S 9 KR 518/14

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Münster (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 9 KR 518/14
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 28.01.2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 10.02.2015 verurteilt, die Klägerin mit den, mit dem bei der Beklagten am 20.11.2013 eingegangenen Antrag beantragten, Leistungen der Abdominalplastik, Oberarmstraffung und Mamareduktionplastik mit Straffung zu versorgen. Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Die Klägerin hatte mit einer Ernährungsumstellung und Bewegungstraining in eineinhalb Jahren 36 kg Körpergewicht bis zu einem Gewicht von 92 kg abgenommen. Sie klagt nun über Hautüberschüsse und Vergleichsweise zu große Brüste. Es bestünde die Gefahr von Problemen durch Haut-zu-Haut-Kontakte im Bereich der Brüste.

Über das Klinikum W. beantragte die Klägerin unter dem 03.11.2013, bei der Beklagten eingegangen am 22.11.2013, eine Abdominalplastik, eine Oberarmstraffung und eine Mamareduktionplastik mit Straffung.

Mit Schreiben vom 07.01.2014 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass eine Fotodokumentation für den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) erforderlich sei.

Mit Bescheid vom 28.01.2014 lehnte die Beklagte die beantragte Leistung ab. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid des Widerspruchsausschusses vom 10.02.2015 zurück.

Gegen den Ablehnungsbescheid richtet sich die Klage vom 09.10.2014. Der Bevollmächtigte der Klägerin ist der Meinung, die Beklagte sei aufgrund eingetretener Genehmigungsfiktion zur beantragten Leistung verpflichtet.

Der Klägerbevollmächtigte beantragt schriftsätzlich,

Die Beklagte zu verurteilen, die Klägerin – aufgrund des Eintritts der Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a S. 6 SGB V - antragsgemäß mit Maßnahmen der postbariatrischen Wiederherstellungschirurgie zu versorgen, dies unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides in Gestalt des Widerspruchsbescheides.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Sie ist der Meinung, die Voraussetzungen der Genehmigungsfiktion lägen nicht vor. Die Genehmigungsfiktion erfasse nur Kostenerstattungsansprüche, keine Sachleistungsansprüche. Außerdem sei auch bei der Genehmigungsfiktion das Kriterium der Erforderlichkeit zu beachten. Die hier beantragten Leistungen seien jedoch nicht erforderlich.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte nach § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Die Beteiligten haben hierzu mit Schriftsätzen vom 19.10.2015 bzw. 01.12.2015 und 12.01.2016 ihr Einverständnis erklärt.

Der Antrag des Klägerbevollmächtigten ist nach § 123 SGG aufgrund seines Vortrags so auszulegen, dass er die Verurteilung der Beklagten zur Leistung der mit dem bei der Beklagten am 20.11.2013 eingegangenen Antrag beantragten Leistungen erreichen will. Dies entspräche der Wirkung der von ihm angeführten Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a des Sozialgesetzbuchs Fünftes Buch (SGB V). Die Verwendung des Begriffs postbariatrische Wiederherstellungschirurgie soll als zusammenfassender Begriff die einzelnen beantragten Leistungen umfassen. Es ist nicht zu entnehmen, dass er mit seinem Antrag die Verurteilung zu anderen als den ursprünglich bei der Beklagten beantragten Leistungen erreichen will.

Die Klage ist zulässig und begründet.

Statthafte Klageart ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 4 SGG. Danach kann mit der Klage neben der Aufhebung des Verwaltungsakts gleichzeitig die Leistung verlangt werden, wenn der angefochtene Verwaltungsakt eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht.

Die Aufhebung eines Verwaltungsakts kann nach § 54 Abs. 1 SGG beantragt werden, wenn dieser rechtswidrig ist.

Nach § 78 Abs. 1 SGG sind Erhebung der Anfechtungsklage Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsakts in einem Vorverfahren nachzuprüfen. Dieses war hier zum Zeitpunkt der Klageerhebung noch nicht abgeschlossen. Wurde vor Klageerhebung kein Widerspruchsverfahren durchgeführt, führt das im Regelfall aber nicht zur Abweisung einer Klage als unzulässig. Bedarf es eines Widerspruchsverfahrens, geben die Gerichte den Beteiligten vielmehr Gelegenheit zur Nachholung (BSG, Urteil vom 13. Dezember 2000 – B 6 KA 1/00 R –, SozR 3-1500 § 78 Nr. 5, SozR 3-5540 § 23 Nr. 1, Rn. 25). Der Widerspruchsbescheid wurde noch während des gerichtlichen Verfahrens am 10.02.2015 erlassen. Deutlich vor der Entscheidung der Kammer lag also ein abgeschlossenes Vorverfahren vor.

Die Klägerin wird durch den Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 28.01.2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 10.02.2015 im Sinne des § 54 Abs. 1 SGG beschwert, er ist rechtswidrig.

Die Klägerin hat einen Anspruch auf die begehrten Leistungen aufgrund eingetretener Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a SGB V. Danach hat die Krankenkasse über einen Antrag auf Leistungen zügig, spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang oder in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme, insbesondere des MDK, eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden. Kann die Krankenkasse die Fristen nicht einhalten, teilt sie dies den Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich mit. Erfolgt keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes, gilt die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt.

Die Bescheidungsfrist hat die Beklagte nicht eingehalten. Der Antrag ging bei der Beklagten am 22.11.2013 ein. Selbst die fünfwöchige Frist zur Bescheidung wäre spätestens am 30.12.2013 abgelaufen. Eine Mitteilung eines hinreichenden Grundes für die Fristüberschreitung erfolgte bis dahin nicht. Bis zur Mitteilung der Beklagten an die Klägerin vom 07.01.2014, dass noch eine Fotodokumentation benötigt werde, ist der Verwaltungsakte keine Antragsbearbeitung seitens der Beklagten zu entnehmen. Der Akte ist ein undatiertes Schreiben der Klägerin zu entnehmen, nach der sie keine Fotodokumentation übersandt habe, da es ohnehin zu einer Begutachtung durch den MDK komme. Auch ohne eingereichte Fotodokumentation beauftragte die Beklagte sodann am 15.01.2014 den MDK mit der Begutachtung. Nach dessen Stellungnahme lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 28.01.2014 ab.

Die Genehmigungswirkung des § 13 Abs. 3a SGB V basiert auf einem fiktiven Verwaltungsakt (Bundessozialgericht, Urteil vom 08. März 2016 – B 1 KR 25/15 R –, juris). Der in der Form des fiktiven Verwaltungsakts fiktiv bewilligte Antrag der Klägerin ist hinreichend bestimmt im Sinne des § 33 Abs. 1 des Sozialgesetzbuches Zehntes Buch (SGB X). Ein Verwaltungsakt ist hinreichend bestimmt, wenn für den verständigen Beteiligten der Wille der Behörde unzweideutig erkennbar wird und eine unterschiedliche subjektive Bewertung nicht möglich ist (Bundessozialgericht, Urteil vom 29. Januar 1997 – 11 RAr 43/96 –, juris), bzw. ist nicht hinreichend bestimmt, wenn sein Verfügungssatz nach seinem Regelungsgehalt in sich nicht widerspruchsfrei ist und der davon Betroffene bei Zugrundelegung der Erkenntnismöglichkeiten eines verständigen Empfängers nicht in der Lage ist, sein Verhalten daran auszurichten (Bundessozialgericht, Urteil vom 17. Dezember 2009 – B 4 AS 30/09 R –, juris). In der Darstellung der beantragten Leistungen durch das Klinikum W. ist aufgeführt, zur Behandlung welcher einzeln dargelegten Diagnosen welche chirurgischen Maßnahmen durchgeführt werden sollen. Durch fiktiven Verwaltungsakt bewilligt ist daraus erkennbar, über welche Maßnahmen die Beklagte fiktiv entschieden und was sie bewilligt hat, die Klägerin kann sich danach richten.

Die fiktive Genehmigungswirkung ist auch nicht durch das Merkmal der Erforderlichkeit in § 13 Abs. 3a S. 7 SGB V ausgeschlossen. Danach ist die Krankenkasse zur Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten verpflichtet, wenn sich Leistungsberechtigte nach Ablauf der Frist eine erforderliche Leistung selbst beschaffen. Auch bei Übertragung des Merkmals der Erforderlichkeit vom Kostenerstattungsanspruch aus Satz 7 auf die Genehmigungsfiktion des Satz 6 werden die streitgegenständlichen Leistungen nicht dadurch ausgeschlossen. Die Begrenzung auf erforderliche Leistungen bewirkt eine Beschränkung auf subjektiv für den Berechtigten erforderliche Leistungen, die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) liegen. Einerseits soll die Regelung es dem Berechtigten erleichtern, sich die ihm zustehende Leistung zeitnah zu beschaffen. Andererseits soll sie ihn nicht zu Rechtsmissbrauch einladen, indem sie Leistungsgrenzen des GKV-Leistungskatalogs überwindet, die jedem Versicherten klar sein müssen (Bundessozialgericht, Urteil vom 08. März 2016 – B 1 KR 25/15 R –, juris). Die Leistungen der Abdominalplastik, Oberarmstraffung und Mamareduktionplastik mit Straffung sind grundsätzlich innerhalb des Leistungskatalogs der GKV denkbar. Auch der MDK empfahl eine Ablehnung der Leistungen nicht wegen grundsätzlich nicht bestehender Bewilligungsfähigkeit in der GKV, sondern weil er sie als zum damaligen Zeitpunkt verfrüht betrachtete.

Die fiktive Genehmigungswirkung des § 13 Abs. 3a SGB V erfasst auch entgegen der von der Beklagten und in Teilen der Rechtsprechung und des Schrifttums vertretenen Auffassung (vgl. Helbig in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 13 SGB V; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26. Mai 2014 – L 16 KR 154/14 B ER, L 16 KR 155/14 B –, juris) den hier begehrten Sachleistungsanspruch und nicht nur Kostenerstattungsansprüche. Die Genehmigungsfiktion begründet zugunsten des Leistungsberechtigten einen Naturalleistungsanspruch, dem der im Anschluss hieran geregelte, den Eintritt der Genehmigungsfiktion voraussetzende naturalleistungsersetzende Kostenerstattungsanspruch im Ansatz entspricht (vgl. § 13 Abs. 3a S 7 SGB V). Der Naturalleistungsanspruch kraft Genehmigungsfiktion ermöglicht auch mittellosen Versicherten, die nicht in der Lage sind, sich die begehrte Leistung selbst zu beschaffen, ihren Anspruch zu realisieren (vgl. Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23.5.2014 - L 5 KR 222/14 B ER - juris RdNr 7 mwN). Für diese Auslegung spricht schließlich der Sanktionscharakter der Norm (vgl. hierzu Entwurf der Bundesregierung eines PatRVerbG, BT-Drucks 17/10488 S 32, zu Art 2 Nr. 1) (Bundessozialgericht, Urteil vom 08. März 2016 – B 1 KR 25/15 R –, juris). Dies entspricht auch der gleichberechtigten Stellung der beiden Sätze nebeneinander. § 13 Abs. 3a Satz 6 und 7 SGB V haben jeweils eigene Regelungsinhalte. Wäre der Geltungsbereich des § 13 Abs. 3 a SGB V lediglich auf einen Kostenerstattungsanspruch beschränkt, käme Satz 6 kein eigener Regelungsgehalt zu (Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23. Mai 2014 – L 5 KR 222/14 B ER –, Rn. 7, juris).

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved