L 6 SB 1538/15

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 5 SB 924/14
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 1538/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 13. März 2015 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche K.en sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Zuerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 40.

Die Klägerin ist 1962 geboren und im Inland ansässig. Sie ist gelernte Krankenschwester und war zuletzt in diesem Beruf im Nachtdienst in Vollzeit tätig. Sie wohnt mit ihrem ebenfalls berufstätigen Ehemann zusammen. Die Kinder leben außer Haus. Am 18. September 2012 wurde im St.-J.-Kranken¬haus Viernheim wegen einer "frozen shoulder", eines Impingement-Syndroms und einer Slap-Lä¬sion mit Bizepssehnentendinitis eine Arthroskopie der rechten Schulter mit sub-akromialer Dekom¬pression durchgeführt. Danach war die Klägerin längere Zeit arbeitsunfähig.

Am 31. Oktober 2012 beantragte die Klägerin Erstfeststellung eines GdB. Sie leide an Schwerhörigkeit, den Folgen der Schultererkrankung und der genannten Operation, ferner an einer Lumboischialgie, einer Arthritis und einer Anämie. Der Beklagte zog Befundberichte der behandelnden Ärzte bei, darunter das Ton- und Sprach-Audiogramm der HNO-Ärztin K.-K. vom 12. September 2012 (mittelgradige Innenohrschwerhörigkeit im Tief-, Mittel- und Hochtonbereich). Der versorgungsärztliche Dienst des Beklagten schlug nach einer Auswertung eine Schwerhörigkeit beidseits mit einem Teil-GdB von 30 und eine Funktionsbehinderung des rechten Schultergelenks (Teil-GdB 10) sowie einen Gesamt-GdB von 30 zur Anerkennung vor. Den entsprechenden Bescheid erließ der Beklagte unter dem 19. Februar 2013.

Im Widerspruchsverfahren holte der Beklagte weitere ärztliche Unterlagen ein. Der behandelnde Orthopäde Dr. N. vom St.-J.-Krankenhaus teilte die aktuellen Bewegungsmaße der rechten Schulter mit. Der Neurologe und Psychiater Dr. E. übersandte einen Befundschein mit den Diagnosen "Dysthymie, reaktiv-depressive Verstimmung". Nachdem der Beklagte nach einer erneuten versorgungsärztlichen Auswertung mitgeteilt hatte, der anerkannte GdB erscheine weiterhin angemessen, trug die Klägerin vor, es bestehe auch an der linken Schulter ein Impingement-Syndrom, das operiert werden müsse. Diese Operation fand am 13. Januar 2014 erneut bei Dr. N. im St.-J.-Krankenhaus statt. Der Beklagte zog den OP- und den Entlassungsbericht bei. Sein versorgungsärztlicher Dienst schlug vor, den Tenor des Bescheids auf "Funktionsbehinderung beider Schultergelenke" zu ändern, aber den GdB zu belassen. Daraufhin erging der zurückweisende Widerspruchsbescheid vom 18. Februar 2014.

Die Klägerin hat am 21. März 2014 Klage beim Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben. Sie hat vorgetragen, die Einschränkungen durch die Schulterschädigungen sowie durch das Wirbelsäulenleiden seien nicht ausreichend berücksichtigt worden.

Das SG hat die behandelnden Ärzte der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen vernommen. Dr. E. hat mitgeteilt, bei insgesamt vier Vorstellungen der Klägerin zwischen Februar 2013 und April 2014 habe er eine Dysthymie sowie reaktiv-depressive Verstimmungen diagnostiziert und diese mit Syneudon 50 mg (Wirkstoff Amitriptylin) 0,5-0,5-1 und stützenden Gesprächen behandelt. Auf psychiatrischem Gebiet betrage der GdB 20, weswegen der Gesamt-GdB auf 50 zu erhöhen sei. Dr. N. hat die Diagnosen beider Schultergelenke angegeben und mitgeteilt, nach den beiden Schulteroperationen beständen noch eine Einschränkung der Abduktion auf 90° rechts und endgradige Bewegungseinschränkungen links, bei weiterer nachoperativer Behandlung seien ein nahezu vollständiges Bewegungsausmaß und eine gute Kraftentwicklung zu erwarten, nur Arbeiten über Kopf und mit großer Kraftanstrengung seien weiterhin eingeschränkt. Internist Schwarz hat bekundet, die Klägerin leide auch unter Eisenmangelanämie, woraus sich aber kein pathologischer Befund ergebe, zuletzt sei auch das Blutbild ohne Befund gewesen.

Die Klägerin hat den Entlassungsbericht des Reha-Zentrums Bad Steben, Dr. G., vom 24. Juni 2014 über eine vierwöchige stationäre Rehabilitation im Frühjahr 2014 zur Akte gereicht. Darin sind als Diagnosen chronisch rezidivierende Zervikal- und Lumbalsyndrome, das Impingement-Syndrom beider Schultern und eine Coxalgie rechts genannt. Die Bewegungsmaße aller betroffenen Gelenke werden mitgeteilt. Als Medikation werden lediglich Ibuprofen 400 (1-0-0), ein Magenschoner und ein Eisenmedikament genannt. Die Beschwerden an der Hüfte müssten weiter abgeklärt werden. Die Klägerin sei sowohl auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt als auch in ihrem bisherigen Beruf vollschichtig leistungsfähig. Sie wurde regulär arbeitsfähig entlassen.

Die Klägerin hat sodann den Bescheid der Deutschen Rentenversicherung Bund vom 16. Juli 2014 zur Akte gereicht, in dem ihr dem Grunde nach Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bewilligt worden sind. Sie hat hierzu mitgeteilt, sie könne und wolle nicht mehr als Krankenschwester arbeiten und sich daher umschulen lassen.

Der Beklagte hat eine versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. G. vorgelegt. Danach sei keine psychische Beeinträchtigung zu erkennen, nachdem der Entlassungsbericht aus Bad Steben einen unauffälligen psychischen Befund beschreibe und keine antidepressive Medikation stattfinde. Die dort festgestellten Bewegungsmaße für die Schultern führten zu einem GdB von höchstens 10. Nach den Mitteilungen über die Beeinträchtigungen an der Wirbelsäule sei für eine Funktionsbehinderung an der Wirbelsäule ein weiterer Teil-GdB von 10 anzunehmen, der den Gesamt-GdB aber nicht erhöhe.

Mit angekündigtem Gerichtsbescheid vom 13. März 2015 hat das SG die Klage abgewiesen. Ein höherer GdB als 30 liege nicht vor. Zur Begründung hat das SG auf die Aussagen der sachverständigen Zeugen und den Entlassungsbericht aus Bad Steben verwiesen. Hinsichtlich der Hüfte seien weitere Ermittlungen wegen der Diagnose nicht notwendig, nachdem der Entlassungsbericht alle relevanten Einschränkungen, vor allem in der Beweglichkeit, angegeben habe, die jedoch allenfalls einen GdB von 10 bedingten.

Gegen diesen Gerichtsbescheid, der ihren Prozessbevollmächtigten am 19. März 2015 zugestellt worden ist, hat die Klägerin am 19. April 2015 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg erhoben. Sie trägt vor, die Funktionseinschränkungen an den Schultergelenken und an der Wirbelsäule seien erheblicher als angenommen, weswegen ein Sachverständigengutachten zu erheben sei. Ihre chronischen Schmerzen in beiden Hüftgelenken seien weiterhin nicht abgeklärt, insoweit sei eine fachärztliche Stellungnahme einzuholen. Die Einschätzung von Dr. E., der psychische Befund rechtfertige einen Teil-GdB von 20, habe das SG ohne ausreichende Begründung verworfen.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 13. März 2015 aufzuheben, den Bescheid des Beklagten vom 19. Februar 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18. Februar 2014 abzuändern und den Beklagten zu verpflichten, bei ihr einen Grad der Behinderung von mindestens 40 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Auf Antrag und Kostenrisiko der Klägerin hat der Senat bei dem Chefarzt der Unfallchirurgischen Abteilung des T.-Krankenhauses Mannheim Prof. Dr. Z. das Gutachten vom 14. Dezember 2015 erhoben. Der Sachverständige hat unter anderem mitgeteilt, dass die Klägerin nunmehr - vollschichtig - in einem Pflegeheim arbeite. Bei ihr beständen rezidivierende und chronische Schmerzen der Halswirbelsäule, eine Belastungsminderung und eine Bewegungseinschränkung beider Schultergelenke und Schmerzen am rechten Hüftgelenk. Fachfremd sei auf die Schwerhörigkeit hinzuweisen. Die Restbeweglichkeiten lägen an der Halswirbelsäule im unteren Normbereich, es beständen hier keine Instabilitäten, sondern lediglich altersentsprechende oder etwas altersvorauseilende degenerative Schädigungen. Die Beweglichkeit der Schultergelenke liege auch aktiv noch im Normbereich, jedoch finde sich bei der Abduktion und der Elevation über 90° hinaus eine Schwäche, diesen Bereich erreiche die Klägerin langsam und mit etwas Mühe. Das rechte Hüftgelenk sei ebenfalls nahezu frei und seitengleich gegenüber links beweglich, auch radiologisch finde sich hier kein Hinweis auf eine fortgeschrittene degenerative Schädigung. Prof. Dr. Z. hat vorgeschlagen, nur für die Schultergelenke einen Teil-GdB, und zwar einen solchen von 10, zu vergeben.

Die Klägerin hat ihre Berufung trotz der Vorschläge des Wahlgutachters aufrecht erhalten, die Beteiligten haben am 17. Februar bzw. 31. März 2016 auf mündliche Verhandlung verzichtet.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen sowie die Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin, über die der Senat ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entschieden hat, ist nach § 105 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 143 SGG statthaft. Insbesondere war sie nicht nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG zulassungsbedürftig, da die Klägerin keine Sach-, Geld- oder Dienstleistung begehrt, sondern eine behördliche Feststellung. Die Berufung ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) erhoben.

Sie ist aber nicht begründet. Zu Recht hat das SG die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage der Klägerin (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG; vgl. zur Klageart BSG, Urteil vom 17. April 2013 - B 9 SB 6/12 R -, juris, Rz. 25 m. w. N.) als zwar zulässig, aber unbegründet abgewiesen. Der angegriffene Bescheid ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, weil der geltend gemachte Anspruch auf Zuerkennung eines GdB von mehr als 30 nicht besteht.

Die gerichtliche Nachprüfung richtet sich, bezogen auf die tatsächlichen Verhältnisse, grundsätzlich nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (Keller, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 1. Aufl. 2014, § 54 Rz. 34), mangels Durchführung einer solchen, wie vorliegend, indes zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts.

Der Anspruch der Klägerin richtet sich nach § 69 Abs. 1 und 3 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Danach stellen auf Antrag des behinderten Menschen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest (§ 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Menschen sind nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Schwerbehindert sind gemäß § 2 Abs. 2 SGB IX Menschen, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt. Die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach 10-er-Graden abgestuft festgestellt. Hierfür gelten gem. § 69 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB IX die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG (bis 30. Juni 2011: § 30 Abs. 17 BVG) erlassenen Rechtsverordnung entsprechend. Von dieser Ermächtigung hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales Gebrauch gemacht und die am 1. Januar 2009 in Kraft getretene Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV - vom 10. Dezember 2008 (BGBl I S. 2412) erlassen, um unter anderem die maßgebenden Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG zu regeln (vgl. § 1 VersMedV). Die zugleich in Kraft getretene, auf der Grundlage des aktuellen Standes der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin erstellte und fortentwickelte Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 VersMedV ist an die Stelle der bis zum 31. Dezember 2008 heranzuziehenden "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP) getreten. In den VG wird der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben (BSG, Urteil vom 1. September 1999 - B 9 V 25/98 R - SozR 3-3100 § 30 Nr. 22). Hierdurch wird eine für den Menschen mit Behinderung nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB ermöglicht. Allgemein gilt, dass der GdB auf alle Gesundheitsstörungen unabhängig ihrer Ursache, also final, bezogen ist (BSG, Urteil vom 17. April 2013 - B 9 SB 3/12 R - juris, Rz. 51). Der GdB ist ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens. Ein GdB setzt stets eine Regelwidrigkeit gegenüber dem für das Lebensalter typischen Zustand voraus. Dies ist insbesondere bei Kindern und älteren Menschen zu beachten. Physiologische Veränderungen im Alter sind bei der Beurteilung des GdB nicht zu berücksichtigen. Als solche Veränderungen sind die körperlichen und psychischen Leistungseinschränkungen anzusehen, die sich im Alter regelhaft entwickeln, also für das Alter nach ihrer Art und ihrem Umfang typisch sind. Demgegenüber sind pathologische Veränderungen, also Gesundheitsstörungen, die nicht regelmäßig und nicht nur im Alter beobachtet werden können, bei der Beurteilung des GdB auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erstmalig im höheren Alter auftreten oder als "Alterskrankheiten" (etwa "Altersdiabetes" oder "Altersstar") bezeichnet werden (VG, Teil A, Nr. 2 c). Erfasst werden die Auswirkungen in allen Lebensbereichen und nicht nur die Einschränkungen im allgemeinen Erwerbsleben. Da der GdB seiner Natur nach nur annähernd bestimmt werden kann, sind beim GdB nur Zehnerwerte anzugeben. Dabei sollen im Allgemeinen Funktionssysteme zusammenfassend beurteilt werden (VG, Teil A, Nr. 2 e). Eine rechtsverbindliche Entscheidung nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX umfasst nur die Feststellung einer (unbenannten) Behinderung und des Gesamt-GdB. Die dieser Feststellung im Einzelfall zugrundeliegenden Gesundheitsstörungen, die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen und ihre Auswirkungen dienen lediglich der Begründung des Verwaltungsaktes und werden nicht bindend festgestellt (BSG, Urteil vom 24. Juni 1998 - B 9 SB 17/97 R - SozR 3-3870 § 4 Nr. 24). Der Teil-GdB ist somit keiner eigenen Feststellung zugänglich. Er erscheint nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsaktes und ist nicht isoliert anfechtbar. Es ist somit auch nicht entscheidungserheblich, ob von Seiten des Beklagten oder es erstinstanzlichen Gerichts Teil-GdB-Werte in anderer Höhe als im Berufungsverfahren vergeben worden sind, wenn der Gesamt-GdB hierdurch nicht beeinflusst wird (Urteil des Senats vom 27. August 2015 - L 6 SB 4445/14 -, juris, Rz. 30).

Für die im Vordergrund der Funktionseinschränkungen stehende Hörminderung hat der Beklagte zutreffend einen GdB von 30 angesetzt.

Nach Teil B Nr. 5.2.4 VG ist dieser GdB unter anderem für eine mittelgradige Schwerhörigkeit an beiden Ohren vorgesehen, also Hörverlusten von 40 bis 60 % auf beiden Ohren. Auch bei einer hochgradigen Schwerhörigkeit (60 bis 80 %) auf einem Ohr und bei Mittelgradigkeit auf dem anderen verbleibt es bei einem GdB von 30. Ein GdB von 40 (Zwischenwert) kommt erst in Betracht, wenn der Hörverlust beidseits genau auf der Grenze zwischen Mittel- und Hochgradigkeit (also bei 60 %) liegt. Ein GdB von 50 ist dann bei hochgradiger Schwerhörigkeit bds. zu vergeben.

Diese Hörverluste sind nach dem Vorspruch vor Teil B Nr. 5.1 VG vorrangig aus dem Sprach-Audiogramm zu ermitteln, weil maßgeblich die Herabsetzung des Sprachgehörs ist. Die Ermittlung der Hörverluste aus den Ergebnissen eines Sprach-Audiogramms folgt dabei den Vorgaben der Tabelle bei Teil B Nr. 5.2.1 VG.

Bei der Klägerin ergibt sich aus dem Sprach-Audiogramm vom 12. September 2012 ein (50-%-iger) Hörverlust für Zahlen (Einsilber) rechts von etwas über 45 dB und links von etwas unter 45 dB (so die Angabe im Audiogramm, im Begleitschreiben nennt die Ärztin die restliche Verständlichkeit, die sie bds. entsprechend mit 65 dB bzw. 65 % beziffert). Das Gesamtwortverstehen (hier einfach und nicht gewichtet, da der Hörverlust über 40 % liegen wird) beträgt rechts mindestens 210 (Verständnisquoten bei 60 dB ca. 20 % [HNO-Ärztin K.-K. nennt in dem Begleitschreiben nur den Wert für 70 dB], bei 80 dB 90 % und bei 100 dB 100 %) und links etwa 190 (60 dB: ca. 10 %, 80 dB: 80 %, 100 dB: 100 %). Der prozentuale Hörverlust liegt daher rechts bei 60 % (ab 200/ab 45) und links bei 50 % (ab 175/ab 40). Diese Werte liegen bei Mittelgradigkeit links und genau auf der Grenze zwischen Mittel- und Hochgradigkeit rechts, so dass die Innenohrschwerhörigkeit insgesamt nur einen Teil-GdB von 30 zu begründen vermag, was zwischen den Beteiligten letztlich unstreitig ist.

Für die Folgen einer psychischen Erkrankung ist jedenfalls kein GdB von mehr als 10 anzuerkennen. Nach Teil B Nr. 3.7 VG beträgt der GdB 0 bis 20 für leichtere psychovegetative oder psychische Störungen. Hierbei kommt ein GdB von 20 erst in Betracht, wenn sich die Funktionsbeeinträchtigungen - auf physischer, psychischer und vor allem sozialer Leidensebene - bereits der nächsten Stufe, den wesentlichen Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (GdB 30 bis 40) annähern. Für solche Einschränkungen ist bei der Klägerin nichts ersichtlich. Die psychische und die soziale Leidensdimension fehlen. Der Entlassungsbericht aus Bad Steben und auch das Gutachten von Prof. Dr. Z. beschreiben insoweit ein unauffälliges Bild. Die Klägerin ist weder kognitiv noch in ihrer Schwingungsfähigkeit eingeschränkt. Sie ist nach wie vor voll berufstätig und familiär integriert. Eine psychopharmakologische Behandlung, die Dr. E. ab 2013 verordnet hatte, wird nach dem Entlassungsbericht nicht (mehr) durchgeführt. Für eine therapeutische Behandlung einer psychischen Erkrankung ist nichts ersichtlich. Allenfalls die physische Ebene ist etwas belastet. Allerdings haben die Schmerzen der Klägerin durchweg organische Ursachen, sodass sie nach der Wertung aus Teil A Nr. 2 Buchstabe i Satz 1 und Buchstabe j Satz 2 VG von der Bewertung der organisch bedingten Behinderungen erfasst werden. Hinzu kommt, dass bei der Klägerin kein erhebliches Schmerzsyndrom zu verzeichnen ist, was sich auch in der Behandlung mit - nur - Ibuprofen 400 mg einmal täglich zeigt.

Die Bewertung der Funktionseinbußen an den Schultergelenken ergibt sich aus Teil B Nr. 18.13 VG. Danach führt eine Bewegungseinschränkung in einem Schultergelenk mit einer Armhebung nur bis 120° zu einem GdB von 10 und mit einer Armhebung nur bis zur Waagerechten (90°) zu einem GdB von 20, wenn die Dreh- und Spreizfähigkeit jeweils entsprechend eingeschränkt ist. Bei der Klägerin nun lagen zumindest nach den beiden Operationen Bewegungseinschränkungen vor. Diese waren jedoch nicht von Dauer, haben jedenfalls nicht wenigstens sechs Monate angedauert und sind daher nicht zu Behinderungen im Rechtssinne geworden (§ 2 Abs. 1 SGB IX). Wie Dr. N. in seiner Zeugenaussage vor dem SG angegeben hat, hatten sich die Bewegungseinschränkung nicht nur bis zu der letzten Untersuchung bei ihm zurückgebildet, sondern es hat in der Zeit danach weitere Verbesserungen gegeben. Für das Frühjahr 2014 folgt aus dem Entlassungsbericht aus Bad Steben eine Abduktion von bis zu 120° rechts und 100° links, die Anteversion wird mit 130° bzw. 120° angegeben. Noch etwas bessere Werte (120° bzw. 140° beidseits) hat dann Prof. Dr. Z. Ende 2015 gemessen. Hiernach läge gar kein GdB vor. Allerdings ist es vertretbar, dass der Beklagte unter Berücksichtigung der Erschwerungen beim Erreichen dieser Beweglichkeiten und der Schmerzen, wie sie auch Prof. Dr. Z. beschrieben hat, einen GdB von 10 zu Grunde legt, wobei die fehlende Muskelatrophie dagegen spricht, dass die Klägerin im tatsächlichen Leben als Pflegekraft nennenswert durch ihre Schultergelenke eingeschränkt sein kann.

Für das Funktionssystem "Rumpf" ist kein GdB begründbar. Nach Teil B Nr. 18.9 VG ist für Wirbelsäulenschäden ohne Bewegungseinschränkungen oder Instabilitäten ein GdB von 0 zu vergeben. Ein GdB von 10 kommt erst bei geringen funktionellen Auswirkungen in Frage. Bei der Klägerin liegt nach den Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. Z. nur an der Halswirbelsäule ein allenfalls etwas altersvorauseilender pathologischer Befund vor. Das Lumbalsyndrom, das noch in Bad Steben diagnostiziert worden war, konnte er nicht (mehr) feststellen. Und auch an der Halswirbelsäule bestehen (noch) keine relevante Funktionseinbußen. Die Beweglichkeit lag im Normbereich. So konnte die Klägerin ein Vor- und Zurückneigen von 45/0/60° erreichen (Normwert 35-45/0/45-70°), das Seitneigen betrug regelgerechte 45/0/45° und die Drehfähigkeit lag bei 60/0/60° und damit - gerade noch - im Normbereich. Instabilitäten oder Nervenwurzelreizungen an der Halswirbelsäule liegen nicht vor.

Weitere Behinderungen, die einen - für den Gesamt-GdB relevanten - GdB von wenigstens 20 bedingen könnten, liegen nicht vor. Eine Arthritis hat kein behandelnder Arzt bestätigt. Die gelegentlich auftretende Anämie der Klägerin wird mit Eisentabletten behandelt und hat nach der Zeugenaussage von Internist Schwarz vor dem SG keine Funktionseinbußen zur Folge (gehabt).

Auch die Hüftgelenke - Funktionssystem untere Gliedmaßen - rechtfertigen keinen GdB. Hierfür wäre nach Teil B Nr. 18.14 VG mindestens eine Bewegungseinschränkung geringen Grades an einem Hüftgelenk vonnöten, diese läge vor bei einer Einschränkung der Streckung/Beugung auf bis zu 0/10/90° mit entsprechender Einschränkung der Dreh- und Spreizfähigkeit. Die Klägerin konnte ihre beiden Hüftgelenke in Bad Steben vollständig strecken und voll beugen (0/0/130°), Prof. Dr. Z. hat links sogar eine Beugefähigkeit bis 140° gemessen, so dass seine Bewertung, die Beweglichkeit sei nahezu frei, auch angesichts des Röntgenbefundes mit fehlendem Anhalt für eine fortgeschrittene degenerative Schädigung, bei flüssigem Gangbild ohne sichtbare Bewegungseinschränkung, für den Senat gut nachvollziehbar war. Da hiernach keine Funktionsbehinderung vorliegt, kommt es auf die - womöglich noch nicht gesicherte (so Prof. Dr. Z.) - Diagnose nicht an. Insofern waren auch keine weiteren Beweiserhebungen notwendig.

Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird nach § 69 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Teil-GdB anzugeben; bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen jedoch die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet. Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Teil-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Die Beziehungen der Funktionsbeeinträchtigungen zueinander können unterschiedlich sein. Die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen können voneinander unabhängig sein und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen. Eine Funktionsbeeinträchtigung kann sich auf eine andere besonders nachteilig auswirken, vor allem dann, wenn Funktionsbeeinträchtigungen paarige Gliedmaßen oder Organe betreffen. Funktionsbeeinträchtigungen können sich überschneiden. Eine hinzutretende Gesundheitsstörung muss die Auswirkung einer Funktionsbeeinträchtigung aber nicht zwingend verstärken. Von Ausnahmefällen abgesehen, führen leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Dies gilt auch dann, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.

Der Gesamt-GdB ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung, gegebenenfalls unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten, in freier richterlicher Beweiswürdigung festzulegen (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2004 - B 9 SB 1/03 R -, juris, Rz. 17 m. w. N.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die auf der ersten Prüfungsstufe zu ermittelnden nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen und die sich daraus abzuleitenden Teilhabebeeinträchtigungen ausschließlich auf der Grundlage ärztlichen Fachwissens festzustellen sind. Bei den auf zweiter und dritter Stufe festzustellenden Teil- und Gesamt-GdB sind über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (vgl. BSG, Beschluss vom 9. Dezember 2010 - B 9 SB 35/10 B -, juris, Rz. 5).

Unter Berücksichtigung der Grundsätze für die Bildung des Gesamt-GdB, wonach insbesondere einzelne Teil-GdB-Werte nicht addiert werden dürfen (VG, Teil A, Nr. 3 a) und grundsätzlich leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung führen (VG, Teil A, Nr. 3 d ee), folgt im Falle der Klägerin der Gesamt-GdB demnach aus dem Teil-GdB von 30 für die Schwerhörigkeit. Eine Erhöhung auf Grund anderer GdB-Werte scheidet aus, weil nach Teil A Nr. 3 Buchstabe d Doppelbuchstabe ee Satz 1 VG von Ausnahmefällen abgesehen leichte Gesundheitsstörungen mit einem GdB von bis zu 10 nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigungen führen.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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