S 2 SO 5/16 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
2
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 2 SO 5/16 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antragsgegner wird im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet, dem Antragsteller die beantragten Leistungen der Eingliederungshilfe nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen vorläufig zu gewähren.

Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe:

I.

Der am 00.00.1994 geborene Antragsteller erhielt seit dem 01.03.1999 aufgrund seiner Minderjährigkeit und nach dem Zuzug des Vaters in den Rhein-Hunsrück-Kreis Leistungen im Rahmen der Jugendhilfe. Bis zum Umzug seines Vaters im Februar 2009 war der Antragsteller bei diesem in C, Kreis B-X, gemeldet. Nach vollstationärer Unterbringung in verschiedenen Einrichtungen erhielt der Antragsteller ab dem 01.07.2013 ambulante Leistungen der Jugendhilfe nach dem SGB VIII in seiner Wohnung in Q X1. Der Antragsgegner stellte seine Leistungen mit Vollendung des 21. Lebensjahres des Antragstellers am 25.03.2015 ein.

Mit Antrag vom 26.03.2015 beantragte der Antragsteller die Kostenübernahme für die weitere ambulante Betreuung zunächst bei dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) als überörtlichem Träger der Sozialhilfe. Dieser leitete den Antrag mit Schreiben vom 02.04.2015 gemäß § 14 Abs. 1 SGB IX an den Antragsgegner weiter.

Der Antragsgegner hat über den Antrag bisher nicht entschieden. Er streitet mit dem LWL um die Zuständigkeit.

Der Antragsteller begehrt nun einstweiligen Rechtsschutz. Die möglichen Träger müssten ihre Zuständigkeit untereinander abschließend klären. Aufgrund der Regelung des § 14 SGB XII sei der Antragsgegner vorläufig zuständig.

Der Antragsteller beantragt,

den Antragsgegner zu verpflichten, dem Antragsteller die ihm zustehenden Leistungen der Eingliederungshilfe gemäß § 53 SGB XII, insbesondere die Kosten des ambulanten betreuten Wohnens zu übernehmen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen. Er trägt vor, die einstige Zuständigkeit im Bereich der Jugendhilfe führe nicht automatisch zur Zuständigkeit im Bereich der Sozialhilfe. Die Zuständigkeit nach § 98 SGB XII sei nicht gegeben, da nun der gewöhnliche Aufenthalt des Vaters, der Anknüpfungspunkt in der Jugendhilfe war, keine Rolle mehr spiele. Der Antragsteller selbst sei nie im Kreisgebiet des Antragsgegners wohnhaft gewesen. Der Vater sei am 28.02.2009 in das Kreisgebiet zugezogen. Der Sohn habe die Zeit vom 27.02.2009 bis zum 30.06.2013 lückenlos vollstationär in verschiedenen Jugendhilfeeinrichtungen verbracht. Ab dem 01.07.2013 habe er dann ambulante Leistungen der Jugendhilfe in seiner Wohnung in Q X1 erhalten. Der Zuständigkeitswechsel von der Jugendhilfe zur Sozialhilfe aufgrund des Erreichens der entsprechenden Altersgrenze führe zu einem neuen Leistungsfall, auf den § 98 Abs. 5 SGB XII nicht anwendbar sei.

II.

Der zulässige Antrag ist begründet. Das Gericht der Hauptsache kann gemäß § 86b Abs. 1 SGG auf Antrag ( ) 2. in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Diese Bestimmung kommt auch zur Anwendung, wenn die Verwaltung die aufschiebende Wirkung nicht beachtet, also die aufschiebende Wirkung festgestellt werden muss (Meyer-Ladewig/Keller, Kommentar zum SGG § 86b Rdnr. 5 und 15). Gemäß § 86b Abs. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache ferner auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines bestehenden Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Der geltend gemachte Hilfeanspruch (Anordnungsanspruch) und die besonderen Gründe für die Notwendigkeit der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund), die Eilbedürftigkeit, sind gemäß §§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft zu machen. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens bedarf es einer Interessenabwägung, ob dem Antragsteller unter Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligten unzumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten.

Im vorliegenden Fall geht die Interessenabwägung zugunsten des Antragstellers aus. Denn Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, erhalten gemäß § 53 Abs. 1 SGB XII Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Personen mit einer anderen körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung können Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten. Von einer Behinderung bedroht sind gemäß § 53 Abs. 2 SGB XII Personen, bei denen der Eintritt der Behinderung nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Dies gilt für Personen, für die vorbeugende Gesundheitshilfe und Hilfe bei Krankheit nach den §§ 47 und 48 erforderlich ist, nur, wenn auch bei Durchführung dieser Leistungen eine Behinderung einzutreten droht. Besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es gemäß § 53 Abs. 3 SGB XII, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört insbesondere, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihnen die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen. Für die Leistungen zur Teilhabe gelten gemäß § 53 Abs. 4 SGB XII die Vorschriften des Neunten Buches, soweit sich aus diesem Buch und den auf Grund dieses Buches erlassenen Rechtsverordnungen nichts Abweichendes ergibt. Die Zuständigkeit und die Voraussetzungen für die Leistungen zur Teilhabe richten sich nach diesem Buch.

Anhand einer summarischen Prüfung, also ohne weitere Beweisaufnahme, spricht vieles dafür, dass der Antragsteller dringend auf Eingliederungshilfe zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft mit dem Ziel des selbständigen Wohnens angewiesen ist. Insbesondere der Bericht der nervenfachärztlichen LWL-Klinik in X2 vom 06.12.2013 spricht dafür, dass eine längerfristige psychosoziale Begleitung des Antragstellers erforderlich ist. Der Antragsteller leidet demnach unter einer Persönlichkeitsstörung mit Störung der Impulskontrolle bei bestehender Epilepsieerkrankung mit Grand-mal-Anfällen. Aufgrund der Störung der Impulskontrolle hat der Antragsteller bereits eine gefährliche Körperverletzung begangen und ist insoweit bereits vorbestraft. Der Antragsteller ist ausweislich des Berichts im Auftreten teilweise sehr chaotisch, unstrukturiert und insgesamt unkonzentriert und motorisch unruhig. Er zeigte ein impulsives Verhalten. Der Antragsteller war dort körperlich und verbal sehr aggressiv. Er schilderte in der Untersuchung in X2 gehäuft auftretende Gewaltsituationen, die vom Arzt teilweise als halluzinatorisch hinterfragt wurden.

Dass der Antragsteller der Eingliederungshilfe bedarf, ist zwischen dem Antragsgegner und dem Antragsteller offenbar in der Sache auch nicht umstritten. Der Antragsgegner verweist vielmehr auf seine mangelnde Zuständigkeit.

Diese ist hier jedoch aufgrund der Bestimmung des § 14 Abs. 2 SGB IX gegeben, auch wenn vieles dafür spricht, dass letztlich der LWL zuständig ist. Insoweit dürfte es sich für den Antragsgegner empfehlen, die Möglichkeit der Erstattungsansprüche konsequent zu prüfen.

Werden Leistungen zur Teilhabe beantragt, stellt der Rehabilitationsträger gemäß § 14 Abs. 1 SGB IX innerhalb von zwei Wochen nach Eingang des Antrages bei ihm fest, ob er nach dem für ihn geltenden Leistungsgesetz für die Leistung zuständig ist; bei den Krankenkassen umfasst die Prüfung auch die Leistungspflicht nach § 40 Abs. 4 des Fünften Buches. Stellt er bei der Prüfung fest, dass er für die Leistung nicht zuständig ist, leitet er den Antrag unverzüglich dem nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger zu. Muss für eine solche Feststellung die Ursache der Behinderung geklärt werden und ist diese Klärung in der Frist nach Satz 1 nicht möglich, wird der Antrag unverzüglich dem Rehabilitationsträger zugeleitet, der die Leistung ohne Rücksicht auf die Ursache erbringt. Wird der Antrag bei der Bundesagentur für Arbeit gestellt, werden bei der Prüfung nach den Sätzen 1 und 2 Feststellungen nach § 11 Abs. 2a Nr. 1 des Sechsten Buches und § 22 Abs. 2 des Dritten Buches nicht getroffen. Wird der Antrag nicht weitergeleitet, stellt der Rehabilitationsträger den Rehabilitationsbedarf gemäß § 14 Abs. 2 SGB XI unverzüglich fest. Muss für diese Feststellung ein Gutachten nicht eingeholt werden, entscheidet der Rehabilitationsträger innerhalb von drei Wochen nach Antragseingang. Wird der Antrag weitergeleitet, gelten die Sätze 1 und 2 für den Rehabilitationsträger, an den der Antrag weitergeleitet worden ist, entsprechend; die in Satz 2 genannte Frist beginnt mit dem Eingang bei diesem Rehabilitationsträger. Ist für die Feststellung des Rehabilitationsbedarfs ein Gutachten erforderlich, wird die Entscheidung innerhalb von zwei Wochen nach Vorliegen des Gutachtens getroffen. Kann der Rehabilitationsträger, an den der Antrag weitergeleitet worden ist, für die beantragte Leistung nicht Rehabilitationsträger nach § 6 Abs. 1 sein, klärt er unverzüglich mit dem nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger, von wem und in welcher Weise über den Antrag innerhalb der Fristen nach den Sätzen 2 und 4 entschieden wird und unterrichtet hierüber den Antragsteller. Die Absätze 1 und 2 gelten gemäß § 14 Abs. 3 SGB XI sinngemäß, wenn der Rehabilitationsträger Leistungen von Amts wegen erbringt. Dabei tritt an die Stelle des Tages der Antragstellung der Tag der Kenntnis des voraussichtlichen Rehabilitationsbedarfs. Wird nach Bewilligung der Leistung durch einen Rehabilitationsträger nach Absatz 1 Satz 2 bis 4 festgestellt, dass ein anderer Rehabilitationsträger für die Leistung zuständig ist, erstattet dieser gemäß § 14 Abs. 4 SGB IX dem Rehabilitationsträger, der die Leistung er- bracht hat, dessen Aufwendungen nach den für diesen geltenden Rechtsvorschriften. Die Bundesagentur für Arbeit leitet für die Klärung nach Satz 1 Anträge auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zur Feststellung nach § 11 Abs. 2a Nr. 1 des Sechsten Buches an die Träger der Rentenversicherung nur weiter, wenn sie konkrete Anhaltspunkte dafür hat, dass der Träger der Rentenversicherung zur Leistung einer Rente unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage verpflichtet sein könnte. Für unzuständige Rehabilitationsträger, die eine Leistung nach Absatz 2 Satz 1 und 2 erbracht haben, ist § 105 des Zehnten Buches nicht anzuwenden, es sei denn, die Rehabilitationsträger vereinbaren Abweichendes.

Der Rehabilitationsträger stellt gemäß § 14 Abs. 5 SGB IX sicher, dass er Sachverständige beauftragen kann, bei denen Zugangs- und Kommunikationsbarrieren nicht bestehen. Ist für die Feststellung des Rehabilitationsbedarfs ein Gutachten erforderlich, beauftragt der Rehabilitationsträger unverzüglich einen geeigneten Sachverständigen. Er benennt den Leistungsberechtigten in der Regel drei möglichst wohnortnahe Sachverständige unter Berücksichtigung bestehender sozialmedizinischer Dienste. Haben sich Leistungsberechtigte für einen benannten Sachverständigen entschieden, wird dem Wunsch Rechnung getragen. Der Sachverständige nimmt eine umfassende sozialmedizinische, bei Bedarf auch psychologische Begutachtung vor und erstellt das Gutachten innerhalb von zwei Wochen nach Auftragserteilung. Die in dem Gutachten getroffenen Feststellungen zum Rehabilitationsbedarf werden den Entscheidungen der Rehabilitationsträger zugrunde gelegt. Die gesetzlichen Aufgaben der Gesundheitsämter bleiben unberührt.

Hält der leistende Rehabilitationsträger weitere Leistungen zur Teilhabe für erforderlich und kann er für diese Leistungen nicht Rehabilitationsträger nach § 6 Abs. 1 sein, wird gemäß § 14 Abs. 6 SGB IX dann § 14 Absatz 1 Satz 2 SGB IX entsprechend angewendet. Die Leistungsberechtigten werden hierüber unterrichtet.

Hiervon ausgehend ist der Antragsgegner aufgrund der Zuständigkeitsfiktion des § 14 Abs. 2 SGB IX nun für die Leistungserbringung zuständig. Der Antragsgegner hat den Antrag jedenfalls an keinen Dritten aus seiner Sicht zuständigen Reha-Träger weitergeleitet. Als solcher wäre hier möglicherweise der örtliche Reha-Träger des aktuellen Wohnsitzes des Antragstellers in Betracht gekommen. An diesen wurde hier aber jedenfalls und auch nicht innerhalb der Frist des § 14 Abs. 1 SGB IX weitergeleitet. Deshalb ist eine Zuständigkeitsfiktion nach § 14 Abs. 1 SGB IX eingetreten. Gegenüber dem LWL, von dem weitergeleitet wurde, kann sich der Antragsgegner nicht auf seine mangelnde Zuständigkeit berufen, da es ja gerade Schutzzweck des § 14 SGB IX ist, dieses Zuständigkeitsgerangel angesichts der recht unübersichtlichen Zuständigkeitsregelungen im materiellen Reha-Recht, für das letztlich sämtliche Träger der Sozialversicherung sowie die örtlichen und überörtlichen Träger der Sozialhilfe und die örtlichen und überörtlichen Träger der Jugendhilfe je nach Lage des Einzelfalls zuständig sein können, nicht auf dem Rücken des Bürgers auszutragen. Insoweit kann zum Schutz des Bürgers gleichsam nicht an den Träger, der seine Zuständigkeit verneint hat, zurückverwiesen werden, egal ob seine Entscheidung richtig oder falsch ist und egal ob seine Entscheidung eine Darlegung der rechtlichen Erwägungen enthält oder einfach ohne Angabe jeglicher Gründe erfolgt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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