L 6 VG 1977/15

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 13 VG 7065/13
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 VG 1977/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Die gerichtliche Fürsorgepflicht gebietet es auf die Beseitigung von Formfehlern bei Eingang einer Berufung ohne Unterschrift hinzuwirken.
2. Wenn ein Täter bei einer behaupteten Tätlichkeit durch eine Sicherheitskraft (hier Cannstadter Wasen) nicht ermittelbar ist, lediglich Verletzungen am Tattag feststehen und die Erinnerungen des Opfers alkoholbedingt eingeschränkt, auch die Aussagen des einzigen Zeugen widersprüchlich sind, so ist ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff nur möglich.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 14. April 2015 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).

Der 1966 geborene Kläger war Diplom-Betriebswirt, ist geschieden und bezieht Rente wegen voller Erwerbsminderung. Seit Juli 2011 ist bei ihm ein Grad der Behinderung von 60 wegen einer seelischen Krankheit (bipolare affektive Störung, ICD-10-GM-2016 F.31.0) anerkannt (Bescheid vom 7. November 2011).

Am 7. Oktober 2012 besuchte der Kläger mit einem Bekannten auf dem Cannstatter Wasen das G.-Festzelt. Beim Verlassen stürzte er am Ausgang zu Boden und stieß sich den Kopf. Anschließend wurde er im K.-O.-Krankenhaus behandelt und am Folgetag entlassen. Das Krankenhaus diagnostizierte eine oberflächliche Verletzung bei sonstiger Kopfprellung und eine Fraktur sonstiger Halsteile.

Am 8. Oktober 2012 erstattete der Kläger bei der Polizei Anzeige wegen Körperverletzung. Er gab dabei an, dass er vor Schließung des Zeltes am Ausgang gegen 23:00 Uhr noch schnell habe sein Bier austrinken wollen. Ein Sicherheitsangestellter habe ihm den Krug aus der Hand gerissen und danach gegen die Brust gestoßen. Wie jener genau gestoßen habe, könne er nicht sagen. Es müsse ein kräftiger Stoß gewesen sei, da er selbst 110 kg wiege und nicht so schnell umfalle. Aufgrund des Stoßes sei er rückwärts umgefallen und habe sich den Kopf angestoßen. Dann sei die Polizei gekommen und er ins Krankenhaus zur CT-Untersuchung gebracht worden. Dort seien eine leichte Gehirnerschütterung und ein Halswirbelsäulen-Syndrom diagnostiziert worden. Im Krankenhaus seien auch 1,3 Promille bei ihm festgestellt worden. Er habe sich aber nicht betrunken gefühlt. Der Kläger beschrieb den Sicherheitsangestellten als Ende 20 bis Mitte 30 Jahre alt, 170 bis 175 cm groß mit kräftig untersetzter Figur mit lichtem, blondem kurzem Haar und mit neumodischer, randloser Brille. Er habe einen violetten/dunkelroten Pulli mit der Aufschrift "MKS", jedenfalls mit Buchstaben in gelber Farbe, getragen.

Darauf stellte die Polizei fest, dass die beschriebene Kleidung eindeutig der des Sicherheitsdienstes MKS entspreche, der jedoch nicht im Festzelt G., sondern im Festzelt W. eingesetzt gewesen sei. Der darauf von der Polizei befragte Ordnerführer des MKS habe anhand der vom Kläger abgegebenen Beschreibung keinen Mitarbeiter benennen können. Aus Sicherheitsgründen würden dessen Mitarbeiter keine Brille tragen. Der einzige Brillenträger sei 50 Jahre alt und nicht im Eingangsbereich eingesetzt gewesen. Der ebenfalls befragte Geschäftsführer des im G.-Festzelt eingesetzten Sicherheitsdienstes SDS habe keinen Mitarbeiter angeben können, welcher der Täterbeschreibung entsprochen habe.

In der Folge wurde das Ermittlungsverfahren von der Staatsanwaltschaft Stuttgart mit Verfügung vom 28. Januar 2013 nach § 170 Abs. 2 Strafprozessordnung (StPO) eingestellt, da der Täter unbekannt sei (Az.: 135 UJs 200086/13).

Am 26. Februar 2013 stellte der Kläger während eines längerfristigen Philippinenaufenthaltes auf Anraten seiner Krankenkasse beim Beklagten einen Antrag auf Beschädigtenversorgung, da er am 7. Oktober 2012 eine Verletzung aufgrund einer körperlichen Gewalttat erlitten hätte. Er leide nun unter Verlust des Erinnerungsvermögens und Konzentrationsstörungen. Seine Erinnerung über den Tathergang sei nahezu nicht mehr vorhanden. Er könne nicht mehr sagen als damals bei Anzeigeerstattung. Er habe einen Schlag auf den Brustkorb erhalten, wobei er danach mit dem Hinterkopf auf den Beton geknallt sei. Er sei vorübergehend bewusst- und regungslos gewesen.

Der Beklagte befragte schriftlich den Bekannten A. P., der den Kläger am Tattag in das Festzelt begleitet hatte. Dieser gab am 30. Juli 2013 an, dass dem Kläger und ihm am Ausgang beim Ansetzen der Gläser zum Austrinken diese aus der Hand gerissen worden seien und der Kläger dabei tätlich angegriffen worden sei. Die Sicherheitskräfte seien aggressiv und mit der Situation überfordert gewesen. Es habe eine tätliche Auseinandersetzung mit "Schlagen/Pushen" auf die Brust des Klägers von einer Sicherheitskraft gegeben, solange bis jener mit dem Kopf auf den Boden des Festzeltes geknallt sei. Danach sei die Polizei gekommen und habe den Rettungsdienst gerufen.

Mit Bescheid vom 2. September 2013 lehnte der Beklagte den Antrag auf Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG ab, da der geforderte gesicherte Nachweis eines vorsätzlich rechtswidrigen tätlichen Angriffs nicht erbracht worden sei. Der angeschriebene Zeuge habe sich zwar zum Geschehensablauf geäußert. Es würden hinsichtlich des Tathergangs aber objektive Beweismittel fehlen. Das Ermittlungsverfahren sei eingestellt worden.

Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch mit der Begründung, dass die anspruchsbegründenden Tatsachen ausreichend durch die Zeugenbefragung nachgewiesen worden seien.

Mit Widerspruchsbescheid vom 6. Dezember 2013 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Grundlage der Entscheidung sei die Ermittlungsarbeit der Polizei. Diese habe aber weder den Tathergang eindeutig rekonstruieren noch einen Täter ermitteln können.

Am 8. Dezember 2013 hat der Kläger beim Sozialgericht Stuttgart (SG) Klage erhoben und angeführt, dass die umfassende Zeugenaussage und der sich an die Tat anschließende Krankenhausaufenthalt ausreichend seien, um den Anspruch zu begründen. Der Stoß müsse bereits deswegen kräftig gewesen sein, da der Täter diesen aus Angst vor seinem Körpergewicht, seiner Statur und seiner 25jährigen Ausbildung in asiatischer Kampfkunst hätte durchführen müssen.

Mit Beschluss vom 11. April 2014 hat das SG die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Die hiergegen vom Kläger erhobene Beschwerde hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg mit Beschluss vom 3. Juni 2014 (L 6 VG 2002/14 B) zurückgewiesen.

Mit Urteil nach mündlicher Verhandlung vom 14. April 2015, dem Kläger zugestellt am 21. April 2015, hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es angeführt, dass zwar ein tätlicher Angriff auf den Kläger vorliege, da er beim Verlassen des Bierzeltes gestoßen worden und daraufhin auf den Boden gefallen sei. Es habe sich jedoch nicht nachweisen lassen, dass dieser Stoß vorsätzlich erfolgt sei, da der Täter nicht habe ermittelt werden können und keine Indizien vorlägen, die für eine vorsätzliche Tat sprächen. Auch der Kläger wisse nicht, wer ihn gestoßen habe und aus welchem Motiv dies geschehen seien könne. Neben einem vorsätzlichen Stoß gegen die Brust des Klägers sei auch denkbar, dass der Kläger entweder aufgrund des Gedränges beim Verlassen des Bierzeltes oder von einer Sicherheitskraft beim Abnehmen des Bierkruges fahrlässig zu Fall gebracht worden sei. Es sei zu bedenken, dass der Kläger mit 1,3 Promille alkoholisiert und abgelenkt gewesen sei, da er das restliche Bier in seinem Krug noch habe austrinken wollen, so dass er möglicherweise trotz des von ihm ausgeführten Körpergewichts leicht zu Fall zu bringen gewesen sei. Weder aus den Angaben des Klägers noch aus denen seines Begleiters habe sich ein eindeutiger Geschehensablauf rekonstruieren lassen, der nur durch eine Vorsatztat erklärbar sei. Weitere Ermittlungsmöglichkeiten seien nicht erkennbar, so dass eine weitere Sachaufklärung nicht möglich sei. Das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Entschädigung gem. § 1 OEG sei vom Beklagten damit zu Recht abgelehnt worden.

Mit nicht handschriftlich unterschriebenem Schriftsatz, eingegangen beim SG am 8. Mai 2015, hat der Kläger Berufung eingelegt. Nach Hinweis des Berichterstatters vom 8. Juni 2016 hat der Kläger am 15. Juni 2016 klargestellt, dass es sich bei der Berufungsschrift nicht um einen Entwurf gehandelt habe. Zur Begründung seiner Berufung führt er an, dass von keinerlei Fahrlässigkeit ausgegangen werden könne, da es kein Gedränge am Ausgang gegeben habe. Außerdem sei er aufgrund seines Lebensstils ein an Alkohol gewöhnter Mensch.

In der mündlichen Verhandlung vom 22. September 2016 ergänzt der Kläger, dass sein GdB inzwischen auf 80 heraufgesetzt worden sei. Er gehe davon aus, dass ein gezielter Schlag abgegeben worden sei, da er wegen seines äußeren Erscheinungsbildes für die Sicherheitskraft angsteinflößend gewesen sei. Die Polizei sei nicht gerufen worden.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 14. April 2015 und den Bescheid vom 2. September 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Dezember 2013 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Er führt an, dass ein vorsätzlich rechtswidriger tätlicher Angriff nicht nachzuweisen sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz, die Akte L 6 VG 2002/14 B, die Akte der Staatsanwaltschaft Stuttgart sowie auf die von dem Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig. Der Senat lässt dahinstehen, ob die Berufung innerhalb der hier maßgeblichen Monatsfrist (§ 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG), die am 21. Mai 2015 endete, fristwahrend durch das beim SG (§ 151 Abs. 2 Satz 1 SGG) am 8. Mai 2015 eingegangene und nicht unterschriebene Berufungsschreiben erfolgt ist und insbesondere ob dieses Schreiben dem Erfordernis der Schriftlichkeit gemäß § 151 Abs. 1 SGG entsprochen hat. Für "schriftlich" wird in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) grundsätzlich die eigenhändige Unterschrift verlangt (Urteile vom 14. Januar 1958 - 11/8 RV 97/57 -, juris, Rz. 14, und vom 28. Mai 1974 - 2 RU 259/73 -, juris, Rz. 17), wobei hiervon Ausnahmen zugelassen werden, wenn auf andere Weise gewährleistet ist, dass dem Schriftstück der Inhalt der Erklärung, die abgegeben werden soll, und die Person, von der sie ausgeht, hinreichend zuverlässig entnommen werden kann und feststeht, dass es sich bei dem Schriftstück nicht nur um einen Entwurf handelt, sondern dass es mit Wissen und Willen des Berechtigten dem Gericht zugeleitet worden ist (vgl. BSG, Urteile vom 20. Dezember 1979 - 4 RJ 120/77 -, juris, Rz. 12, und vom 26. November 1987 - 2 RU 42/87 -, juris, Rz. 13).

Es erscheint vorliegend zumindest zweifelhaft, ob ohne Unterschrift hier eindeutig feststellbar ist, dass das Schreiben vom 5. Mai 2015 von dem Kläger selbst stammte und es sich nicht nur um einen Entwurf handelte. Zwar enthielt es detaillierte Angaben zum Rechtsstreit. Jedoch waren keine handschriftlichen Anmerkungen des Klägers angebracht (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 16. November 2000 - B 13 RJ 3/99 R -, juris, Rz. 20). Auch hatte der Kläger zuvor jeweils seine Klageschrift und die weiteren Schreiben in erster Instanz genauso wie seine Beschwerdeschrift zum LSG im Prozesskostenhilfeverfahren (Az. L 6 VG 2002/14 B) immer eigenhändig unterschrieben. Dass der Umschlag, mit dem das Berufungsschreiben übersandt worden war, seine Handschrift aufwies, wird vom Kläger nicht behauptet. Insoweit kann deshalb dahinstehen, welche Folge der Umstand hat, dass dieser Umschlag vom SG nicht aufbewahrt wurde (vgl. BSG, Urteil vom 16. November 2000 - B 13 RJ 3/99 R -, juris, Rz. 25).

Selbst wenn von einer Versäumung der Berufungsfrist ausgegangen wird, ist dem Kläger gemäß § 67 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Voraussetzung dafür ist, dass ein Beteiligter ohne Verschulden verhindert war, die Verfahrensfrist einzuhalten (§ 67 Abs. 1 SGG), und die versäumte Rechtshandlung innerhalb eines Monats nach Wegfall des Hindernisses nachgeholt wird (§ 67 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. Satz 1 SGG).

Der Senat hat in Wahrnehmung der ihm gemäß § 106 Abs. 1 SGG i.V.m. § 153 Abs. 1 SGG obliegenden Fürsorgepflicht, wonach das Gericht u.a. darauf hinzuwirken hat, dass Formfehler beseitigt und vermieden werden sollen, damit Beteiligte nicht an unbeabsichtigten Formfehlern scheitern (BSG, Urteil vom 30. Januar 2002 – B 5 RJ 10/01 R -, juris, Rz. 19), den Kläger auf die Formproblematik hingewiesen. Die Monatsfrist des § 67 Abs. 2 Satz 1 SGG beginnt mit Wegfall des Hindernisses, auf dem das Fristversäumnis beruht. Da das Hindernis hier in der Unkenntnis lag, dass die Schriftform nicht gewahrt worden seien könnte, ist der Wegfall zu dem Zeitpunkt anzunehmen, in dem diese Unkenntnis beseitigt war, d.h. bei Kenntnisnahme des Schreibens des Berichterstatters vom 8. Juni 2016 durch den Kläger. Mit seinem – handschriftlich unterschriebenem - Schreiben vom 14. Juni 2016, eingegangen am 15. Juni 2016, hat der Kläger sodann rechtzeitig hinreichend deutlich gemacht, dass seine ursprüngliche Klageschrift kein bloßer Entwurf seien sollte. Ihm war somit Wiedereinsetzung zu gewähren.

Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das SG hat die als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage zulässige Klage zu Recht und mit zutreffender Begründung abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Beschädigtenversorgung. Daher ist die angefochtene Verwaltungsentscheidung (Bescheid vom 2. September 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Dezember 2013) rechtmäßig und verletzt ihn nicht in seinen Rechten.

Ein Anspruch des Klägers auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG gegeben sind (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 17. April 2013 - B 9 V 1/12 R -, juris, Rz. 25). Danach erhält eine natürliche Person, die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind. Nach der Rechtsprechung des BSG ist bei der Auslegung des Rechtsbegriffes "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen (BSG, Urteil vom 17. April 2013, a.a.O., Rz. 27). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 Strafgesetzbuch (StGB) zeichnet sich der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein (vgl. BSG, Urteil vom 7. April 2011 - B 9 VG 2/10 R -, SozR 4-3800 § 1 Nr. 18, Rz. 36 m. w. N.). Ein solcher Angriff setzt eine unmittelbar auf den Körper einer anderen Person zielende, gewaltsame physische Einwirkung voraus; die bloße Drohung mit einer wenn auch erheblichen Gewaltanwendung oder Schädigung reicht hierfür demgegenüber nicht aus (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 - B 9 V 1/13 R -, juris, Rz. 23 ff.).

Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennen das soziale Entschädigungsrecht und damit auch das OEG drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG), der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, sind bei der Entscheidung die Angaben der Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung, also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verloren gegangen sind, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.

Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl. Keller, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 11. Aufl. 2014, § 128 Rz. 3b m. w. N.). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (vgl. BSG, Urteil vom 24. November 2010 - B 11 AL 35/09 R -, juris, Rz. 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. Keller, a. a. O.).

Unter Beachtung dieser Maßgaben vermag sich auch der Senat nicht im Sinne des Vollbeweises davon zu überzeugen, dass der Kläger Opfer einer vorsätzlichen Körperverletzung geworden worden ist. Am Tathergang bestehen so gewichtige Zweifel, dass der Senat die angeschuldigte Tat allenfalls als möglich ansieht.

Grundsätzlich müssen, wie oben dargestellt, die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 1 OEG voll bewiesen sein. Der angeschuldigte vorsätzliche Angriff durch eine Sicherheitskraft beim Cannstatter Wasen ist aber nicht bewiesen.

Der polizeilich befragte Ordnerführer des Sicherheitsdienstes MKS hat keine bei ihm tätige Person, die der detaillierten Täterbeschreibung des Klägers entsprach (u.a. Alter zwischen Ende 20 bis Mitte 30, Brillenträger), benennen können, wobei der einzige bei ihm tätige Brillenträger rund 50 Jahre alt und nicht im Eingangsbereich eingesetzt gewesen war. Der polizeilich befragte Ordnerführer des Sicherheitsdienstes SDS hat ebenfalls keine bei ihm tätige Person mit dieser Täterbeschreibung aufzeigen können. Ferner ist im polizeilichen Ermittlungsbericht dargelegt, der Sicherheitsdienst MKS - der im Hinblick auf sein Pullover-Design den Beschreibungen des Klägers exakt entsprach - sei gerade nicht am Tatort, dem Festzelt G., sondern im Festzelt W. eingesetzt gewesen.

Mithin haben sich die Angaben des Klägers wie des Zeugen P. nicht bestätigen lassen. Vielmehr steht nach dem Ergebnis der polizeilichen Ermittlungen nur sicher fest, dass sich der Kläger die Verletzungen am Tattag zugezogen hat, was auch der Senat der beigezogen Vorerkrankungsbescheinigung der AOK N.-F. entnimmt, wonach er am 8. Oktober 2012 wegen der Kopfprellung mit HWS-Syndrom in stationärer Behandlung und Beobachtung im K.-O.-Krankenhaus, S., war. Dass die Verletzung durch Schläge eines Dritten hervorgerufen wurde, behaupten der Kläger und auch der vom Beklagten schriftlich gehörte Zeuge P., hat sich aber im Verlauf der Ermittlungen nicht erhärten lassen, so dass letztlich das Ermittlungsverfahren eingestellt werden musste.

Die Aussagetüchtigkeit des Klägers zum Zeitpunkt des Tatgeschehens war zumindest auf Grund des vorangegangenen Alkoholkonsums wie der nachgehenden Kopfverletzung eingeschränkt, der Kläger hat selbst eingeräumt, dass eine Erinnerung nahezu nicht mehr vorhanden sei. Der Zeuge P. hat zwar ebenfalls eine Sicherheitskraft eines "Schlagen/Pushen" auf die Brust des Klägers, somit einer Tätlichkeit beschuldigt, nähere Angaben zur Person aber nicht machen können. Vor diesem Hintergrund sieht auch der Senat keine weiteren Ermittlungsmöglichkeiten im Hinblick auf das vom Kläger geschilderte Geschehen, zumal die Erinnerungen des Klägers über den Tathergang nach seinen eigenen Angaben nahezu nicht mehr vorhanden sind.

Weiter sind Widersprüchlichkeiten in den Angaben des Zeugen und des Klägers zu berücksichtigen. Während Herr P. von einem Schlagen bis zum Umfallen des Klägers berichtet hatte, kann sich der Kläger nur an einen gezielten Stoß erinnern. Auch soll nach Herrn P. die Polizei nach der Tat ans Zelt gekommen sein, während der Kläger in der mündlichen Verhandlung - anders noch als bei seiner Vernehmung am 8. Oktober 2012 - von keinem Polizeierscheinen ausgegangen ist. Im Polizeibericht wären bei einem polizeilichen Einschreiten jedenfalls hierzu Ausführungen zu erwarten gewesen. Solche fehlen jedoch.

Somit ist der angeschuldigte rechtswidrige Angriff, auch in Anbetracht einer möglicherweise dann fehlenden Rechtswidrigkeit, die ebenso im Maßstab des Vollbeweises erwiesen sein muss (Bayerisches LSG, Urteil vom 18. Mai 2015 - L 15 VG 17/09 -, juris, Rz. 50 ff.), lediglich möglich, aber nicht überwiegend wahrscheinlich. Denn der Kläger räumt selbst ein, dass er den Anforderungen des Sicherheitspersonals nicht Folge geleistet hat, vielmehr das Bier doch im Zelt, welches er aufgefordert wurde zu verlassen, austrank. Das "Pushen" kann demzufolge auch bloß die mit Nachdruck vorgetragene Aufforderung zum Verlassen des Zelts gewesen sein, ohne dass die Schwelle der Körperverletzung dadurch überschritten wurde.

Selbst wenn der Senat von der Sachverhaltsschilderung des Klägers überzeugt wäre, könnte zudem auch eine bloße Fahrlässigkeitstat in Betracht kommen, die nicht dem OEG unterfallen würde (vgl. Weiner in Gelhausen/Weiner, OEG-Kommentar, 6. Auflage 2015, § 1 Rz. 31). Es ist nämlich durchaus denkbar, dass die Sicherheitskraft den in diesem Zeitpunkt mit 1,3 Promille alkoholisierten Kläger beim Abnehmen des Bierkrugs fahrlässig zu Fall gebracht hat, zumal der Kläger nach seinen Angaben noch beabsichtigt hat, den Bierkrug vor dem Hinausgehen leerzutrinken und er deswegen möglicherweise - trotz seiner angegebenen Alkoholgewöhnung - das Gleichgewicht verloren hat. Das wäre dann als bloß fahrlässige Körperverletzung zu bewerten. Eine vorsätzliche mit feindseliger Willensrichtung gegen den Kläger gerichtete Körperverletzung ist nach alledem nicht nachgewiesen, was aber für die Feststellung des Ereignisses als vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriff im Sinne des § 1 OEG erforderlich wäre.

Auf die Grundsätze des Anscheinsbeweises kann sich der Kläger nicht berufen, denn diese greifen hier nicht ein. Der Anscheinsbeweis ermöglicht bei so genannten typischen Geschehensabläufen, von einer festgestellten Ursache auf einen bestimmten Erfolg oder von einem festgestellten Erfolg auf eine bestimmte Ursache zu schließen; er beruht auf Erfahrungswissen, muss also einen Hergang zu Grunde legen, der erfahrungsgemäß in bestimmtem Sinne abläuft. Sind aber - wie hier - mehrere Geschehensabläufe oder Vorgänge möglich, dann ist diese Beweisregel ausgeschlossen, mag auch eine von mehreren Möglichkeiten, die für den beweisbelasteten Beteiligten günstiger wäre, wahrscheinlicher sein als eine andere (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 2003 - B 9 VG 3/02 R -, juris, Rz. 19).

Eine Beweiserleichterung zugunsten des Klägers ist ebenfalls nicht einschlägig. Die Voraussetzungen des § 15 KOVVfG liegen hier nicht vor. Die Beweiserleichterung greift nicht bereits ein, bloß weil ein Täter nicht ermittelt werden kann, sondern nur dann, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind (BSG, Urteil vom 31. Mai 1989 - 9 RVg 3/89 -, juris, Rz. 10). Hier liegt jedoch eine Auskunft des Bekannten vor, sodass eine im Sinne der Grundsätze des § 15 KOVVG bestehende Beweisnot nicht gegeben ist (so auch LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 10. März 2016 - L 11 VG 54/09 -, juris, Rz. 31).

Nach alledem war die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
Saved