L 12 AS 1643/16 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 9 AS 1639/16 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 AS 1643/16 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 25.04.2016 abgeändert. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird in vollem Umfang zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Antragstellerinnen begehren im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen aufgrund der Berücksichtigung einer Lernförderung (Nachhilfeunterricht) bei der Antragstellerin Ziffer 2.

Die 2005 geborene Antragstellerin Ziffer 2 und ihre Mutter, die Antragstellerin Ziffer 1, beziehen vom Beklagten Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Die Antragstellerin Ziffer 2 besucht die Klasse 5 der E.-K.-Realschule in O ... In der Halbjahresinformation der Schule vom 01.02.2016 werden u.a. die Leistungen im Fach Deutsch mit 5 plus, im Fach Englisch mit 4 minus, im Fach Mathematik mit 5, im Fach EWG (Fächerverbund Erdkunde-Wirtschaftskunde-Gemeinschaftskunde) mit 4 minus und im Fach NWH (Fächerverbund Naturwissenschaftliches Arbeiten) mit 5 minus bewertet. Es wird bemerkt, die Versetzung sei gefährdet, die Klassenkonferenz empfehle den Wechsel auf die Werkrealschule.

Seit der Halbjahresinformation wurden mehrere Anträge auf Leistungen zur Bildung und Teilhabe in Form von Lernforderung durch Nachhilfeunterricht gestellt:

Antrag 1: Eingang am 02.03.2016 mit einer Bestätigung der Schule (Herr D.) vom 24.02.2016, in der für die Unterrichtsfächer Deutsch, Mathematik und Englisch Nachhilfe im Umfang von jeweils 1,5 Stunden wöchentlich empfohlen wird.

Antrag 2: Eingang am 17.03.2016 mit einer Bestätigung der Schule (Herr D.) vom 16.03.2016, in der Nachhilfe in den Unterrichtsfächern Deutsch und Mathematik im Umfang von jeweils 3 Stunden wöchentlich empfohlen wird.

Der Antragsgegner lehnte Antrag 1 durch Bescheid vom 02.03.2016 und Antrag 2 durch Bescheid vom 23.03.2016 ab. Gegen beide Bescheide legten die Antragstellerinnen am 30.03.2016 Widerspruch ein. Der Antragsgegner hielt weitere Erhebungen zur Klärung verschiedener Fragen für erforderlich (interne Stellungnahme vom 08.04.2016), führte diese Erhebungen aber nicht selbst durch, sondern forderte die Antragstellerinnen mit Schreiben vom 14.04.2016 auf, den "empfehlenden Lehrer" zu verschiedenen Punkten schriftlich Stellung nehmen zu lassen sowie die Qualifikation von Frau E. (die für den Nachhilfeunterricht genannt worden war) nachzuweisen.

Am 15.04.2016 haben die Antragstellerinnen beim Sozialgericht Freiburg (SG) einstweiligen Rechtsschutz beantragt. Die geltend gemachte außerschulische Lernförderung sei dringend. Die Antragstellerin Ziffer 2 habe bereits einige Nachhilfestunden genommen (nach einer dem Antrag 2 beigefügten Liste an 13 Terminen in der Zeit vom 24.02. bis 14.03.2016), habe dies aber nach Erhalt der Ablehnungsbescheide wieder eingestellt. Das Schuljahr ende im Juli, die Versetzung sei gefährdet. Mit den Widersprüchen vom 30.03.2016 sei dem Antragsgegner eine Frist bis zum 13.04.2016 gesetzt worden, eine Reaktion sei nicht erfolgt. Der Antragsgegner ist dem Antrag mit Schriftsatz vom 19.04.2016 entgegengetreten.

Das SG hat durch Beschluss vom 25.04.2016 den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin Ziffer 2 vorläufig vom 15.04.2016 bis zur bestandskräftigen Entscheidung über die Anträge vom 01.03. und 16.03.2016, längstens jedoch bis zum 30.06.2016, Leistungen zur Bildung und Teilhabe in Form ergänzender Lernförderung im Umfang von sechs Unterrichtsstunden wöchentlich à 15 EUR pro Unterrichtsstunde zu erbringen; hinsichtlich der Antragstellerin Ziffer 1 hat es den Antrag zurückgewiesen, da Anspruchsinhaberin ausschließlich die Antragstellerin Ziffer 2 sein könne. Ein Anordnungsanspruch der Antragstellerin Ziffer 2 sei möglich; dies ergebe sich schon daraus, dass der Antragsgegner selbst die Voraussetzungen für nicht vollständig geklärt halte, was in dem Schreiben vom 14.04.2016 dokumentiert sei. Im Hinblick auf die durch eine Verzögerung drohenden Nachteile und den hohen Rang der durch § 28 Abs. 5 SGB II gewährleisteten Rechte führe die Folgenabwägung zu einer zusprechenden Entscheidung.

Im Zeitpunkt der Entscheidung des SG gingen am 25.04.2016 beim Antragsgegner weitere Unterlagen ein, die das SG noch nicht berücksichtigen konnte, nämlich ein weiterer Antrag der Antragstellerinnen (Antrag 3),wohl als Antwort auf das Schreiben des Antragsgegners vom 14.04.2016. Beigefügt war eine Bestätigung der Schule (Herr D.) vom 22.04.2016, in der Nachhilfe in den Fächern Mathematik, Deutsch und Englisch im Umfang von jeweils einer Stunde wöchentlich empfohlen wird. Der Bestätigung war ein Schreiben (ebenfalls von Herrn D. vom 22.04.2016) beigefügt, in dem es heißt: "Die Klassenkonferenz ist sich darüber einig, dass die Schülerin Rebecca Jäger dringenden Förderbedarf in den Fächern Deutsch, Mathe und Englisch hat. Allerdings wird Rebecca nach unserer Ansicht das Klassenziel der 5. Klasse nicht erreichen. Es ist anzunehmen, dass sie auch mit Hilfe einer zusätzlichen Lernförderung das Klassenziel nicht erreichen wird. Wir empfehlen deshalb den Wechsel auf eine Ganztages-Werkrealschule. Um die bestehenden Defizite auszugleichen, empfehlen wir auch bei einem Schulartwechsel eine zusätzliche Lernförderung in Deutsch, Mathe und Englisch."- Diesen Antrag hat der Antragsgegner durch Bescheid vom 26.04.2016 abgelehnt.

Gegen den Beschluss des SG vom 25.04.2016 hat der Antragsgegner am 03.05.2016 Beschwerde eingelegt. Er führt aus, in den Bestätigungen der Schule zu den Anträgen 1 und 2 hätten noch wesentliche Teile gefehlt. Nunmehr bescheinige die Schule mit Schreiben vom 22.04.2016, dass die Antragstellerin Ziffer 2 auch mit Hilfe einer Lernförderung das Klassenziel nicht erreichen werde. Die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen zur Bildung und Teilhabe nach § 28 Abs. 5 SGB II lägen somit nicht vor. Der Beschluss vom 25.04.2016 sei daher aufzuheben.

Die Antragsteller treten der Beschwerde entgegen. Lernziel sei nicht allein die Versetzung. Auch ein ausreichendes Leistungsniveau sei ein wesentliches Lernziel. Aus der Bestätigung der Schule vom 22.04.2016 ergebe sich, dass die Lernförderung für die Antragstellerin Ziffer 2 unabhängig vom Nichterreichen des Klassenziels der 5. Klasse unerlässlich sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Verfahrensakten beider Rechtszüge und der vom Antragsgegner vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde ist statthaft, denn auch in der Hauptsache wäre die Berufung zulässig, da der Wert des Beschwerdegegenstands mehr als 750 EUR beträgt (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt (§ 173 SGG) und insgesamt zulässig.

Die Beschwerde ist auch in der Sache begründet.

Prozessuale Grundlage des verfolgten Anspruchs (im Beschwerdeverfahren nur noch der Antragstellerin Ziffer 2) auf Gewährung von Leistungen zur Lernförderung ist § 86b Abs. 2 SGG. Nach Satz 1 der Vorschrift kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des § 86b Abs. 1 SGG vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG).

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die - summarische - Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der angestrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung -ZPO-). Dabei sind die an die Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs zu stellenden Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen - insbesondere mit Blick auf ihre Relevanz für die Verwirklichung von Grundrechten - wiegen. Dabei müssen die Gerichte die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern (soweit im Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes möglich) abschließend prüfen, wenn das einstweilige Rechtschutzverfahren vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung droht, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr beseitigt werden könnte (siehe z.B. Bundesverfassungsgericht - BVerfG -, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 - NVwZ 2005, 927). Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens ist aufgrund einer umfassenden Folgenabwägung zu entscheiden.

Im vorliegenden Fall besteht kein Anordnungsanspruch.

In der Hauptsache begehrt die Antragstellerin Ziffer 2 Leistungen zur Lernförderung nach § 28 Abs. 5 SGB II. Nach dieser Vorschrift wird bei Schülerinnen und Schülern eine schulische Angebote ergänzende angemessene Lernförderung berücksichtigt, soweit diese geeignet und zusätzlich erforderlich ist, um die nach den schulrechtlichen Bestimmungen festgelegten wesentlichen Lernziele zu erreichen. Der Gesetzgeber berücksichtigt damit, dass auch außerschulische Lernförderung (Nachhilfe) vom Anspruch auf Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums erfasst sein kann. Die Antragstellerin Ziffer 2 besucht die Klasse 5 einer Realschule. Wesentliches Lernziel in der jeweiligen Klassenstufe ist regelmäßig die Versetzung in die nächste Klassenstufe bzw. ein ausreichendes Leistungsniveau. An diesem Ziel der Lernförderung muss sich die Geeignetheit der Maßnahme ausrichten, was im Wege einer prognostischen Einzelfallbeurteilung festzustellen ist; dies wird regelmäßig unter Einbeziehung der Schule und der Lehrkräfte stattfinden müssen, da diese über die notwendige Sachkunde verfügen. Die erforderliche Prognose ist hier eindeutig negativ, weshalb kein Anspruch der Antragstellerin Ziffer 2 besteht. Die negative Prognose ergibt sich aus der Bestätigung der E.-K.-Realschule, Herr D., vom 22.04.2016, mit dem beigefügten Schreiben vom 22.04.2016, die dem SG im Zeitpunkt seiner Entscheidung noch nicht vorgelegen hat und die der Beurteilung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache als offen nunmehr entgegensteht. Demnach sind sich der Verfasser D. und die Klassenkonferenz darüber einig, dass die Antragstellerin Ziffer 2 das Klassenziel der 5. Klasse auch mit Hilfe einer zusätzlichen Lernförderung nicht erreichen wird. An der Richtigkeit dieser prognostischen Einschätzung besteht insbesondere aufgrund der Benotung der einzelnen Leistungen nach der Halbjahresinformation vom 01.02.2016 und der bereits darin ausgesprochenen Empfehlung eines Wechsels auf die Werkrealschule kein begründeter Zweifel.

Gegenstand der Prognose können dabei nur die wesentlichen Lernziele der von der Antragstellerin Ziffer 2 besuchten 5. Klasse der Realschule sein, denn anders lassen sich konkrete Lernziele nicht definieren. Etwas anderes mag allenfalls dann gelten, wenn es um bestimmte Schwächen geht wie beispielsweise eine Legasthenie, die sich überall auswirken; solche Besonderheiten liegen hier aber nicht vor. Vielmehr geht es um Defizite in mehreren versetzungsrelevanten Schulfächern. Jedenfalls derzeit ist nicht zu berücksichtigen, dass die Klassenkonferenz gemäß Schreiben vom 22.04.2016 auch bei einem Schulartwechsel eine zusätzliche Lernförderung in Deutsch, Mathematik und Englisch empfiehlt, um die bestehenden Defizite auszugleichen. Den empfohlenen Wechsel auf eine Werkrealschule beabsichtigt die Antragstellerin Ziffer 2 offenbar nicht. Den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz hat sie ausschließlich damit begründet, dass das Schuljahr bereits im Juli endet und die Versetzung gefährdet sei. Etwas anderes hat sie bisher nicht vorgetragen. Im Übrigen ist die im Schreiben vom 22.04.2016 ausgesprochene Empfehlung für den Fall eines Schulartwechsels viel zu allgemein und unbestimmt, um konkret die Voraussetzungen des § 28 Abs. 5 SGB II zu prüfen. Diese Prüfung müsste sich an den Gegebenheiten einer Werkrealschule ausrichten. Das gilt erst recht, nachdem in den vorliegenden drei Bestätigungen der Realschule die nachhilfebedürftigen Schulfächer und vor allem der Umfang des erforderlichen Nachhilfeunterrichts unterschiedlich - zunächst viereinhalb, dann sechs und zuletzt drei Stunden - beschrieben werden.

Die Beschwerde hat daher Erfolg.

Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend § 193 Abs. 1 SGG.

Diese Entscheidung kann mit der Beschwerde nicht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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