S 1 U 322/10

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 1 U 322/10
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 28.04.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.03.2010 verurteilt, das Ereignis vom 15.12.2008 als Arbeitsunfall anzuerkennen. Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger einen Arbeitsunfall erlitten hat.

Der am 00.00.1987 geborene Kläger ist seit dem 01.10.2007 an der Universität C imatrikuliert und war dort im Wintersemester 2008/2009 als ordentlicher Student eingeschrieben.

Am 17.12.2008 wurde der Beklagten mitgeteilt, der Kläger habe am 15.12.2008 auf dem Weg zur Universität einen Unfall gehabt. Er liege zur Zeit im Koma und könne den genauen Ablauf noch nicht beschreiben.

In einem Entlassungsbericht vom 13.01.2009 teilte das Evangelische Krankenhaus C, in dem sich der Kläger vom 15.12.2008 bis zum 12.01.2009 in stationärer Behandlung befand, mit, bei dem Kläger sei ein Subduralhämatom rechts fronto-parietal bei Zustand nach Sturz unklarer Genese diagnostiziert worden.

Anschließend befand sich der Kläger ab dem 13.01.2009 in der Klinik C1 A. Dort wurden die folgenden Diagnosen gestellt:

Polytrauma 15.12.2008 mit: Schädel-Hirn-Trauma II.-III. Grades, SAB über der linken Hemisphäre, Kontusion links anterior, subdurales Hämatom rechts fronto-parietal, subgaleales Hämatom rechts parietal, Kalottenfraktur rechts frontal, hämorrhagische Kontusionsblutung links temporo-basal und links frontal, zweimal nach Blutung (subdural/epidural).

Ausweislich eines Dienstreiseberichtes der Beklagten vom 24.02.2009 teilten die Eltern des Klägers und der Kläger dem Sachbearbeiter der Beklagten mit, der Kläger könne sich an das Ereignis überhaupt nicht erinnern. Die Erinnerung ende mehrere Stunden davor und setze erst mehrere Tage nachher wieder ein. Der Vater des Klägers habe inzwischen in Erfahrung bringen können, dass sein Sohn sich auf dem Weg zur Uni befunden habe und in der U-Bahnstation Hauptbahnhof in C zu Fall gekommen sei. Wodurch dieser Sturz entstanden sei, habe er jedoch nicht in Erfahrung bringen können.

In einem Wegeunfall-Fragebogen wurde der Beklagten mitgeteilt, der Unfall habe sich am 15.12.2008 gegen 9.30 Uhr ereignet. Der Unfall habe sich beim Umsteigen am Hauptbahnhof C von der Linie 3 zur Linie 4 der Stadtbahn C ereignet auf dem Bahnsteig der Linie 4 Richtung Universität. Zum Unfallzeitpunkt sei der Kläger von zu Hause gekommen, um zur Universität C zu fahren. Er habe seine Wohnung gegen 9.00 Uhr verlassen. Der Beginn der Vorlesung an der Universität sei um etwa 10.00 Uhr gewesen. Wie sich der Unfall ereignet habe, sei wegen einer Erinnerungslücke nicht bekannt.

Nach dem Unfall sei ein Herr T G (richtig: G1) hinzugekommen, der den Rettungswagen alarmiert habe.

Nach einem weiteren Dienstreisebericht vom 03.03.2009 teilte der Zeuge G1 einem Sachbearbeiter der Beklagten telefonisch mit, er habe bei dem fraglichen Ereignis höchstens zwei Meter von dem Kläger entfernt gestanden. Dieser habe auf die U-Bahn wartend auf dem Bahnsteig gestanden und sei plötzlich ohne äußere Einwirkung umgefallen. Im Fall habe der Kläger keinen Kontakt mit einer Säule oder einem anderen Gegenstand gehabt. Vielmehr sei er ohne Abwehrbewegung ausschließlich auf dem Boden aufgeschlagen. Außerdem habe der Kläger sofort krampfartige Bewegungen gemacht, wobei der Zeuge G1 nicht anzugeben vermochte, ob ein Krampfanfall bereits zum Fallen geführt habe oder erst direkt nach dem Sturz eingesetzt sei.

Auf Bitten der Beklagten teilte der Zeuge G1 der Beklagten am 31.03.2009 nochmals schriftlich mit, er habe am 15.12.2008 auf dem Gleis 4 der U-Bahnstation in C am Hauptbahnhof gestanden und auf seine Bahn gewartet. Plötzlich sei ein ihm bis dahin unbekannter Mann (Herr I) in einer Entfernung von fünf Metern umgekippt. Eine vorherige Einwirkung Dritter habe er nicht beobachtet. Er habe gesehen, wie der Kläger ohne jeglichen Schutzreflex mit dem Kopf auf dem Boden aufgeschlagen sei. Er sei zusammen mit einer Frau zu dem Kläger gerannt und habe versucht, ihn anzusprechen. Er habe nichts erwidert und der Kläger schien ihm einen Krampfanfall erlitten zu haben. Daraufhin habe er per Mobiltelefon den Notarzt gerufen.

Mit Bescheid vom 29.04.2009 lehnte die Beklagte die Anerkennung des Ereignisses vom 15.12.2008 als Arbeitsunfall ab. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, es habe sich um einen Unfall aus innerer Ursache ohne äußere Einwirkung ereignet. Auch habe die Beschaffenheit der Unfallstelle nicht wesentlich zur Art oder Schwere der Verletzung beigetragen. Bei dieser Sachlage sei das Vorliegen eines Arbeitsunfalles im Sinne des § 8 Abs. 1 und 2 SGB VII (Wegeunfall) abzulehnen.

Der Kläger legte gegen diesen Bescheid vom 08.05.2009 Widerspruch ein. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, durch die Beobachtungen von Passanten sei nicht erwiesen, ob zuerst ein Krampfanfall aufgetreten sei und anschließend der Sturz erfolgte oder ob aufgrund des Sturzes Verkrampfungen aufgetreten seien. Bei einem Telefonat am 18.12.2008 mit dem Zeugen G1 habe dieser mitgeteilt, er habe auf seine Bahn gewartet, er habe einen "Knall" gehört und in die Richtung gesehen, wo der Kläger "zuckend" auf dem Boden gelegen habe. Die verschiedenen Arztberichte gäben keinen Anhaltspunkt dafür, wie sich der Unfall ereignet habe. Eine innere Ursache für den Sturz sei nicht nachgewiesen. Aus Vorgeschichte und Vorleben ergäben sich keine Hinweis auf eine Anfallerkrankung. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts stehe ein Versicherter, der während der versicherten Tätigkeit ohne erkennbaren äußeren Anlass stürze und sich dabei verletze, unter Versicherungsschutz, wenn eine innere Ursache, die zu dem Sturz geführt habe, nicht nachweisbar sei. Eine nicht auszuschließende Möglichkeit für das Vorhandensein einer inneren Ursache reiche für die Ablehnung des Versicherungsfalls nicht aus, noch weniger eine bloße Vermutung, die nicht einmal medizinisch überprüft sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 09.03.2010 wurde der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, aus Sicht der Beklagten lasse sich hier nicht mit der erforderlichen hinreichenden Wahrscheinlichkeit feststellen, dass die zur Zeit des Unfalls konkret verrichtete Tätigkeit, das bloß abwartende Stehen, ohne Hinzutreten eines weiteren betriebsbezogenen Umstandes wesentlich ursächlich oder mitursächlich für den Sturz und die dabei entstandenen Kopfverletzungen gewesen sei. Auch wenn eine innere Ursache für den Sturz nicht mit Gewissheit nachgewiesen sei und deshalb bei der weiteren Prüfung außer Acht bleiben müsse, sei damit nicht zwangsläufig der positive Beweis erbracht, dass die konkrete versicherte Tätigkeit zum Unfallzeitpunkt zumindest mitursächlich für den Sturz gewesen sei. Das versicherte bloße Stehen als solches habe den Sturz nicht bewirkt. Dies könne wohl ohne weiteres unterstellt werden, ein stehender Mensch falle nicht einfach um. Andere betrieblich bedingte Umstände seien jedoch nicht ersichtlich und könnten somit nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden. Es gebe z. B. keine Hinweise für ein Stolpern über ein Gegenstand auf dem Boden, einen Stoß durch vorbeigehende Passanten oder ein Ausrutschen. Hinzu komme die Aussage des Zeugen G1, wonach der Kläger plötzlich umgekippt sei und ohne Schutzreflexe mit dem Kopf auf dem Boden aufgeschlagen sei. Andere Zeugen gebe es nicht, auch die Mitarbeiterin der Bahn sei zwar aufmerksam geworden durch das mögliche Fallgeräusch, habe den Kläger aber erst gesehen, als er schon am Boden gelegen habe. Als einzige plausible Erklärungsmöglichkeit des Sturzes verbleibe letztendlich ein plötzlicher Bewusstseinsverlust und jedenfalls kein nachweisbar der betrieblichen Tätigkeit zuzurechnendes Geschehen wie ein Stolpern oder Ausrutschen. Da somit nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit angenommen werden könne, dass ein im Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehender betrieblicher weiterer - zum bloßen Stehen am Bahngleis hinzutretender - Umstand den Sturz im Sinne einer rechtlich wesentlichen Ursache herbeigeführt habe, sei die Anerkennung als Arbeitsunfall zu Recht versagt worden. Dieses Ergebnis werde durch die Rechtsprechung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16.04.2008 - L 17 U 131/07 - bestätigt. Auch hier habe das Landessozialgericht in einem ähnlich gelagerten Fall mit ungeklärter Sturzursache die Anerkennung als Arbeitsunfall abgelehnt.

Hiergegen hat der Kläger am 30.03.2010 Klage erhoben. Zur Begründung hat er im Wesentlichen sein Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren wiederholt.

Der Kläger beantragt,

die Beklage unter Aufhebung des Bescheides vom 28.04.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.03.2010 zu verurteilen, das Ereignis vom 15.12.2008 als Arbeitsunfall anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt

die Klage abzuweisen.

Sie ist bei ihrer Auffassung geblieben, die angefochtene Verwaltungsentscheidung entspreche der Sach- und Rechtslage und ist nicht zu beanstanden.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch die Vernehmung des Zeugen T G1. Wegen des Ergebnisses dieser Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 12.05.2011 verwiesen. Darüber hinaus hat das Gericht ein Gutachten von dem Neurologen und Psychiater Dr. Dr. X eingeholt. Auf Inhalt und Ergebnis dieses Gutachtens wird ebenfalls verwiesen.

Wegen der weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Dieser war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Kläger ist durch den angefochtenen Bescheid vom 28.04.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.03.2010 beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), denn dieser Bescheid ist rechtswidrig.

Die Beklagte hat die Anerkennung des Ereignisses vom 15.12.2008 als Arbeitsunfall zu Unrecht abgelehnt.

Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Versicherte Tätigkeiten sind auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit (§ 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII). Für einen Arbeitsunfall eines Versicherten ist im Regelfall erforderlich, dass seine Verrichtung zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer oder sachlicher Zusammenhang), sie zu dem zeitlich begrenzten von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis - dem Unfallereignis - geführt (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität); das Entstehen von länger andauernden Unfallfolgen aufgrund des Gesundheitserstschadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist keine Bedingung für die Feststellung eines Arbeitsunfalles (vgl. BSG, Urteil vom 17.02.2009 - B 2 U 18/07 R - m.w.N.).

Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Der Kläger war zum Unfallzeitpunkt als Studierender während der Ausbildung- und Fortbildung an einer Hochschule nach § 2 Abs. 1 Nr. 8 c SGB VII versichert und er befand sich zum Unfallzeitpunkt auf dem unmittelbaren Weg zur Universität C, dem Ort der Tätigkeit. Durch den Sturz hat der Kläger einen Unfall erlitten. Das von außen auf den Körper einwirkende Ereignis liegt nicht nur bei einem besonders ungewöhnlichen Geschehen, sondern auch bei einem alltäglichen Vorgang, wie das Stolpern über die eigenen Füße oder das Aufschlagen auf dem Boden vor, weil hierdurch ein Teil der Außenwelt auf den Körper einwirkt (BSG aaO, m.w.N.). Die Verrichtung zur Zeit des Unfallereignisses - das Zurücklegen des Weges zur Universität C - gehörte zur versicherten Tätigkeit und stand daher mit dieser in einem sachlichen Zusammenhang. Infolge des Sturzes hat der Kläger auch eine Kopfverletzung und damit einen Gesundheitserstschaden erlitten. Damit war die versicherte Tätigkeit - entgegen der Auffassung der Beklagten - auf jeden Fall eine conditio sine qua non für den Sturz des Klägers. Die versicherte Tätigkeit war bereits deshalb eine Bedingung des Unfalls und seiner Folgen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne, weil sich ohne diese ganz konkrete Tätigkeit kein identischer Unfall mit identischen Unfallfolgen hätte ereignen können (vgl. BSG, Urteil vom 24.02.1988 - 2 RU 30/87 -).

Schließlich ist auch die Unfallkausalität gegeben. Die erforderliche Kausalität zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfallereignis liegt vor, wenn außer dem kausalen Anknüpfungspunkt der versicherten Tätigkeit keine anderen Tatsachen festgestellt sind, die als Konkurrenzursachen wirksam geworden sein könnten (BSG, Urteil vom 17.02.2009 - B 2 U 18/07 R -). Kann eine mögliche Konkurrenzursache schon nicht festgestellt werden, scheidet sie bereits im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne als Ursache aus. Liegt hingegen eine Konkurrenzursache vor, ist die Unfallkausalität zu klären. Das ist typischerweise in den Fällen einer inneren Ursache, einer gemischten Tätigkeit, einer unerheblichen Unterbrechung oder einer eingebrachten Gefahr notwendig, denn bei diesen Fallgestaltungen kann gerade nicht ausgeschlossen werden, dass neben der im sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehenden Verrichtung zur Zeit des Unfalls eine weitere, nicht versicherten Zwecken zuzurechnende Ursache hinzutritt. Nur wenn eine solche konkurrierende Ursache neben der versicherten Ursache als naturwissenschaftliche Bedingung für das Unfallereignis wirksam geworden ist, ist zu entscheiden, welche der Ursachen rechtserheblich nach der Theorie der wesentlichen Bedingung ist (BSG aaO, m.w.N.).

Für den Ausschluss der versicherten Tätigkeit als wesentliche Ursache für das Unfallereignis reicht es daher nicht aus, festzustellen, dass der Versicherte eine als Konkurrenzursache grundsätzlich in Frage kommende Grunderkrankung als innere Ursache in sich trägt und damit ein konkurrierender körpereigener Umstand latent und abstrakt vorliegt. Feststehen muss vielmehr auch, dass diese innere Ursache tatsächlich kausal geworden ist, d. h. einen Ursachenbeitrag gesetzt und das konkrete Unfallereignis (zumindest mit-) verursacht hat. Erst wenn festgestellt ist, dass die vorhandene innere Ursache tatsächlich eine Bedingung ist, die nicht hinweg gedacht werden kann, ohne dass der Erfolg - hier das Unfallereignis - entfiele, ist in einem zweiten Schritt zu entscheiden, ob die versicherte Tätigkeit oder die nichtversicherte innere Ursache wesentlich für den Eintritt des Unfallereignisses war.

Die bloße Möglichkeit der Mitverursachung durch eine innere Ursache vermag die festgestellte Ursächlichkeit der versicherten Tätigkeit nicht zu verdrängen. Ist unklar, ob der Versicherte bereits vor dem Sturz einen Anfall erlitten hat, scheidet dieser Anfall als Sturzursache und damit als Ursache im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne aus. Die ursächliche Verknüpfung ist anhand der gegebenen Tatsachen zu beurteilen. Hypothetische Ereignisse kommen als Ursache nicht in Betracht. Insoweit ist zu beachten, dass für die Feststellung eines Arbeitsunfalles der volle Beweis für das Vorliegen sowohl einer versicherten als auch einer inneren nicht versicherten Ursache geführt sein muss und lediglich für die Feststellung des Ursachenzusammenhangs eine hinreichende Wahrscheinlichkeit genügt (BSG aaO, m.w.N.).

Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze ist hier nicht vollbeweislich nachgewiesen, dass eine innere Ursache den Sturz des Klägers am 15.12.2008 verursacht hat. Eine derartige innere Ursache wäre nachgewiesen, wenn man die Angaben des Zeugen G1 gegenüber der Beklagten vom 31.03.2009 zugrunde legt, wonach der Kläger plötzlich ohne vorherige Einwirkung umgekippt ist und mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug. Dies entspricht auch der Einschätzung des gerichtlichen Sachverständigen Dr. Dr. X in seinem Gutachten vom 24.08.2011. Zur Überzeugung des Gerichts ist hier jedoch nicht nachgewiesen, dass sich das Ereignis so zugetragen hat, wie es der Zeuge G1 in seiner schriftlichen Aussage vom 31.03.2009 geschildert hat. Insoweit ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der Zeuge G1 bei seiner gerichtlichen Vernehmung am 12.05.2011 bekundet hat, er habe den Sturz des Klägers selbst nicht gesehen. Er habe sich erst umgedreht, und den Kläger dann auf dem Bahnsteig liegen gesehen. Nach Auffassung der Kammer ist es zwar äußerst befremdlich, dass der Zeuge G1 der Beklagten mit Schreiben vom 31.03.2009 detailliert geschildert hat, wie er den Sturz des Klägers beobachtet haben will, er sich daran aber später nicht mehr erinnern konnte, obwohl es sich um ein Ereignis gehandelt haben dürfte, das man so schnell nicht vergisst. Dennoch vermag das Gericht aufgrund des widersprüchlichen Aussageverhaltens des Zeugen G1 nicht zu beurteilen, welche Angabe zutreffend war und der Entscheidung zugrunde zu legen ist.

Soweit der Sachverständige Dr. Dr. X insoweit die Auffassung vertreten hat, es seien die Erstangaben des Zeugen G1 zugrunde zu legen, da es Erfahrungswerten entspreche, dass Zeugenaussagen mit jahrelanger zeitlicher Latenz zu stattgehabten Ereignissen immer erheblichen Unwägbarkeiten unterworfen seien und Zeugenaussagen insbesondere dann zuverlässig seien, wenn sie kurze Zeit nach einem Ereignis erstattet werden, ist bereits sehr zweifelhaft was die "Erstangaben" des Zeugen G1 waren. So haben die Eltern des Klägers vorgetragen, sie hätten bereits am 17.12.2008, zwei Tage nach dem hier in Rede stehende Ereignis, mit dem Zeugen G1 telefoniert und bei diesem Telefonat habe der Zeuge G1 ihnen gesagt, er habe den eigentlichen Sturz nicht beobachtet. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 11.11.2003, - B 2 U 41/02 R -) weder das SGG noch die Zivilprozessordnung (ZPO) eine Beweisregel in dem Sinne kennen, dass frühere Aussagen oder Angaben grundsätzlich einen höheren Beweiswert besitzen als spätere. Im Rahmen der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG, § 286 ZPO) sind vielmehr alle Aussagen, Angaben usw. zu würdigen. Denn der objektive Beweiswert einer Erklärung kann nicht allein nach dem zeitlichen Abstand von dem Ereignis, auf das sie sich bezieht, bestimmt werden (BSG aaO, m.w.N.). Vielmehr sind alle Umstände des Einzelfalles und vor allem auch die Glaubwürdigkeit der die Erklärung abgebenden Personen zu würdigen. Im Rahmen dieser Gesamtwürdigung kann das Gericht den zeitlich früheren Aussagen aufgrund des Gesichtspunktes, dass sie von irgendwelchen versicherungsrechtlichen Überlegungen ggf. noch unbeeinflusst waren, einen höheren Beweiswert als den späteren Aussagen zumessen, muss es aber nicht (BSG aaO.) Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass hier nicht feststeht, was die Erstangaben des Zeugen G1 waren, sowie unter Berücksichtigung der Widersprüchlichkeit und Unvereinbarkeit der Angaben des Zeugen G1 vermag die Kammer hier nicht zu entscheiden, welchen Angaben zu folgen ist. Die Kammer hält die Angaben des Zeugen G1 daher insgesamt für nicht verwertbar, so dass davon auszugehen ist, dass ein Augenzeuge für das Unfallereignis am 15.12.2008 nicht existiert.

Der Vollbeweis einer inneren Ursache ist hier - im Gegensatz zur Auffassung des gerichtlichen Sachverständigen Dr. Dr. X - auch nicht dadurch geführt, dass es in dem Notarztprotokoll heißt: "Patient hat auf dem Bahnsteig einen Krampfanfall erlitten." Soweit der Sachverständige Dr. Dr. X daraus schlussfolgert, Ursache des Sturzes vom 15.12.2008 sei eindeutig ein epileptischer Anfall, somit ein Ereignis aus innerer Ursache, vermag die Kammer dem nicht zu folgen. Der Sachverständige Dr. Dr. X hat in seinem Gutachten vom 24.08.2011 vielmehr ausdrücklich darauf hingewiesen, es lasse sich insgesamt nicht sicher abschätzen, ob der Kläger nun zu Fall gekommen sei und sich aufgrund der sturzbedingten Hirnverletzungen ein früheres epileptisches Anfallsgeschehen entwickelt habe oder ob bei dem Kläger primär ein epileptischer Anfall aufgetreten sei, er also deshalb auch zu Fall kam und sich ohne Schutzreflexe die schweren Kopfverletzungen mit sämtlichen Blutungen etc. zuzog. Daran ist festzuhalten, zumal der Vermerk in dem Notarztprotokoll, der Kläger habe auf dem Bahnsteig einen Krampfanfall erlitten, nichts darüber aussagt, ob der Kläger diesen Krampfanfall vor oder nach dem Sturz erlitten hat. Damit scheidet - wie dargelegt - ein Krampfanfall als Sturzursache und damit

als Ursache im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne aus (vgl. BSG, aaO).

Steht der nachweislich kausal gewordenen versicherten Ursache - hier der versicherten Tätigkeit - aber allein eine nur hypothetisch in Betracht kommende nicht versicherte Ursache - hier ein Krampfanfall - gegenüber, deren Mitursächlichkeit im Sinne des Ingangsetzens eines bestimmten Erfolges - hier das Unfallereignis - nicht feststeht, sondern nur denkbar ist, bestehen an der Unfallkausalität mangels Vorliegens einer wirksam gewordenen Konkurrenzursache keine Zweifel (BSG, aaO).

Im Gegensatz zur Auffassung der Beklagten und der des 17. Senates des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in dem Urteil vom 16.04.2008 - L 17 U 131/07 - ist eine weitere Prüfung dahingehend, ob die konkrete als versichert erkannte Verrichtung im Unfallzeitpunkt zumindest wesentlich mitursächlich für das Zufallkommen war, nicht mehr erforderlich. Nach der dargelegten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts reicht es für die positive Feststellung der Unfallkausalität vielmehr schon aus, wenn außer der versicherten Tätigkeit keine anderen Tatsachen festgestellt sind, die als Konkurrenzursachen wirksam geworden sein könnten. Das Erfordernis der Prüfung eines weiteren Schritts, ob die zum Zeitpunkt des Unfallereignisses konkret verrichtete Tätigkeit rechtlich wesentlich für den Sturz war, lässt sich der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nicht entnehmen. Dementsprechend hat auch das Bundessozialgericht in dem Urteil vom 17.02.2009 - B 2 U 18/07 R - die Kausalverbindung zwischen versicherter Verrichtung und Unfall nicht noch einmal positiv festgestellt. In dem vom Bundessozialgericht am 17.02.2009 entschiedenen Fall stürzte der Kläger zu Boden, während er Unterlagen holte. Allein aus dem Holen von Unterlagen heraus erklärt sich jedoch kein Sturz. Es ist daher nicht zutreffend, wenn die Beklagte vorträgt, die BSG-Urteile wiesen als Gemeinsamkeit auf, dass bereits aus der nachgewiesenen versicherten Verrichtung sich ein Sturz erkläre. In diesem Zusammenhang ist auch nochmals darauf hinzuweisen, dass hier nicht nachgewiesen ist, dass der Kläger zum Zeitpunkt des Unfalls "bloß gestanden" hat. Augenzeugen für den Unfall gibt es - wie dargelegt - nicht, der Kläger hat stets vorgetragen, er könne sich an den Tag des Unfalls nicht erinnern. Es ist daher unklar, welche konkrete Tätigkeit der Kläger unmittelbar vor dem Sturz ausgeübt hat. So ist es zum Beispiel auch denkbar, dass der Kläger vor dem Sturz gerade auf dem Bahnsteig ankam oder dass er beim Warten auf die Bahn hin- und hergelaufen ist. Die genaue Feststellung dieser Verrichtung ist jedoch - wie dargelegt - auch nicht erforderlich. Dementsprechend hat das Bundessozialgericht bereits im seinem Urteil vom 24.02.1988 - 2 RU 30/87 - ausdrücklich ausgeführt, wenn als festgestellte Bedingung des Unfalls - wie hier - allein die versicherte Tätigkeit des Klägers übrig bleibe, sei sie in dieser Eigenschaft zugleich als wesentliche Ursache des Unfalls festzustellen. Der Feststellung des Unfallherganges in weiteren Einzelheiten bedürfe es dann nicht (BSG, aaO, unter Hinweis auf BSGE 61, 127, 130).

Die Klage musste nach alledem Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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