S 10 KR 460/13

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Chemnitz (FSS)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 10 KR 460/13
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 01.11.2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2013 verurteilt, die Kosten für die Liposuktion zur Behandlung des Lipödems der Oberschenkel der Klägerin zu übernehmen.

II. Die Beklagte hat der Klägerin deren notwendig entstandene außergerichtliche Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Kostenübernahme für eine Liposuktion.

Die 1983 geborene Klägerin beantragte am 18.10.2012 die Kostenübernahme für Liposuktionen der Hüften, Oberschenkel, Unterschenkel und der Arme.

Mit streitigem Bescheid vom 01.11.2012 lehnte die Beklagte den Antrag auf Kostenübernahme ab. Die von der Klägerin beantragte Behandlungsmethode gehöre nicht zum Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenversicherung, da der diagnostische und therapeutische Nutzen, die Wirksamkeit sowie die medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit nicht einwandfrei belegt seien. Entsprechende Studien dazu würden nicht vorliegen.

Nach Widerspruch vom 27.11.2012 erstellte der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) das Gutachten vom 13.05.2013 nach Befunderhebung im MDK. Eine Liposuktion könne grundsätzlich ambulant durchgeführt werden. Im ambulanten Bereich handele es sich bei der Liposuktion um eine neue Behandlungsmethode. Voraussetzung für die Kostenübernahme sei hierbei u. a. eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung. Schon diese Voraussetzung liege nicht vor.

Dementsprechend wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 19.07.2013 als unbegründet zurück.

Dagegen hat die Klägerin über ihren Prozessbevollmächtigten am 19.08.2013 Klage erhoben, mit der Begründung vom 02.09.2013. Die Klägerin leide unter einem Lipödem im Stadium II. Hierfür gebe es nur die Liposuktion als einzige adäquate Behandlungsmethode. Der Bevollmächtigte der Klägerin verweist auf ein Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 01.03.2012, Az.: S 10 KR 189/10, das in einem vergleichbaren Fall die Krankenkasse zur Kostenübernahme verurteilte.

In der Klageerwiderung vom 14.10.2013 verweist die Beklagte darauf, dass der durch das Sozialgericht Chemnitz entschiedene Fall als Einzelfall nicht verallgemeinerungsfähig sei. Überdies habe zum Beispiel das Landessozialgericht Baden-Württemberg in einer Entscheidung vom 27.07.2012, Az.: L 4 KR 595/11, die Ansicht der Beklagten vollumfänglich unterstützt. Behandlungsmethode seien die komplexe physikalische Entstauungstherapie kombiniert mit einer Kompressionstherapie. Die wissenschaftliche Diskussion zur Behandlung von Lipödemen sei derzeit noch nicht abgeschlossen.

Mit Schriftsatz vom 10.12.2013 verwies der Bevollmächtigte der Klägerin darauf, dass sich die Klägerin seit 2011 in ständiger Behandlung befand. Eine Besserung des Zustandes sei jedoch nicht eingetreten.

Mit Schriftsatz vom 17.12.2014 verwies die Beklagte darauf, dass seit dem 22.05.2014 ein Antragsverfahren bei dem Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) zur Frage der Behandlung eines Lipödems durch Liposuktion anhängig sei. Ein Abschlusszeitpunkt der Untersuchung sei nicht absehbar.

Auf Anfrage des Gerichts vom 24.03.2015 verwies der Gemeinsame Bundesausschuss mit Schreiben vom 13.04.2015 im Ergebnis darauf, dass endgültige Aussagen zur Verfahrensdauer zum damaligen Zeitpunkt nicht getroffen werden konnten. Das Schreiben vom 13.04.2015 hat im Wesentlichen folgenden Inhalt:

"Sehr geehrte Damen und Herren,

vielen Dank für Ihre Anfrage an den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Sie ist am 31. März 2015 in der Geschäftsstelle des G-BA eingegangen und wird durch die Geschäftsführung des Unterausschusses Methodenbewertung beantwortet.

Am 22. Mai 2014 hat der G-BA einen Antrag gemäß §§ 135 Abs. 1 und 137c Abs. 1 SGB V auf Bewertung der Methode Liposuktion bei Lipödem angenommen und den Unterausschuss Methodenbewertung mit der Durchführung des Bewertungsverfahrens und der Vorbereitung des Beschlusses beauftragt. Im Anschluss an die ersten Beratungen der themenbezogenen Arbeitsgruppe erfolgten die öffentliche Bekanntmachung des Beratungsthemas sowie die Veröffentlichung des Fragebogens zur Einholung der ersten Einschätzungen am 1. April 2015. Die Frist zur Abgabe der ersten Einschätzungen wurde auf den 1. Mai 2015 festgelegt.

Aufgrund zahlreicher Einflussfaktoren können endgültige Aussagen zur Verfahrensdauer zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht getroffen werden. Es kann jedoch festgehalten werden, dass der G-BA bei Verfahren von grundsätzlicher Bedeutung regelhaft das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) mit der Erarbeitung einer Empfehlung beauftragt. Die Arbeit des IQWiG nimmt erfahrungsgemäß zwischen 18 und 25 Monaten in Anspruch. Hinzuzurechnen sind die durch die Verfahrensordnung des G-BA geregelten Verfahrensschritte beim G-BA, deren Dauer verfahrensabhängig ist.

Wir hoffen, Ihnen mit diesen Angaben gedient zu haben und stehen für Rückfragen gerne zur Verfügung."

Das Gericht hat medizinische Unterlagen eingeholt und dann mit Beweisanordnung vom 29.04.2015 Herrn Dr. med. Thomas H. vom MVZ Gefäßzentrum Z. zum ärztlichen Sachverständigen auf den Fachgebieten Phlebologie/Lymphologie ernannt und mit der Erstellung eines Gutachtens nach ambulanter Untersuchung der Klägerin beauftragt. Das ärztliche Gutachten vom 14.07.2015 hat im Wesentlichen folgenden Inhalt:

"Zusammenfassende Beurteilung:

Bei der Patientin zeigte sich ein Lipödem beider Ober- und Unterschenkel im Stadium II und beider Oberarme im Stadium I.

Bei negativem Stemmer-Zeichen lässt sich ein Lymphödem ausschließen.

Die Beschwerdesymptomatik der unteren Extremitäten ist mit Berührungsschmerz, schneller Hämatombildung, Gelenkbeschwerden, grobknotigen bindegewebigen Strukturen im Unterhautfettgewebe vordergründig einem Lipödem zuzuordnen.

Zusätzlich besteht eine Adipositas.

Nach Angaben der Patientin sind die genannten Beschwerden Ursache für ein depressives Verhalten, welches einer fachärztlichen Mitbehandlung bedarf.

Eine klinisch relevante arterielle oder venöse Durchblutungsstörung der unteren Extremitäten lässt sich ausschließen.

Beantwortung der Beweisfragen:

1. Unter welchen behandlungsbedürftigen Erkrankungen Ihres Fachgebietes leidet die Klägerin?

Lipödem beider Ober- und Unterschenkel im Stadium II, Lipödem beider Oberarme im Stadium I, Kniegelenkserkrankung links, Spondylose der Lendenwirbelsäule, Adipositas.

2. Wie sollten diese Krankheiten behandelt werden?

Zur Behandlung des Lipödems stehen mehrere Optionen zur Verfügung. Das Ziel der Therapie besteht einerseits in der Beschwerdebesserung bzw. -beseitigung, andererseits in der Reduktion des Fettgewebes mittels operativer Verfahren und Gewichtsreduktion.

Zur Ödemreduktion werden physikalische Maßnahmen eingesetzt.

Diese beinhalten:

&61485; manuelle Lymphdrainage. &61485; Kompression durch Kompressionsverbände bzw. -strümpfe. &61485; Bewegungstherapie und &61485; Hautpflege.

Kommt es durch diese Behandlungsformen zu einer ungenügenden Beschwerdereduktion, kann eine Liposuktion (Fettabsaugung) meist in Lokalanästhesie durchgeführt werden.

3. Halten Sie die beantragte Liposuktion für erforderlich, ggf. aus welchen Gründen?

Eine Reduktion des krankhaft vermehrten Fettgewebes ist durch eine konservative Behandlung, wie unter Punkt 2 zur Ausführung gekommen, nicht möglich. Durch die gegenwärtig zur Anwendung kommenden Instrumente der Liposuktion (Tumeszensanästhesie – keine Vollnarkose, stumpfe vibrierende Mikrokanülen – Vibrationsliposuktion –) erfolgt eine gewebeschonende Reduktion der Fettzellen ohne Schädigung von Blut- und Lymphgefäßen. In Kombination mit einer postoperativen komplexen physikalischen Entstauungstherapie (KPE) sowie Versorgung mit Kompressionsstrümpfen kommt es zur deutlichen Linderung der Beschwerden und Verbesserung der Lebensqualität der Patientin, die mit alleinigen physikalischen Therapieformen in gleicher Weise nicht zu erreichen sind.

Die Patientin leidet seit der Jugend an einem Lipödem mit Progredienz. Die typischen Beschwerden mit Hämatomneigung und Berührungsschmerz bestehen und haben an Bedeutung zugenommen.

Die bisherige Behandlung wurde jahrelang konservativ durch komplexe physikalische Entstauungstherapie mit Kompressionsstrumpfversorgung durchgeführt. Eine relevante Reduktion der Beschwerden war nicht zu verzeichnen.

Der Verlauf der Erkrankung, die ungenügende Reduktion der Beschwerden und die damit nicht besserbare Lebensqualität stellen Gründe für eine Liposuktion beider Oberschenkel in Zentren mit einer entsprechenden Expertise dar.

4. Für welche Fälle ist die Liposuktion eine anerkannte Behandlung?

Bei einem progredienten und fortgeschrittenen Stadium des Lipödems, wo unter einer reinen konservativen Therapie objektiv und subjektiv ungenügende Beschwerdereduktion erreicht wird."

Mit Schriftsatz vom 13.08.2015 verweist der Bevollmächtigte der Klägerin darauf, dass eine Liposuktion beider Oberschenkel durch das Sachverständigengutachten bestätigt werde.

Mit Schreiben vom 04.09.2015 verwies die Beklagte darauf, dass eine Kostenübernahme weiterhin abgelehnt werde, da eine Bewertung durch den GBA noch nicht vorliege.

Das Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung haben die Beklagte mit Schreiben vom 18.01.2016, der Bevollmächtigte der Klägerin mit Schreiben vom 19.01.2016 erklärt.

Der Bevollmächtigte der Klägerin beantragt sinngemäß (Klageschrift vom 19.08.2013 in Verbindung mit dem Schreiben vom 13.08.2015):

1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 01.11.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2013 verurteilt, die Kosten für die Liposuktion beider Oberschenkel der Klägerin zu übernehmen.

2. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Die Beklagte beantragt, letztmalig mit Schriftsatz vom 18.12.2015,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat die Akten der Beklagten beigezogen. Auf diese und die Prozessakten wird zur Ergänzung des Tatbestandes verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist form- und fristgerecht erhoben und insgesamt zulässig.

Die Klage ist auch begründet. Nach Ansicht des Gerichts liegt hier weiterhin ein Systemmangel vor.

Der Bevollmächtigte der Klägerin verweist für einen vergleichbaren Fall auf das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 01.03.2012, Az.: S 10 KR 189/10. Auch das Gericht möchte sich auf dieses – rechtskräftige – Urteil beziehen. Der anonymisierte Urteilstext wird daher im Folgenden wiedergegeben.

" I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 10.12.2009 und des Widerspruchsbescheides vom 06.05.2010 verurteilt, der Klägerin die Kosten für eine Liposuktion beider Oberschenkel zu erstatten.

II. Die Beklagte hat der Klägerin deren notwendig entstandene außergerichtliche Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Kostenerstattung für eine Liposuktion.

Die am 00.00.1978 geborene Klägerin beantragte am 09.11.2009 die Kostenübernahme für eine Liposuktion.

Der Medizinische Dienst der Krankenkasse (MDK) führte am 30.11.2009 eine Begutachtung der Klägerin durch. Im Gutachten vom 04.12.2009 diagnostizierte der MDK ein Lipödem beidseits im Stadium I. Objektivierbare Funktionsstörungen, die eine medizinische Indikation für eine Operation darstellen, lägen nicht vor. Es handele sich um keine Erkrankung im Sinne des SGB V. Empfohlen werde eine konservative Therapie (KPE, komplexe physikalische Entstauungstherapie) und die Weiterbehandlung in der phlebologischen ambulanten Praxis.

Dementsprechend lehnte die Beklagte mit streitigem Bescheid vom 10.12.2009 die beantragte Kostenübernahme ab.

Dagegen legte die Klägerin am 16.12.2009 Widerspruch mit der Begründung ein, der MDK habe sie nur oberflächlich untersucht. Zwar sei sie mit Kompressionsstrumpfhosen versorgt. Jedoch verursache der starke Druck dieser Kompressionsstrumpfhose Schmerzen in den Beinen.

Im Gutachten nach Aktenlage vom 15.02.2010 blieb der MDK bei seiner Einschätzung. Die Liposuktion sei ein Verfahren nach kosmetischer Chirurgie.

Mit Stellungnahme vom 23.02.2010 wies die Klägerin auf die medizinische Einschätzung vom 23.02.2010 von Herrn Dr. med. K., Facharzt für Chirurgie, hin. Danach werde die Kompression schwer toleriert. Unter Kompression nehme die Fettgewebsdicke sogar zu.

Im Vermerk vom 03.03.2010 stellte die Beklagte fest, dass die beantragte Methode der Liposuktion (Fettabsaugung) derzeit nicht Bestandteil der vertragsärztlichen Versorgung sei. Lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen könne für (noch) nicht anerkannte neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden ein Leistungsanspruch bestehen. Eine Möglichkeit sei, dass die von der Rechtsprechung festgelegten Voraussetzungen für die Annahme eines sogenannten Systemmangels erfüllt seien. Ein Systemmangel könne grundsätzlich nur durch ein Gericht festgestellt werden.

Auf Blatt 37 der Verwaltungsakte der Beklagten findet sich eine Patienteninformation zum Lipödem von Dr. med. S. und Dr. med. B., mit Stand 09.04.2010. Das Krankheitsbild Lipödem sei erst seit einigen Jahren als solches erkannt und definiert worden. Nach der medizinischen Definition sei es gekennzeichnet durch Vermehrung und ödematöse Veränderungen des Unterhautfettgewebes sowie Fettverteilungsstörungen vor allem an Ober- und Unterschenkeln. Auffallend sei weiterhin eine vermehrte Schmerzhaftigkeit und Berührungsempfindlichkeit sowie die Neigung zu Blutergüssen bei nur leichtem Anstoßen. Zu den Therapiemöglichkeiten wird dort darauf hingewiesen, dass eine Entstauungstherapie mit Lymphdrainagen und darauf folgendem Anlegen straffer Kompressionsverbände bzw. von Kompressionstrümpfen lange als einzige Therapieoption beim Lipödem galten. In den letzten 10 Jahren habe sich aber die Liposuktion (Absaugung des vermehrten Fettgewebes) als Therapie etabliert und gelte heutzutage als sichere und effektive Therapiealternative bei Beachtung der Voraussetzungen:

- Behandlung durch erfahrenen Liposuktions-Chirurgen

- Behandlung mit neuester, maximal gewebeschonender Operationstechnik

- Absaugung streng in Körperlängsachse

- immer symmetrische Behandlung der Extremitäten.

Dann könne das Krankheitsbild mit gutem Erfolg durch eine bzw. meist mehrere Liposuktionen behandelt werden. Nur für einen Zeitraum von mindestens 8 Wochen nach der Operation werde empfohlen, Kompressionsdressings zu tragen. Danach seien aber Kompressionsstrümpfe und -verbände nicht mehr nötig.

Die Beklagte folgte der Einschätzung des MDK und wies den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 06.05.2010 als unbegründet zurück. Die Beklagte ging auch im Widerspruchsbescheid davon aus, dass ein Lipödem Stadium I vorliege.

Dagegen hat die Klägerin über ihre Bevollmächtigte am 21.05.2010 Klage erhoben. Der Gesundheitszustand der Klägerin verschlechtere sich laufend. Die von der Beklagten empfohlene Therapie zeige damit keine Wirkung.

Unter dem gleichen Datum beantragte die Klägerin über ihre Bevollmächtigte die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes. Der weitere Schriftverkehr und die Ermittlungen des Gerichts wurden daher unter dem Az.: S 10 KR 186/10 ER geführt.

In seiner Einschätzung vom 28.06.2010 kommt Herr Dr. med. K., Facharzt für Chirurgie/Phlebologie, zu dem Ergebnis, dass das Lipödem bei der Klägerin fortschreite. Das Lipödem sei als Erkrankung einzustufen. Eine Heilung könne nur durch eine Liposuktion erreicht werden.

Der MDK führte am 22.09.2010 eine körperliche Begutachtung der Klägerin durch. Im Gutachten vom 29.09.2010 wird ausgeführt, dass drei verschiedene Stadien des Lipödems unterschieden werden:

- Stadium I: Orangenhaut, feinknotige Hautoberfläche

- Stadium II: Matratzenhaut, grobknotige Hautoberfläche mit größeren Dellen

- Stadium III: grobe deformierende Fettlappen.

Da die Ursache eines Lipödems unbekannt sei, gebe es zurzeit keine gesicherte Behandlung. Ziel der konservativen Behandlung sei die Ödembeseitigung. Als bewährter Standard der Lipödem-Therapie gelte die komplexe physikalische Entstauungstherapie (KPE). Hauptbestandteil dieses 2-Phasen-Therapiekonzeptes seien die manuelle Lymphdrainage und die Kompressionstherapie. Weitere vertragsärztliche alternative Behandlungsmethoden könnten nicht benannt werden. Es sei festzustellen, dass bei der Klägerin ein Übergang zwischen Typ I zu Typ II vorliegt.

Das Gericht hat medizinische Unterlagen eingeholt und dann Herrn Dr. med. H., einen der Leiter des MVZ Gefäßzentrums Z., zum Sachverständigen ernannt.

Herr Dr. H. hat die Klägerin am 06.09.2011 ambulant untersucht.

Im Gutachten vom 26.09.2011 stellt Dr. H. ein Lipödem beider Oberschenkel im Stadium II, ein Lipödem beider Oberarme im Stadium I fest. Im Unterhautfettgewebe zeigten sich bindegewebige Strukturen an beiden Oberschenkeln. Eine Reduktion des krankhaft vermehrten Fettgewebes sei durch eine Konservativbehandlung nicht möglich. Der Sachverständige empfahl eine Liposuktion beider Oberschenkel in Zentren mit einer entsprechenden Expertise.

Zum Gutachten von Dr. H. hat die Beklagte keine Stellungnahme abgegeben.

Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 13.12.2011 das Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt, die Bevollmächtigte der Klägerin mit Schreiben vom 11.01.2012.

Die Bevollmächtigte der Klägerin beantragt sinngemäß (Klageschrift vom 21.05.2010):

1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 10.12.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.05.2010 verurteilt, die Kosten für eine Liposuktion bei der Klägerin zu übernehmen.

2. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Der Vertreter der Beklagten beantragt,

die Klage abzuweisen (Schriftsatz vom 08.07.2010).

Das Gericht hat die Akten der Beklagten beigezogen. Auf diese sowie die Prozessakten zu den Verfahren S 10 KR 186/10 ER und S 10 KR 189/10 wird zur Ergänzung des Tatbestandes verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist form- und fristgerecht erhoben und insgesamt zulässig.

Die Klage ist auch begründet. Nach Ansicht des Gerichts liegt hier ein Systemmangel vor.

Die Krankenbehandlung als eine der Leistungen bei Krankheit ist in § 27 SGB V geregelt.

Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 5 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenhausbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.

Es ist nach Ansicht des Gerichts nicht streitig, dass es sich bei dem Lipödem der Klägerin um eine behandlungsbedürftige Krankheit handelt. Dementsprechend übernimmt die Beklagte auch die Kosten für eine konservative Therapie, die komplexe physikalische Entstauungstherapie.

Im Zeitverlauf ist jedoch ersichtlich, dass diese Behandlungsmethode die Erkrankung der Klägerin weder heilen noch eine Verschlimmerung verhüten kann. Der MDK hat in seinem Gutachten vom 04.12.2009 ein Lipödem im Stadium I festgestellt. Im Gutachten vom 29.09.2010 kommt der MDK bereits zu einer Einschätzung des Übergangs vom Stadium I zum Stadium II. Damals war nach Ansicht des MDK ein Bindegewebeumbau im Sinne einer Fibrosierung des Lipödems diagnostisch nicht belegt.

Der Sachverständige Dr. H. kommt im Gutachten vom 26.09.2011 zur Einschätzung, dass das Lipödem bei der Klägerin an den Oberschenkeln bereits das Stadium II erreicht hat. Überdies zeigten sich im Unterhautfettgewebe an beiden Oberschenkeln bindegewebige Strukturen.

Das Gericht ist damit davon überzeugt, dass die durch die Beklagte empfohlene und finanzierte Behandlung, nämlich die komplexe physikalische Entstauungstherapie, die Krankheit der Klägerin, nämlich das Lipödem, weder heilen noch dessen Verschlimmerung verhüten kann.

Im Gutachten vom 29.09.2010 kommt der MDK auch zu der allgemeinen Einschätzung, dass die Ursache des Lipödems unbekannt ist. Es gibt zurzeit danach keine gesicherte Behandlung eines Lipödems. Außerhalb der komplexen physikalischen Entstauungstherapie können alternative vertragsärztliche Behandlungsmethoden nicht benannt werden.

Das Gericht schließt daraus, dass im System der Behandlungsmöglichkeiten aus der vertragsärztlichen Versorgung wirksame Behandlungsalternativen für die Erkrankung der Klägerin nicht zur Verfügung stehen. Schon das ist nach Ansicht des Gerichts für sich gesehen ein Systemmangel.

Nach Hess (Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Rdnr. 7 zu § 135 SGB V) kann ein Systemmangel auch vorliegen, wenn die Einleitung oder die Durchführung eines Verfahrens zur Beurteilung einer neuen Untersuchungs- oder Behandlungsmethode verzögert wird und deswegen vom Versicherten eine neue Methode nicht in Anspruch genommen werden kann. Der Versicherte kann dann einen Anspruch auf Kostenerstattung gegen seine Krankenkasse haben.

Der MDK stellt in seinem Gutachten vom 29.09.2010 fest, dass es zur Behandlung eines Lipödems zurzeit keine gesicherte Behandlung gibt. Jedoch wird außerhalb der vertragsärztlichen Versorgung seit 10 Jahren zur Behandlung eines Lipödems die Liposuktion durchgeführt. Nach den Ausführungen von Dr. S. und Dr. B. in der Patienteninformation Lipödem, Stand 09.04.2010, ist die Liposuktion heutzutage als sichere und effektive Therapiealternative anzusehen, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Damit war der Gemeinsame Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen nach Ansicht des Gerichts verpflichtet, die Liposuktion als mögliche Behandlungsmethode für ein Lipödem zu prüfen. Dies umso mehr, als im System der vertragsärztlichen Versorgung es eine gesicherte Behandlung für ein Lipödem nicht gibt. Ein Verfahren zur Prüfung, ob die Liposuktion in das System der vertragsärztlichen Versorgung aufgenommen werden muss, hätte deswegen eingeleitet werden müssen.

Der vom Gericht beauftragte Sachverständige Dr. H. empfiehlt in seinem Gutachten vom 26.09.2011 die Liposuktion beider Oberschenkel.

Dementsprechend war der Klage wie tenoriert stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz."

Das vorstehende Urteil ist im Tatbestand mit dem vorliegenden Fall vergleichbar. Auch im vorliegenden Fall leidet die Klägerin unter einem Lipödem im Stadium II an beiden Oberschenkeln. Die bisher durchgeführten Therapien konnten nicht verhindern, dass das Lipödem bei der Klägerin fortschreitet und die typischen Beschwerden, wie Hämatomneigung und Berührungsschmerz, an Bedeutung zugenommen haben. Der gerichtlich bestellte Sachverständige kommt daher in seinem Gutachten vom 14.07.2015 nachvollziehbar und widerspruchsfrei zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin die Liposuktion beider Oberschenkel medizinisch notwendig ist. Dieser medizinischen Einschätzung schließt sich das Gericht an.

Zur Frage des Systemmangels verweist das Gericht auf die Entscheidungsgründe in seinem oben stehenden Urteil. Zwar ist mittlerweile ein Prüfverfahren bei dem GBA eingeleitet. Jedoch hat das Gericht in seinem vorstehenden Urteil schon den Umstand, dass ein Lipödem im System der vertragsärztlichen Versorgung nicht wirksam behandelt werden kann, ebenfalls als Systemmangel eingestuft. Dieser Systemmangel wird durch die Aufnahme des Prüfverfahrens bei dem GBA nicht beseitigt.

Der Klage war daher wie tenoriert stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Rechtskraft
Aus
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