23.03.1927 geborenen und am 1996 verstorbenen K. A. (im Folgenden: Versicherter). Sie bezieht seit August 1996 eine große Witwenrente sowie seit Erreichen der Altersgrenze eine Altersrente für Frauen (monatlicher Zahlbetrag ab 01.08.2004: 713,09 EUR, ab 01.07.2006: 709,95 EUR, ab 01.07.2007: 711,38 EUR, ab 01.07.2008: 717,23 EUR, ab 01.07.2009: 736,57 EUR und ab 01.07.2011: 825,15 EUR, vgl. Bl. 24 ff. Verwaltungsakte - VA -), die als Einkommen auf die Witwenrente angerechnet wurde, woraus sich für die Zeit ab August 2004 zunächst ein Zahlbetrag der Witwenrente von monatlich 729,04 EUR ergab (monatlicher Rentenanspruch 814,43 EUR, Anrechnungsbetrag 11,97 EUR damit Bruttobetrag der Rente 802,46 EUR, abzgl. Beiträge somit Netto-Zahlbetrag 729,04 EUR).

Von 01.08.2004 bis 30.06.2012 übte die Klägerin eine abhängige Beschäftigung für die Firma P. (im Folgenden: Arbeitgeber) aus und erzielte hieraus ab August 2004 Arbeitsentgelt. Hinsichtlich der Höhe des erzielten Arbeitsentgelts im Jahr 2004 wird auf die Bescheinigung des Arbeitgebers vom Dezember 2004 Bezug genommen (Bl. 3 VA). In der Folgezeit ergab sich hinsichtlich der Höhe des monatlichen Arbeitsentgelts keine wesentliche Änderung (vgl. insoweit die Arbeitgeberbescheinigung vom April 2012, Bl. 23 VA). Diese Beschäftigungsaufnahme und das daraus erzielte Einkommen zeigte die Klägerin der Beklagten nicht an. Die Einzugsstelle teilte der Beklagten im Dezember 2004 die Beschäftigungsaufnahme mit, die daraufhin die Klägerin aufforderte, das Arbeitsentgelt mitzuteilen. Der Arbeitgeber der Klägerin übersandte in der Folgezeit die Bescheinigung vom Dezember 2004.

Mit Bescheid vom 10.02.2005 berechnete die Beklagte daraufhin wegen Erzielung des Arbeitsentgelts die Witwenrente der Klägerin "ab 01.07.2002" neu und bezifferte die ab 01.04.2005 zu zahlende Rente - unverändert - mit 729,04 EUR, wobei sie bei ihrer Berechnung als Einkommen neben der Altersrente nun auch das Arbeitsentgelt aus abhängiger Beschäftigung berücksichtigte. Diese Berechnung (Anlage 8 zum Rentenbescheid) ergab, dass sich aus dem ab August 2004 hinzugetretenen Arbeitsentgelt keine Änderung - insbesondere keine Minderung - des Witwenrentenzahlbetrags ergab, es vielmehr bei einem anzurechnenden Einkommen von 11,97 EUR monatlich verblieb und sich daher auch keine Überzahlung der Witwenrente ergab, die von der Klägerin zurückzufordern gewesen wäre. Hinsichtlich der Rentenberechnung wird auf den Bescheid vom 10.02.2005 Bezug genommen (Bl. 25 ff. SG-Akte).

Mit Bescheid vom 18.05.2006 berechnete die Beklagte die Witwenrente der Klägerin wegen der jährlichen Überprüfung des zu berücksichtigenden Einkommens ab 01.07.2006 neu und bezifferte den laufenden Zahlbetrag mit 729,37 EUR. Hierbei berücksichtigte die Beklagte als anzurechnendes Einkommen lediglich die Altersrente der Klägerin (Anlage 8 zum Rentenbescheid), woraus sich ein anzurechnendes Einkommen von 8,05 EUR monatlich ergab. Hinsichtlich der Rentenberechnung wird auf den Bescheid vom 18.05.2006 Bezug genommen (Bl. 22 ff. SG-Akte). Auch in der Folgezeit unterblieb die Anrechnung des Arbeitsentgelts. Die Klägerin erhielt unter Berücksichtigung lediglich der Altersrente als anzurechnendes Einkommen eine monatliche Witwenrente ab 01.04.2007 in Höhe von 726,95 EUR, ab 01.07.2007 in Höhe von 738,14 EUR, ab 01.07.2008 in Höhe von - jeweils Nettozahlbetrag - 744,22 EUR, ab 01.01.2009 in Höhe von 743,81 EUR, ab 01.07.2009 in Höhe von 764,28 EUR, ab 01.01.2011 in Höhe von 761,73 EUR und ab 01.07.2011 in Höhe von 769,30 EUR (vgl. Bl. 61 ff. VA).

Im März 2012, nachdem eine erneute maschinelle Meldung einer Beschäftigung erfolgt war, forderte die Beklagten die Klägerin abermals zur Mitteilung des Arbeitsentgelts auf, woraufhin der Arbeitgeber der Klägerin eine Bescheinigung vom April 2012 übersandte und das Arbeitsentgelt für die Jahre 2005 bis 2011 mitteilte (vgl. Bl. 22 f. VA).

Nach Anhörung der Klägerin berechnete die Beklagte die Witwenrente mit Bescheid vom 28.06.2012 - unter Berücksichtigung der Altersrente und des Arbeitsentgelts als anzurechnendes Einkommen (anzurechnendes Einkommen demnach ab 01.07.2006: 134,72 EUR, ab 01.07.2007: 163,70 EUR, ab 01.07.2008: 157,81 EUR, ab 01.07.2009: 157,39 EUR, ab 01.07.2010: 158,22 EUR, ab 01.07.2011: 156,90 EUR, ab 01.07.2012: 153,50 EUR) - ab 01.07.2006 neu. Den Rentenbescheid vom 18.05.2006 nahm sie hinsichtlich der Rentenhöhe mit Wirkung ab 01.07.2006 nach § 45 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) zurück, bezifferte die ab 01.08.2012 zu zahlende monatliche Witwenrente auf 689,56 EUR und verlangte die Erstattung der entstandenen Überzahlung, die sie für die Zeit vom 01.07.2006 bis 31.07.2012 mit 7.060,95 EUR errechnete. Auf Vertrauen in den Bestand des Rentenbescheids könne sich die Klägerin nicht berufen, weil für jeden Rentenempfänger die Verpflichtung bestehe, an ihn gerichtete Rentenbescheide auch zu lesen. Soweit ohne nähere Begründung bislang berücksichtigte und weiterhin bezogene Einkommensarten in der Einkommensanrechnung nicht mehr herangezogen würden, sei das für den Betroffenen ohne weitere Schwierigkeiten allein aus der Anlage 8 erkennbar. Richtig sei jedoch, dass nach erstmaliger Berücksichtigung des Entgelts aus geringfügiger Beschäftigung mit Berechnung vom 10.02.2005 die nachfolgenden maschinellen Meldungen über die jährlichen Entgelte nicht eingeflossen seien und eine Einkommensüberprüfung von Amts wegen nicht erfolgt sei. Wegen des Mitverschuldens des Rentenversicherung werde im Rahmen des Ermessens daher nur ein Betrag entsprechend 70 Prozent der Gesamtforderung zurückgefordert, der von der Klägerin zu erstatten sei. Hinsichtlich der Rentenberechnung und Berechnung der Überzahlung wird Bezug genommen auf den Bescheid vom 28.06.2012 (Bl. 82 ff. VA). Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein.

Auf die Mitteilung der Klägerin vom August 2012 über die Aufgabe ihrer abhängigen Beschäftigung zum 30.06.2012 berechnete die Beklagte die große Witwenrente der Klägerin erneut ab 01.07.2006 neu und wies unter anderem eine Überzahlung für die Zeit vom 01.07.2006 bis 30.06.2012 in Höhe von 6.964,41 EUR aus, die sie mit einer Nachzahlung für die Zeit vom 01.07.2012 bis 31.01.2013 in Höhe von 597,12 EUR verrechnete (Bescheid vom 17.12.2012). Hinsichtlich der Rentenberechnung und Berechnung der Überzahlung wird auf den Bescheid vom 17.12.2012 Bezug genommen (Bl. 130 ff. VA).

Mit Widerspruchsbescheid vom 03.07.2013 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 28.06.2012 zurück, soweit ihm nicht durch Bescheid vom 17.12.2012 abgeholfen wurde.

Hiergegen hat die Klägerin am 05.08.2013 Klage zum Sozialgericht Ulm erhoben und geltend gemacht, dass ihr keine Sorgfaltspflichtverletzung in besonders schwerem Maße vorzuwerfen sei. Ihr obliege keine Verpflichtung, den Rentenbescheid auf alle für die Rentenberechnung zu berücksichtigenden Faktoren zu überprüfen. Für einen Laien sei es nicht ohne weiteres möglich, einen Rentenbescheid mit seinen Berechnungen zu verstehen und nachzuvollziehen. Dass sie den Rentenbescheid nicht auf die Vollständigkeit und Richtigkeit überprüft habe, könne keine grobe Fahrlässigkeit begründen. Sie habe die Rentenbescheide gelesen und auf deren Richtigkeit vertraut. Die Höhe der Witwenrente mit und ohne Berücksichtigung des Arbeitsentgelts habe sich kaum verändert.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat geltend gemacht, dass der Bescheid vom 10.02.2005 einen unmissverständlichen Hinweis enthalte, dass Erwerbseinkommen Einfluss auf die Rentenhöhe habe. Die Klägerin habe daher ohne Mühe erkennen können, dass neben der Versichertenrente auch das Arbeitsentgelt anzurechnen gewesen sei. Darüber hinaus sei die Einkommensanrechnung in Anlage 8 dargestellt. Im Bescheid vom 10.02.2005 würden die anzurechnenden Einkommensarten - Versichertenrente und Arbeitsentgelt - unmissverständlich genannt und die anzurechnenden Beträge dargelegt. Im Bescheid vom 18.05.2006 würde aber in der dortigen Anlage 8 lediglich die Versichertenrente genannt und entsprechende Beträge ausgewiesen. Die Klägerin habe daher ohne Mühe erkennen können, dass die Anrechnung von Arbeitsentgelt fehlerhaft unterblieben und die Witwenrente unzutreffend berechnet worden sei.

Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 14.04.2015 die Bescheide vom 18.06.2012 und 17.12.2012 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 03.07.2013 aufgehoben, soweit für die Zeit vom 01.07.2006 bis 30.06.2012 die Rentenbewilligung der Höhe nach teilweise zurückgenommen und die demnach zu Unrecht gezahlte Rente zurückgefordert wurde. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, dass der Bescheid vom 18.05.2006 zwar von Anfang an rechtswidrig gewesen sei, weil bei der Berechnung des Rentenanspruchs für die Zeit ab 01.07.2006 das von der Klägerin erzielte Einkommen aus einer geringfügigen Beschäftigung nicht berücksichtigt und demnach ein zu hoher Rentenanspruch errechnet worden sei. Die Klägerin könne sich jedoch auf Vertrauensschutz berufen. Sie habe die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes nicht infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt. Die Klägerin habe glaubhaft vorgetragen, dass sie auf die Berechnung im Bescheid vom 18.05.2006 vertraut habe. Sie habe die Beklagte über die Aufnahme einer geringfügigen Beschäftigung ab August 2004 informiert, was zur Neuberechnung der Rente mit Bescheid vom 10.02.2005 geführt habe. Auf Grund der Neuberechnung mit Bescheid vom 18.05.2006 habe sich ein mit der bisher gewährten Rente fast identischer Betrag ergeben. Die Klägerin habe daher keinen Anlass gehabt, die Rechtmäßigkeit der Berechnung der Beklagten im Bescheid vom 18.05.2006 anzuzweifeln. Zwar habe die Klägerin bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt den Bescheid vom 18.5.2006 aufmerksam durchlesen müssen und dabei erkennen können, dass eine Anrechnung von Einkommen aus ihrer geringfügigen Beschäftigung nicht erfolgt sei. Sie habe daher fahrlässig, aber - in Anbetracht der fast identischen Rentenbewilligung mit und ohne Anrechnung von Einkommen aus der geringfügigen Beschäftigung - nicht grob fahrlässig gehandelt.

Gegen das ihr am 27.04.2015 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 08.05.2015 Berufung zum Landessozialgericht eingelegt und geltend gemacht, dass die Klägerin die Beschäftigungsaufnahme zum August 2004 verschwiegen habe und diese erst durch einen maschinellen Abgleich bekannt geworden sei. Mit Bescheid vom 18.05.2006 sei wegen der jährlichen Überprüfung des zu berücksichtigenden Einkommens eine Neuberechnung der Rente ab Juli 2006 erfolgt. Der Bescheid umfasse lediglich drei Blätter. Auf Seite 3 (= Anlage 8) werde die Einkommensanrechnung dargestellt. Aus dieser ergebe sich ganz klar, dass das Einkommen aus der geringfügigen Beschäftigung dort nicht mehr angegeben gewesen und somit nicht mehr berücksichtigt worden sei. Vor dem Hintergrund, dass ihre Rente gerade wegen des Einkommens aus der verschwiegenen Beschäftigungsaufnahme ein Jahr zuvor neu berechnet worden sei (Bescheid vom 10.02.2005), hätte dies der Klägerin auffallen müssen. Sie habe auch keinen Anlass für die Annahme gehabt, dass Arbeitsentgelt "plötzlich" nicht mehr anzurechnen sei. Es gehe nicht darum, dass die Klägerin den Rentenbescheid mit seinen Berechnungen verstehe, sondern nur darum, dass die Klägerin hätte erkennen können, dass das Einkommen aus der geringfügigen Beschäftigung bei der Einkommensanrechnung nicht mehr genannt werde. Sofern die Klägerin den Bescheid vom 18.05.2006 nicht verstanden habe, hätte nahegelegen, dass sie entsprechend nachfrage und um Erklärung bitte, was nicht erfolgt sei.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 14.04.2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz und die vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte und gemäß den §§ 143, 144 SGG statthafte Berufung der Beklagten, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist zulässig; die Berufung der Beklagten ist jedoch nicht begründet.

Gegenstand des Rechtsstreits sind die Bescheide vom 18.06.2012 und 17.12.2012 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 03.07.2013, allerdings nur, soweit die Beklagte die mit Bescheid vom 18.05.2006 erfolgte Rentenbewilligung der Höhe nach mit Wirkung für die Vergangenheit (ab Juli 2006 bis einschließlich Juni 2012) teilweise - in Höhe von 6.964,41 EUR - zurücknahm und diesen Betrag von der Klägerin zurückforderte. Die ursprünglich mit Bescheid vom 18.06.2012 zusätzlich erfolgte Rücknahme der Rentenbewilligung auch für die Zeit ab Juli 2012 hob die Beklagte mit Bescheid vom 17.12.2012 wieder auf, nachdem die Klägerin die Aufgabe der abhängigen Beschäftigung zum 30.06.2012 und dem damit einhergehenden Wegfall des anzurechnenden Arbeitsentgelts mitteilte. Richtige Klageart ist die reine Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 SGG, da mit der Aufhebung der angefochtenen Bescheide die frühere höhere Rentenbewilligung (Bescheid vom 18.05.2006) wieder voll zum Tragen kommt.

Das Sozialgericht hat die Bescheide der Beklagten vom 18.06.2012 und 17.12.2012 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 03.07.2013 zu Recht im angefochtenen Umfang aufgehoben. Denn diese sind insoweit rechtswidrig, die Klägerin wird hierdurch in ihren Rechten verletzt. Die Beklagte nahm zu Unrecht die mit Bescheid vom 18.05.2006 erfolgte Rentenbewilligung der Höhe nach mit Wirkung für die Vergangenheit (ab Juli 2006 bis einschließlich Juni 2012) teilweise - in Höhe von 6.964,41 EUR - zurück und forderte zu Unrecht von der Klägerin die Erstattung des Überzahlungsbetrages.

Zutreffend gehen das Sozialgericht und die Beklagte davon aus, dass als Rechtsgrundlage der angefochtenen Bescheide allein § 45 SGB X in Betracht kommt. Danach (Abs. 1 Satz 1) darf ein - auch unanfechtbar gewordener - begünstigender Verwaltungsakt, soweit er rechtswidrig ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

Auf der Grundlage der Berechnung der monatlichen Rente in den Bescheiden vom 28.06.2012 und 17.12.2012 steht für den Senat fest, dass der ursprüngliche Rentenbescheid vom 18.05.2006, was die Höhe der Rente anbelangt, teilweise (in Höhe der eben genannten Differenz) rechtswidrig war. Dabei bestreitet auch die Klägerin die Richtigkeit der neuen Berechnung unter Berücksichtigung ihres tatsächlichen Einkommens aus Altersrente und aus ihrer bis 30.06.2012 ausgeübten abhängigen Beschäftigung und bei Anwendung der geltenden Vorschriften des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VI) nicht.

Die Klägerin kann sich hinsichtlich der hier allein streitigen teilweisen Rücknahme der Rentenbewilligung für die Vergangenheit jedoch mit Erfolg auf Vertrauen berufen. Nach § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X ist die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts nicht möglich, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (Abs. 2 Satz 2). Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nach § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X nicht berufen, soweit er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat (Nr. 1), der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (Nr. 2), oder (Nr. 3) er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.

Zutreffend gehen die Beteiligten und das Sozialgericht davon aus, dass von den Tatbeständen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X im vorliegenden Zusammenhang lediglich die Nr. 3 in Betracht kommt. Tatsächliche Anhaltspunkte für die Anwendung der Tatbestände Nr. 1 und 2 bestehen nicht. Insbesondere liegt keine entscheidungsrelevante Verletzung der Mitteilungspflichten vor. Denn der Beklagten war bereits im Februar 2005 bekannt, dass die Klägerin seit August 2004 Arbeitsentgelt bezog. Der Pflicht zur Mitteilung war die Klägerin - wenn auch verspätet - im Februar 2005 nachgekommen.

Wie das Sozialgericht zutreffend dargelegt hat, liegen auch die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X nicht vor. Der Senat teilt die Rechtsansicht des Sozialgerichts, dass die Unkenntnis der Klägerin nicht auf grober Fahrlässigkeit beruht.

Grobe Fahrlässigkeit ist nach der Legaldefinition des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X nur gegeben, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt, wer schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss (vgl. hierzu und zum Folgenden BSG, Urteil vom 08.02.2001, B 11 AL 21/00 R, m.w.N.); dabei ist das Maß der Fahrlässigkeit insbesondere nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie der besonderen Umstände des Falles zu beurteilen. Bezugspunkt für das grobfahrlässige Nichtwissen ist schon nach dem Wortlaut des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes - also das Ergebnis der Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung durch die Behörde, hier die Rentenhöhe.

Entscheidend ist vorliegend daher, ob der Klägerin unter den gegebenen Umständen eine Sorgfaltspflichtverletzung in besonders schwerem Maße vorzuwerfen ist, wenn sie die Rechtswidrigkeit der Rentenbewilligungen der Höhe nach nicht erkannte. Zutreffend hat das Sozialgericht bei der Beurteilung der Frage, ob grobe Fahrlässigkeit vorliegt, darauf abgestellt, ob die aus dem Bescheid vom 18.05.2006 erkennbar bewilligte monatliche Rentenhöhe (729,37 EUR) im Vergleich zur mit dem vorangegangenen Bewilligungsbescheid vom 10.02.2005 bewilligten Rentenhöhe (729,04 EUR) auf eine fehlerhafte Berechnung der Rente hinweist, was - wie das Sozialgericht weiter zutreffend dargelegt hat - vorliegend nicht der Fall ist. Der Zahlbetrag der Witwenrente mit (= 729,04 EUR, vgl. Bescheid vom 10.02.2005) und ohne (= 729,37 EUR, vgl. Bescheid vom 18.05.2006) Berücksichtigung des Arbeitsentgelts als Einkommen unterscheidet sich nur unwesentlich - um lediglich 0,33 EUR - was sich - auch aus Sicht der Klägerin - mit dem verringerten Zahlbetrag der angerechneten Altersrente (von monatlich 713,09 EUR ab 01.08.2004 und 709,95 EUR ab 01.07.2006) erklärt.

Zwar können auch Fehler im Bereich der Tatsachenermittlung, wie z.B. die Frage, ob und welches Einkommen bei der Rentenberechnung berücksichtigt wurde, auch wenn sie nicht Bezugspunkt des grobfahrlässigen Nichtwissens sind, Anhaltspunkt für den Begünstigten sein, die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes selbst zu erkennen (vgl. BSG, a.a.O.). Voraussetzung dafür ist aber, dass sich die tatsächlichen Mängel aus dem Bewilligungsbescheid oder anderen Umständen ergeben und für das Einsichtsvermögen des Betroffenen ohne weiteres erkennbar sind. Dies ist vorliegend nicht der Fall.

Zwar ist das Einkommen der Klägerin aus abhängiger Beschäftigung - worauf die Beklagte zu Recht hinweist - nicht in Anlage 8 ("Ermittlung des auf die Rente anzurechnenden Einkommens") des Bescheides vom 18.05.2006 aufgeführt. Auf Grund der Vorgänge in der Vergangenheit im Zusammenhang mit der Neuberechnung der Witwenrente wegen Hinzutretens des Arbeitsentgelte mit Bescheid vom 10.02.2005 musste sich der Klägerin im konkreten Einzelfall jedoch nicht aufdrängen, dass hier Einkommen mit Einfluss auf die Höhe ihrer Witwenrente fälschlicherweise nicht berücksichtigt wurde. Soweit die Beklagte behauptet, die Klägerin habe nicht den geringsten Anlass zu der Annahme gehabt, dass das Einkommen aus geringfügiger Beschäftigung "plötzlich" doch nicht mehr anzurechnen sei, verkennt die Beklagte die konkreten Umstände des Einzelfalls. Denn im Bescheid vom 10.02.2005 wurde das Arbeitsentgelt der Klägerin bei der Berechnung des anzurechnenden Einkommens erstmals nach Aufnahme der Beschäftigung berücksichtigt (vgl. Anlage 8 des Bescheides), ohne dass sich dies im Ergebnis auf den Witwenrentenzahlbetrag auswirkte. Vielmehr verblieb es auch nach erstmaliger Berücksichtigung des Arbeitsentgelts bei dem zuvor - ohne Berücksichtigung des Arbeitsentgelts - errechneten monatlichen Zahlbetrag von 729,04 EUR, was die Beklagte in der Anlage 8 des Bescheides ausdrücklich und mit dem Hinweis darlegte, dass das Einkommen (hier also Witwenrente und Arbeitsentgelt) zu berücksichtigen sei, wenn es 10 % geringer sei als bisher, was nicht der Fall sei. Entsprechend ergab sich aus der mit Bescheid vom 10.02.2005 durchgeführten Neuberechnung eben gerade keine von der Klägerin zu erstattende Überzahlung. Es ist daher auch durchaus nachvollziehbar, wenn die Klägerin gerade wegen dieser Vorgänge davon ausging, dass - zumindest wie hier bei monatlich im Wesentlichen gleichbleibendem Arbeitsentgelt - dieses auch künftig keine Auswirkungen auf die Höhe der Witwenrente haben wird. Einen gegenteiligen Hinweis - insbesondere darauf, dass der Bezug von Arbeitsentgelt erst ab einer bestimmten Höhe und erst ab dem 01.07. des Folgejahres leistungsschädlich ist (vgl. § 18 d Viertes Buch Sozialgesetzbuch) - enthält der Bescheid vom 10.02.2005 nicht. Dementsprechend erscheint auch das Fehlen des Arbeitsentgelts in Anlage 8 des Bescheides vom 18.05.2006 - da aus Sicht der Klägerin mutmaßlich ohne Einfluss auf die Rentenhöhe - aus Laiensicht nicht als offensichtlich unzutreffend, sondern konsequent. Die Klägerin hatte daher weder Grund noch Anlass, an der Richtigkeit der Berechnung zu zweifeln und daher auch nicht, sich bei der Beklagten ob der Richtigkeit der Berechnung zu erkundigen. Entgegen der Ansicht der Beklagten stellte sich der Fall aus Sicht der Klägerin daher nicht so dar, dass "plötzlich" Einkommen aus der geringfügigen Beschäftigung nicht mehr angerechnet wurde. Die unterbliebene Anrechnung für die Zeit ab 01.07.2006 reihte sich vielmehr aus Sicht der Klägerin nahtlos in die bis zu diesem Zeitpunkt ebenfalls ohne Auswirkung gebliebene Anrechnung des Arbeitsentgelts ein.

Soweit die Beklagte darauf abstellt, der Bescheid vom 10.02.2005 enthalte den ausdrücklichen Hinweis, dass Erwerbseinkommen (wie z.B. Arbeitsentgelt) Einfluss auf die Rentenhöhe haben kann (vgl. Seite 3 des Bescheides), verkennt sie, dass es sich hierbei um einen allgemein gehaltenen Hinweis handelt, der lediglich eine abstrakte Möglichkeit ("kann") umschreibt, die aber im vorliegenden Fall - weil das Arbeitseinkommen der Klägerin bei der mit diesem Bescheid durchgeführten Neuberechnung eben gerade keinen Einfluss auf die Rentenhöhe hatte - aus Sicht der Klägerin für die Berechnung ihrer Witwenrente nicht zutraf. Dass es trotz der mit Bescheid vom 10.02.2005 hinsichtlich der Witwenrente folgenlos gebliebenen Anrechnung von Arbeitsentgelt künftig dennoch zu einer rentenmindernden Arbeitsentgeltanrechnung kommen könnte und würde, war für die Klägerin bei Lektüre des Hinweises nicht erkennbar.

Die vorliegende Fallgestaltung ist damit auch nicht mit derjenigen vergleichbar, die der von der Beklagten zitierten Entscheidung des LSG Hessen (Urteil vom 30.01.2015, L 5 R 141/14) zu Grunde lag. Zwar unterblieb auch im dort zu entscheidenden Fall versehentlich die Anrechnung von Arbeitsentgelt. Allerdings war dem Kläger dort - so die Feststellungen des LSG Hessen - klar, dass sein Einkommen aus abhängiger Beschäftigung auf die Witwerrente anzurechnen war, was auf die Klägerin im vorliegenden Fall - wie bereits dargelegt - auf Grund der Umstände des Einzelfalls (keine Auswirkungen der erstmaligen Anrechnung von Arbeitsentgelt auf die Höhe der Witwenrente) - nicht zutrifft, ihr sich vielmehr gerade nicht aufdrängen musste, dass sich ihr Arbeitsentgelt trotz gleichbleibender Höhe in Zukunft auf die Höhe der Witwenrente auswirken kann und wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved