L 27 R 609/15

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
27
1. Instanz
SG Frankfurt (Oder) (BRB)
Aktenzeichen
S 22 R 32/13
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 27 R 609/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 9. Juni 2015 wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat der Klägerin auch für das Berufungsverfahren die notwendigen außergerichtlichen Kosten in vollem Umfang zu erstatten. Im Übrigen verbleibt es bei der Kostenentscheidung des Sozialgerichts. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit.

Die im Jahr 1954 geborene Klägerin war in der Zeit von Juli 1974 bis Oktober 1985 in einer Konsumgenossenschaft in Frankfurt (Oder) als Verkäuferin beschäftigt. Während dieser Zeit, nämlich in den Jahren 1977 bis 1979, absolvierte sie eine berufsbegleitende Weiterbildung und erwarb am 15. Juni 1981 die Berufsbezeichnung "Fachverkäuferin". In der Zeit von November 1985 bis Mai 1987 war sie Sachbearbeiterin in einem Fleischkombinat und danach von Juli 1987 bis zum 11. Mai 1990 wieder als Verkäuferin in der Konsumgenossenschaft tätig. Danach war sie nicht mehr versicherungspflichtig beschäftigt.

Nach zwei erfolglosen durch die Beklagte jeweils bestandskräftig abgelehnten Rentenanträgen beantragte die Klägerin am 16. April 2012 erneut die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente bei der Beklagten. Mit Bescheid vom 30. Juli 2012 und Widerspruchsbescheid vom 19. Dezember 2012 lehnte die Beklagte diesen Antrag mit der Begründung ab, die Klägerin könne noch vollschichtig erwerbstätig sein und genieße keinen Facharbeiterschutz.

Im anschließenden Rechtsstreit vor dem Sozialgericht Frankfurt (Oder) hat aufgrund richterlicher Beweisanordnung am 11. November 2013 der Facharzt für Orthopädie Dr. W ein medizinisches Sachverständigengutachten erstattet. Darin ist er zu der Einschätzung gelangt, die Klägerin könne, mit einigen weiteren qualitativen Einschränkungen, leichtere körperliche Arbeiten vollschichtig verrichten.

Ebenfalls aufgrund richterlicher Beweisanordnung hat am 20. August 2014 der Sachverständige L ein berufskundliches Sachverständigengutachten erstattet und am 9. März 2015 ergänzend Stellung genommen. Darin schätzt er die Ausbildung der Klägerin zur Fachverkäuferin so ein, dass sie nur einer zweijährigen Ausbildung nach bundesrepublikanischem Maßstäben und nicht einer dreijährigen Ausbildung entspreche.

Mit Urteil vom 9. Juni 2015 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab Antragstellung eine Rente auf Dauer wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit zu gewähren. Die Klägerin genieße aufgrund der zweijährigen Ausbildung Facharbeiterschutz, weil diese einer dreijährigen Ausbildung nach bundesrepublikanischem Recht gleichgestellt sei. Eine Verweisungstätigkeit bestehe nicht. Im Übrigen hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen, weil die Voraussetzungen der vollen Erwerbsminderung oder der (allgemeinen) teilweisen Erwerbsminderung nicht vorlägen.

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte fristgemäß Berufung zum Landessozialgericht eingelegt. Sie macht geltend, die Klägerin genieße keinen Facharbeiterschutz, weil sie keine Ausbildung zur Facharbeiterin absolviert habe. Zwar werde eine zweijährige Facharbeiterausbildung in der DDR einer dreijährigen Berufsausbildung nach bundesrepublikanischem Recht gleichgestellt, jedoch nur dann, wenn für die entsprechende gleichartige Ausbildung nach bundesrepublikanischem Muster eine dreijährige Ausbildung vorgeschrieben gewesen sei. Dies sei bei der Klägerin nicht gegeben. Sie sei als angelernte Kraft zu betrachten und auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu verweisen. Vorsorglich werden aber auch der Verweisungsberuf der Pförtnerin und der Beruf der Versandfertigmacherin benannt.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 9. Juni 2015 zu ändern und die Klage insgesamt abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie auf die Verwaltungsakten der Beklagten, die im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG), sie ist jedoch nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Beklagte zur Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit verurteilt, denn die Voraussetzungen des § 240 Abs. 1 Nr. 1 und 2 Sozialgesetzbuch/Sechstes Buch (SGB VI) liegen vor. Die Klägerin ist vor dem 2. Januar 1961 geboren und berufsunfähig im Sinne von § 240 Abs. 2 SGB VI. Hiernach sind solche Versicherte berufsunfähig, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.

Hiernach ist die Klägerin berufsunfähig. Zunächst kann sie ihren erlernten Beruf einer Verkäuferin nicht mehr ausüben. Dies folgt aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens, § 128 SGG und ist im Übrigen zwischen den Beteiligten unstreitig.

Die Klägerin kann aber auch nicht zumutbar auf eine andere Tätigkeit verwiesen werden. Hierbei spielt es keine Rolle, ob die Klägerin Facharbeiterschutz genießt. Denn auch dann, wenn ihre zweijährige Ausbildung keinen Facharbeiterstatus begründen sollte, lässt sich für sie eine zumutbare Verweisungstätigkeit nicht finden. Denn die Klägerin gehört als Versicherte, die einen Beruf mit einer erforderlichen Regelausbildung bis zu zwei Jahren ausgeübt hat, dem oberen Bereich der Angelernten an. Für diese Personengruppe ist die Verweisbarkeit eingeschränkt. Bei diesen relativ hoch angesiedelten Angelernten müssen zumutbare Verweisungstätigkeiten durch Qualitätsmerkmale, etwa das Erfordernis einer Einweisung und Einarbeitung oder die Notwendigkeit beruflicher oder betrieblicher Vorkenntnisse, auszeichnen (Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. Oktober 2015, L 8 R 926/11, juris Rn. 95 m.w.N.).

Zwar hat die Beklagte Verweisungstätigkeiten benannt, die von ihrem Anforderungsprofil her möglicherweise solchen höher qualifizierten Anlernberufen entsprechen können, nämlich die Tätigkeit einer Pförtnerin und die Tätigkeit einer Versandfertigmacherin. Für beide Tätigkeiten ist die Klägerin jedoch aus gesundheitlichen Gründen nicht zumutbar einsetzbar. Wie der Sachverständige Dr. W in seinem Gutachten vom 11. November 2013 überzeugend herausgearbeitet hat, können der Klägerin geistig einfache bis mittelschwere Arbeiten mit geringen Anforderungen an die Reaktionsfähigkeit, die Übersicht, die Aufmerksamkeit, das Verantwortungsbewusstsein und der Zuverlässigkeit zugemutet werden; darüber hinaus ist auch das Sehvermögen der Klägerin eingeschränkt. Es liegt für den Senat auf der Hand, dass vor dem Hintergrund dieser qualitativen Einschränkungen die verantwortungsbewusste Tätigkeit einer Pförtnerin nicht ausübbar ist.

Dasselbe gilt im Hinblick auf den zweiten Verweisungsberuf, nämlich die Versandfertigmacherin. Dabei lässt der Senat ausdrücklich offen, ob solche Tätigkeiten überhaupt noch auf dem Arbeitsmarkt in genügender Anzahl vorhanden sind (verneinend: Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. Oktober 2015, L 8 R 926/11, juris Rn. 96 – 99). Denn auch dann, wenn diese Tätigkeiten in genügender Zahl noch auf dem Arbeitsmarkt vorhanden sein sollten, kann die Klägerin aufgrund der vorgenannten deutlichen Leistungseinschränkungen eine solche Tätigkeit, die zumindest Konzentration, Verantwortungsbewusstsein und Zuverlässigkeit über einen längeren Zeitraum verlangen, nicht erfüllen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.

Die Revision war nicht zuzulassen, Zulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 SGG sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
Saved