L 4 KR 2836/16 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 5 KR 2405/16 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 KR 2836/16 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Karlsruhe vom 26. Juli 2016 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten.

Der Antragsteller ist am 1989 geboren und bei der Antragsgegnerin krankenversichert. Er ist Inhaber einer Erlaubnis nach § 3 Abs. 2 Betäubungsmittelgesetz (BtMG) zum Erwerb von Medizinal-Cannabisblüten.

Der Antragsteller beantragte am 29. Juni 2016 bei der Antragsgegnerin die Kostenübernahme für Medizinal-Cannabisblüten. Er leide an Schlafstörungen, Depressionen und Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) im Erwachsenenalter. Die bisherige konservative Therapie habe keinen Erfolg, weshalb er als austherapiert gelte. Auf Grund dessen sei ihm eine Ausnahmeerlaubnis zum Erwerb von Cannabis zur Anwendung im Rahmen einer medizinisch betreuten und begleiteten Selbsttherapie erteilt worden. Diese Selbsttherapie, welche von Dr. G. begleitet werde, sei die erste Therapie, die helfe, seine Symptome zu lindern. Er benötige täglich drei Gramm der Medizinal-Cannabisblüten. Eine Dose aus der Apotheke enthalte fünf Gramm und koste derzeit EUR 65,00. Die Kosten beliefen sich somit monatlich (bei 30 Tagen) auf EUR 1.170,00 und am Tag auf EUR 39,00. Er könne diese Kosten nicht aufbringen, so dass sein gesundheitlicher Zustand und sein Recht auf körperliche Unversehrtheit gefährdet sei.

Die Antragsgegnerin teilte dem Antragsteller mit Schreiben vom 4. Juli 2016 mit, dass ein Gutachten eingeholt werde.

Im Auftrag der Antragsgegnerin äußerte sich Dr. P. von Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) in seinem sozialmedizinischen Gutachten vom 5. Juli 2016. Es lägen keine ärztlichen Unterlagen vor, so dass eine differenzierte Stellungnahme nicht möglich sei. Verwiesen werden könne auf fachärztlich-psychiatrische Diagnostik und Therapie, zur Behandlung von Depressionen und ADHS existierten zugelassene medikamentöse Alternativen. Die Bundesärztekammer habe sich ausdrücklich gegen eine medizinische Verwendung von Cannabisblüten als Arzneimittel ausgesprochen. Zusammenfassend könne eine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung nicht bestätigt werden.

Die Antragsgegnerin lehnte den Antrag auf Kostenübernahme mit Bescheid vom 14. Juli 2016 ab. Cannabisblüten seien in Deutschland nicht als Arzneimittel zugelassen. Der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) entscheide über die Zulassung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zur kassenärztlichen Versorgung. Die Behandlung mittels radiofrequenzinduzierter Thermotherapie bei Nasenmuschelverkleinerung sei vom Gemeinsamen Bundesausschuss noch nicht geprüft worden und deshalb noch keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung. Die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Beschluss vom 6. Dezember 2005 (1 BvR 347/98 – juris) genannten Kriterien seien nicht erfüllt.

Hiergegen erhob der Antragsteller am 20. Juli 2016 per E-Mail Widerspruch. Die Behandlung sowie Kostenübernahme mittels radiofrequenzinduzierter Thermotherapie bei Nasenmuschelverkleinerung interessiere ihn nicht und habe auch überhaupt nichts mit seiner gesundheitlichen Situation und seinem Antrag auf Kostenübernahme von Medizinal-Cannabisblüten zu tun habe. Er verwies auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2015 (1 BvR 347/98 – juris). Er erfülle die dort genannten Voraussetzungen.

Der Widerspruchsausschuss der Antragsgegnerin wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 4. August 2016 zurück.

Am 19. Juli 2016 ersuchte der Antragsteller um einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) nach. Er könne die Kosten für die Medizinal-Cannabisblüten nicht selbst tragen, da er seinen Lebensunterhalt von Arbeitslosengeld II bestreiten müsse. Ohne Medizinal-Cannabisblüten träten bei ihm erhebliche gesundheitliche Probleme auf und er sei auch nicht mehr arbeitsfähig.

Die Antragsgegnerin trat dem Antrag unter Wiederholung der Begründung des Widerspruchsbescheids entgegen. Es liege kein Anordnungsanspruch vor. Eine Kostenerstattung komme schon deshalb nicht in Betracht, da der sogenannte Beschaffungsweg nicht eingehalten worden sei, denn der Antragsteller habe die Therapie bereits lange vor seinem Antrag begonnen. Damit bestehe kein kausaler Zusammenhang zwischen einer rechtswidrigen Leistungsablehnung und selbst beschaffter Leistung. Zudem sei für zulassungsfreie Rezepturarzneimittel wie die vom Antragsteller beantragten Medizinal-Cannabisblüten das in § 135 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) festgelegte Verbot mit Erlaubnisvorbehalt zu beachten. Eine befürwortenden Entscheidung durch den GBA liege nicht vor. Auch die Ausnahmen eines Seltenheitsfalles oder eines Systemversagens seien nicht gegeben. Schließlich seien die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1a Satz 1 SGB V nicht erfüllt. Eine Kostenübernahme für die Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten sei zudem ausgeschlossen, da die Behandlung im Rahmen einer privatärztlichen Behandlung durchgeführt werden solle. Zudem seien für den Antragsteller im Jahr 2016 keine vertragsärztlichen Verordnungen über Arzneimittel abgerechnet worden. Eine psychotherapeutische Behandlung sei 2010 genehmigt worden, die vermutlich schon lange abgeschlossen sei. Demnach sei davon auszugehen, dass der Antragsteller sich weder in vertragsärztlicher Behandlung befinde noch eine vertragskonforme medikamentöse Behandlung durchgeführt werde. Auch ein Anordnungsgrund sei nicht gegeben. Eine besondere Eilbedürftigkeit für die Zeit ab Antragstellung des Eilantrages sei nicht glaubhaft gemacht.

Das SG lehnte den Antrag des Antragstellers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom 26. Juli 2016 ab. Der Antragsteller habe nach summarischer Prüfung keinen Anspruch auf Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten. Er erscheine bereits fraglich, ob Medizinal-Cannabisblüten überhaupt als Arzneimittel im Sinne des § 2 Arzneimittelgesetz (AMG) zu verstehen seien. Nehme man dies zu Gunsten des Antragstellers an, sei allerdings von einem Rezepturarzneimittel auszugehen, das ein Versicherter nur nach Maßgabe des § 135 SGB V beanspruchen könne. Bei der Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten handele es sich um eine neue Behandlungsmethode, die vom GBA bisher nicht zugelassen sei. Eine Anerkennung sei auch nicht entbehrlich, denn es liege kein sogenannter Seltenheitsfall vor. Die fehlende Anerkennung der streitigen Methode durch den GBA beruhe auch nicht auf einem sogenannten Systemversagen. Schließlich könne der Antragsteller seinen Anspruch auch nicht auf § 2 Abs. 1a Satz 1 SGB V stützen. Schlafstörungen, Depressionen und ADHS im Erwachsenenalter stellten keine lebensbedrohliche, regelmäßig tödliche oder wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung dar.

Gegen diesen Beschluss erhob der Antragsteller am 27. Juli 2016 zur Niederschrift bei SG Beschwerde. Er sei auf Medizinal-Cannabisblüten dringend angewiesen.

Der Antragsteller beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Karlsruhe vom 26. Juli 2016 aufzuheben und die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Kosten für Medizinal-Cannabisblüten zu übernehmen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Die Antragsgegnerin verweist auf ihr erstinstanzliches Vorbringen und den Widerspruchsbescheid.

Zu den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie auf die beigezogene Akte der Antragsgegnerin Bezug genommen.

II.

A. Die Beschwerde des Antragstellers ist zulässig. Der Antragsteller hat die Beschwerde form- und fristgerecht (§ 173 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) eingelegt. Die Beschwerde ist nicht nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG ausgeschlossen. Denn eine Berufung in der Hauptsache bedürfte wegen § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG nicht der Zulassung, da ein Klage eine Geld- bzw. Sachleistung betreffen würde, deren Wert EUR 750,00 übersteigt.

B. Die Beschwerde des Antragstellers ist nicht begründet. Das SG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht abgelehnt.

1. Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist Voraussetzung, dass ein dem Antragsteller zustehendes Recht oder rechtlich geschütztes Interesse vorliegen muss (Anordnungsanspruch), das ohne Gewährung des vorläufigen Rechtsschutzes vereitelt oder wesentlich erschwert würde, so dass dem Antragsteller schwere, unzumutbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Anordnungsgrund). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund müssen glaubhaft gemacht sein (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]). Glaubhaftmachung liegt vor, wenn das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrunds überwiegend wahrscheinlich sind. Dabei dürfen sich die Gerichte bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren (BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 13. April 2010 – 1 BvR 216/07 – juris, Rn. 64; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 6. August 2014 – 1 BvR 1453/12 – juris, Rn. 9).

Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen nicht isoliert nebeneinander; es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung der Art, dass die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt (vgl. Landessozialgericht [LSG] Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15. November 2013 – L 15 AS 365/13 B ER – juris, Rn. 18; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Januar 2007 – L 7 SO 5672/06 ER-B – juris, Rn. 2). Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15. November 2013 – L 15 AS 365/13 B ER – juris, Rn. 18; Hessisches LSG, Beschluss vom 5. Februar 2007 – L 9 AS 254/06 ER – juris, Rn. 4). Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15. November 2013 – L 15 AS 365/13 B ER – juris, Rn. 18; Hessisches LSG, Beschluss vom 5. Februar 2007 – L 9 AS 254/06 ER – juris, Rn. 4).

2. Es kann dahinstehen, ob ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht worden ist. Denn jedenfalls liegt kein Anordnungsanspruch vor. Der Antragsteller hat – unabhängig davon, ob der Bescheid vom 14. Juli 2016 inzwischen bestandskräftig geworden ist – keinen Anspruch gegen die Antragsgegnerin auf Übernahme bzw. Erstattung der Kosten für selbstbeschaffte Medizinal-Cannabisblüten.

a) Da der Antragsteller nicht nach § 13 Abs. 2 SGB V anstelle der Sach- oder Dienstleistungen Kostenerstattung gewählt hat, kommt, soweit er die Erstattung von ihm aufgewendeter Kosten für die Beschaffung von Medizinal-Cannabisblüten begehrt, als Anspruchsgrundlage nur § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V in Betracht. Die Regelung bestimmt: Konnte die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbst beschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Der Anspruch aus § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V reicht nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch des Versicherten gegen seine Krankenkasse. Er setzt daher im Regelfall voraus, dass die selbst beschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung (§ 2 Abs. 2 Satz 1 SGB V) zu erbringen haben (ständige Rechtsprechung des BSG; vgl. z.B. BSG, Urteil vom 14. Dezember 2006 – B 1 KR 8/06 R – juris, Rn. 9; BSG, Urteil vom 26. September 2006 – B 1 KR 3/06 R – juris, Rn. 13, Urteil vom 7. Mai 2013 – B 1 KR 8/12 R – juris, Rn. 8).

Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V u.a. die Versorgung mit Arzneimitteln. Nach § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach § 34 SGB V oder durch Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V ausgeschlossen sind. Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB V erhalten die Versicherten die Leistungen als Sach- und Dienstleistungen. Der Anspruch eines Versicherten auf Behandlung unterliegt nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB V den sich aus § 2 Abs. 1 und § 12 Abs. 1 SGB V ergebenden Einschränkungen. Nach diesen Vorschriften müssen die Leistungen der Krankenkassen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein und sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (§ 12 Abs. 1 SGB V). Außerdem müssen Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen (§ 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V).

Für zulassungsfreie Rezepturarzneimittel wie die vom Antragsteller begehrten Medizinal-Cannabisblüten ist das in § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V festgelegte Verbot mit Erlaubnisvorbehalt zu beachten. Nach Nr. 1 dieser Vorschrift dürfen neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen und vertragszahnärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden, wenn der GBA auf Antrag eines Unparteiischen nach § 91 Abs. 2 Satz 1 SGB V, einer Kassenärztlichen Bundesvereinigung, einer Kassenärztlichen Vereinigung oder des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SGB V Empfehlungen abgegeben hat über die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode sowie deren medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit – auch im Vergleich zu bereits zu Lasten der Krankenkassen erbrachten Methoden – nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der jeweiligen Therapierichtung. Die Verordnung als Rezepturarzneimittel ist wie der Einzelimport nach § 73 Abs. 3 AMG – unter Beachtung des BtMG zwar betäubungsmittelrechtlich zulässig. Neuartige Therapien mit einem Rezepturarzneimittel, die vom GBA nicht empfohlen sind, dürfen die Krankenkassen jedoch grundsätzlich nicht gewähren, weil sie an das Verbot des § 135 Abs.1 Satz 1 SGB V und die das Verbot konkretisierenden Richtlinien des GBA gebunden sind (ständige Rechtsprechung, vgl. BSG, Urteil vom 27. März 2007 - B 1 KR 30/06 R – juris, Rn. 12; Urteil des Senats vom 15. April 2011 – L 4 KR 4903/10 – juris, Rn. 23; Urteil des Senats vom 27. Februar 2015 – L 4 KR 3786/13 – juris, Rn. 37).

b) Von diesen rechtlichen Vorgaben ausgehend hat der Antragsteller keinen Anspruch auf Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten durch die Antragsgegnerin und damit auch keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten, die ihm in der Vergangenheit für die Anschaffung von Medizinal-Cannabisblüten entstanden sind oder in Zukunft entstehen.

(1) Die Antragsgegnerin ist nicht verpflichtet, dem Antragsteller Medizinal-Cannabisblüten in Form eines Rezepturarzneimittels als Sachleistung zur Verfügung zu stellen. Denn insoweit fehlt es an der nach § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V erforderlichen befürwortenden Entscheidung des GBA (Urteil des Senats vom 27. Februar 2015 – L 4 KR 3786/13 – juris, Rn. 40), ohne die – wie ebenfalls bereits ausgeführt – neue Behandlungsmethoden von den gesetzlichen Krankenkassen nicht gewährt werden können.

Auf die Empfehlung des GBA kann auch nicht deshalb verzichtet werden, weil der behandelnde Arzt des Antragstellers, Dr. G., die Behandlung befürwortet. Dies allein vermag die Empfehlung des GBA nicht zu ersetzen. Auch aus dem Umstand, dass der Antragsteller über eine Ausnahmeerlaubnis nach § 3 Abs. 2 BtMG verfügt, wodurch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte bestätigt hat, dass die medizinische Versorgung mit Cannabis im Einzelfall erforderlich ist, folgt nichts anderes. Diese Ausnahmeerlaubnis ersetzt nicht die vom GBA nach § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V zu treffende Empfehlung, welche Voraussetzungen für eine Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung ist (Urteil des Senats vom 27. Februar 2015 – L 4 KR 3786/13 – juris, Rn. 41).

(2) Der Antragsteller hat auch nicht deshalb einen Anspruch darauf, dass die Antragsgegnerin ihm Medizinal-Cannabisblüten als Sachleistung zur Verfügung stellt, weil ein Ausnahmefall des sogenannten Seltenheitsfalls oder des sogenannten Systemversagens vorliegt. Der sogenannte Seltenheitsfall ist gegeben bei einer Krankheit, die weltweit nur extrem selten auftritt und die deshalb im nationalen wie im internationalen Rahmen weder systematisch erforscht noch systematisch behandelt werden kann (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 8. September 2009 – B 1 KR 1/09 R – juris, Rn. 20; BSG, Urteil vom 19. Oktober 2004 – B 1 KR 27/02 R – juris, Rn. 29).

Ein Systemversagen ist zu bejahen, wenn die fehlende Anerkennung einer neuen Untersuchungs- oder Behandlungsmethode darauf zurückzuführen ist, dass das Verfahren vor dem GBA trotz Erfüllung der für eine Überprüfung notwendigen formalen und inhaltlichen Voraussetzungen nicht oder nicht zeitgerecht durchgeführt wurde. In solchen Fällen ist die in § 135 Abs. 1 SGB V vorausgesetzte Aktualisierung der Richtlinien rechtswidrig unterblieben. Deshalb muss dann die Möglichkeit bestehen, das Anwendungsverbot erforderlichenfalls auf andere Weise zu überwinden (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 7. Mai 2013 – B 1 KR 44/12 R – juris, Rn. 17; BSG, Urteil vom 27. März 2007 – B 1 KR 30/06 R – juris, Rn. 13).

Hier liegen beide Ausnahmefälle nicht vor. Die vom Antragsteller geltend gemachten Erkrankungen – Schlafstörungen, Depressionen und ADHS – sind weltweit nicht so selten, dass sie weder systematisch erforscht noch systematisch behandelt werden könnten. Dass seine Erkrankungen nach seiner Darstellungen nicht mit den zugelassenen Arzneimitteln erfolgreich behandelt werden könnten, ändert daran nichts. Denn insoweit ist nicht auf den Therapieerfolg im konkreten Einzelfall abzustellen, sondern auf die Erforschung des Krankheitsbildes als solches.

Anhaltspunkte dafür schließlich, dass sich die antragsberechtigten Stellen (Kassenärztliche Bundesvereinigung, Kassenärztliche Vereinigung oder Spitzenverband der Krankenkassen) oder der GBA aus sachfremden oder willkürlichen Erwägungen mit der Materie nicht oder zögerlich befasst haben, sind nicht ersichtlich.

(3) Ein Leistungsanspruch des Antragstellers folgt auch nicht aus dem mit Art. 1 Nr. 1 Gesetz zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der Gesetzlichen Krankenversicherung vom 22. Dezember 2011 (BGBl I S. 2983) eingefügten § 2 Abs. 1a SGB V, mit dem der Gesetzgeber die Rechtsprechung des BVerfG (Beschluss vom 6. Dezember 2005 – 1 BvR 347/98 – juris, Rn. 48 ff.) und die diese Rechtsprechung konkretisierenden Urteile des BSG (z.B. Urteil vom 4. April 2006 – B 1 KR 12/04 R – juris, Rn. 28 ff.; Urteil vom 4. April 2006 – B 1 KR 7/05 R – juris, Rn. 18 ff.) umgesetzt hat. Nach § 2 Abs. 1a Satz 1 SGB V können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine von § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.

Eine für die Bejahung des Leistungsanspruchs unter diesem Gesichtspunkt erforderliche notstandsähnliche Situation liegt nur dann vor, wenn ohne die streitige Behandlung sich ein tödlicher Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird oder ein nicht kompensierbarer Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion akut droht (vgl. z.B. BVerfG, Nichtannahmebeschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 26. März 2014 – 1 BvR 2415/13 – juris, Rn. 14; BSG, Urteil vom 17. Dezember 2013 – B 1 KR 70/12 R – juris, Rn. 29). Anknüpfungspunkt ist das Vorliegen einer durch nahe Lebensgefahr gekennzeichneten individuellen Notlage (BVerfG, Beschluss vom 10. November 2015 – 1 BvR 2056/12 – juris, Rn. 18). Das BSG hat insoweit weiter ausgeführt, dass mit den genannten Krankheitskriterien des BVerfG eine strengere Voraussetzung umschrieben wird, als sie mit dem Erfordernis einer "schwerwiegenden" Erkrankung für die Eröffnung des "Off-Label-Use" formuliert ist. Denn hieran knüpfen weitergehende Folgen. Ohne einschränkende Auslegung ließen sich fast beliebig vom Gesetzgeber bewusst gezogene Grenzen überschreiten. Entscheidend ist, dass das vom BVerfG herangezogene Kriterium bei weiter Auslegung sinnentleert würde, weil nahezu jede schwere Krankheit ohne therapeutische Einwirkung irgendwann auch einmal lebensbedrohende Konsequenzen nach sich zieht. Das kann aber ersichtlich nicht ausreichen, das Leistungsrecht des SGB V und die dazu ergangenen untergesetzlichen Regelungen nicht mehr als maßgebenden rechtlichen Maßstab für die Leistungsansprüche der Versicherten anzusehen (vgl. BSG, Urteil vom 26. September 2006 – B 1 KR 3/06 R – juris, Rn. 34).

Bereits die Anforderungen an das Bestehen einer "schwerwiegenden" Erkrankung für einen "Off-Label-Use" sind hoch. Nicht jede Art von Erkrankung kann den Anspruch auf eine Behandlung mit dazu nicht zugelassenen Arzneimitteln begründen, sondern nur eine solche, die sich durch ihre Schwere oder Seltenheit vom Durchschnitt der Erkrankungen abhebt. Auch ein "Off-Label-Use" bedeutet nämlich, Arzneimittel für bestimmte Indikationen ohne die arzneimittelrechtlich vorgesehene Kontrolle der Sicherheit und Qualität einzusetzen, die in erster Linie Patienten vor inakzeptablen unkalkulierbaren Risiken für die Gesundheit schützen soll. Ausnahmen können schon insoweit nur in engen Grenzen aufgrund einer Güterabwägung anerkannt werden, die der Gefahr einer krankenversicherungsrechtlichen Umgehung arzneimittelrechtlicher Zulassungserfordernisse entgegenwirkt, die Anforderungen des Rechts der gesetzlichen Krankenkassen an Qualität und Wirksamkeit der Arzneimittel (§ 2 Abs. 1 und § 12 Abs. 1 SGB V) beachtet und den Funktionsdefiziten des Arzneimittelrechts in Fällen eines unabweisbaren, anders nicht zu befriedigenden Bedarfs Rechnung trägt (so zum Ganzen BSG, Urteil vom 14. Dezember 2006 – B 1 KR 12/06 R – juris, Rn. 18; BSG, Urteil vom 27. März 2007 – B 1 KR 17/06 R – juris, Rn. 21, mit zahlreichen Nachweisen; die Verfassungsbeschwerde gegen das letztere Urteil hat das BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen: Nichtannahmebeschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 30. Juni 2008 – 1 BvR 1665/07 – juris, Rn. 6 ff.). Verneint hat das BSG die qualifizierten Erfordernisse einer lebensbedrohlichen Krankheit im Sinne des Beschlusses des BVerfG vom 6. Dezember 2005 (a.a.O.) z.B. bei einem Prostata-Karzinom im Anfangsstadium (Urteil vom 4. April 2006 – B 1 KR 12/05 R – juris, Rn. 36), bei einer in 20 bis 30 Jahren drohenden Erblindung (Beschluss vom 26. September 2006 – B 1 KR 16/06 B – nicht veröffentlicht) sowie bei einer langsam progredient verlaufenden Friedreichschen Ataxie mit über Jahre hinweg möglichen stabilen Symptomen (Urteil vom 14. Dezember 2006 – B 1 KR 12/06 R – juris, Rn. 21). Gerechtfertigt ist eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen nur, wenn eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik vorliegt, wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist (BVerfG, Beschluss vom 10. November 2015 – 1 BvR 2056/12 – juris, Rn. 18). Das bedeutet, dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird. Ähnliches kann für den gegebenenfalls gleichzustellenden, akut drohenden und nicht kompensierbaren Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion gelten (vgl. BSG, Urteil vom 27. März 2007 – B 1 KR 17/06 R – juris, Rn. 23).

Eine solche notstandsähnliche Situation ist im vorliegenden Fall des Antragstellers nicht gegeben. Schlafstörungen, Depressionen und ADHS stellen keine akut lebensbedrohliche Erkrankung dar. Diese Erkrankungen sind auch einer lebensbedrohlichen Erkrankung nicht gleichzustellen.

(4) Nur ergänzend weist der Senat darauf hin, dass der Antragsteller auch die Versorgung mit einem ein ausschließlich Medizinal-Cannabisblüten enthaltenden Fertigarzneimittel von der Antragsgegnerin nicht beanspruchen kann, da kein solches Fertigarzneimittel existiert, das über die nach dem deutschen Arzneimittelrecht notwendige Zulassung verfügt und zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen gehört (dazu noch näher Urteil des Senats vom 27. Februar 2015 – L 4 KR 3786/13 – juris, Rn. 36, 39). Zwar ist das Cannabis enthaltende Fertigarzneimittel Sativex zugelassen. Jedoch ist die Zulassung beschränkt auf die Zusatzbehandlung für eine Verbesserung von Symptomen bei Patienten mit mittelschwerer bis schwerer Spastik, hervorgerufen durch eine Erkrankung des Nervensystems (Multiple Sklerose), die nicht angemessen auf eine andere anti-spastische Arzneimitteltherapie angesprochen haben und die eine klinisch erhebliche Verbesserung von mit der Spastik verbundenen Symptomen während eines Anfangstherapieversuchs aufzeigen (Urteil des Senats vom 27. Februar 2015 – L 4 KR 3786/13 – juris, Rn. 39). Für die Behandlung der vom Antragsteller angegebenen Schlafstörungen, Depressionen und ADHS ist es hingegen nicht zugelassen. Im Übrigen handelt es sich bei Sativex zwar um ein Fertigarzneimittel, das Cannabis enthält, jedoch nicht um die vom Antragsteller begehrten (naturbelassenen) Medizinal-Cannabisblüten. Eine Versorgung mit Sativex begehrt der Antragsteller auch nicht.

(5) Aus neueren gerichtlichen Entscheidungen ergibt sich nichts anderes. Jüngere verwaltungsgerichtliche Entscheidungen betreffen die betäubungsmittelrechtliche Frage des Erwerbs von Cannabis (Bundesverwaltungsgericht [BVerwG], Urteil vom 19. Mai 2005 – 3 C 17/04 – juris, Rn. 12 ff.) bzw. dessen Eigenanbau (OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 11. Juni 2014 – 13 A 414/11 – juris, Rn. 42 ff.; nachgehend BVerwG, Urteil vom 6. April 2016 – 3 C 10/14 – juris, Rn. 11 ff.). Wechselwirkungen mit dem Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung bestehen insoweit nicht. Gleiches gilt für die im Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Karlsruhe vom 24. Juni 2004 (3 Ss 187/03NJW 2004, 3645 ff.) behandelte strafrechtliche Frage des Besitzes von Cannabisprodukten und für den einen strafprozessualen Kontext betreffenden Beschluss des BVerfG vom 11. Februar 2015 (2 BvR 1694/14 – juris, Rn. 20 ff.). Der Beschluss des LSG Niedersachen-Bremen vom 22. September 2015 betrifft zwar das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenkasse, beruht aber ausdrücklich auf einer bloßen Folgenabwägung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren (L 4 KR 276/15 B ER – juris, Rn. 29) und damit gerade nicht auf der materiellen Rechtslage. Das Gleiche gilt für den vom Antragsteller vorgelegten Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 1. Juni 2016 (S 8 KR 338/16 ER).

D. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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