S 2 SO 113/16 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
2
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 2 SO 113/16 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antragsgegner wird im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes vorläufig und bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens verpflichtet, der Antragstellerin Leistungen der Eingliederungshilfe im bisherigen Umfang von 1,5 Stunden pro Tag für hauswirtschaftliche Unterstützung, 14 Stunden Assistenzleistung pro Tag und 4 Stunden nächtliche Assistenz, berechnet aus 8 Stunden unter Zugrundelegung eines Zeitanteils von 50%, zu gewähren. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe:

I.

Die an allen vier Extremitäten gelähmte Antragstellerin begehrt die Weitergewährung ihrer Versorgung im bisherigen Umfang.

Bei der Antragstellerin besteht eine Multiple Sklerose im fortgeschrittenen Stadium. Sie ist inzwischen an allen vier Extremitäten komplett gelähmt. Die Finger befinden sich in einer Fauststellung, die sich aktiv nicht öffnen kann. Die Atemfunktion ist noch in ausreichendem Maße erhalten. Das Sprachvermögen ist ebenfalls erhalten. Es besteht Pflegestufe III in der Pflegeversicherung. Die Antragstellerin hat eine Tochter, die die neunte Schulklasse besucht und beim Kindsvater lebt. Sie hat regelmäßigen Kontakt zur Mutter.

Die Antragstellerin erhielt bisher Eingliederungshilfeleistungen von dem Antragsgegner. Zunächst war der Antragstellerin mit Bescheid vom 03.02.2016 Eingliederungshilfe in einem Umfang von 1,5 Stunden pro Tag für hauswirtschaftliche Unterstützung, 14 Stunden Assistenzleistung pro Tag bewilligt worden. Zum zeitlichen Umfang formulierte der Bescheid, die Leistung verlängere sich jeweils für einen weiteren Monat, sofern sich die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht wesentlich änderten, längstens jedoch bis zum 31.03.2016. Danach erfolge keine Eingliederungshilfe mehr, infolgedessen sei dann der örtliche Träger der Sozialhilfe für die übrige Versorgung zuständig.

Zuletzt wurden der Antragstellerin mit Bescheid vom 23.02.2016 Leistungen in einem Umfang von 1,5 Stunden pro Tag für hauswirtschaftliche Unterstützung, 14 Stunden Assistenzleistung pro Tag und 4 Stunden nächtliche Assistenz, berechnet aus 8 Stunden unter Zugrundelegung eines Zeitanteils von 50%, bewilligt. Zum zeitlichen Umfang führte der Bescheid wiederum aus, die Leistung verlängere sich jeweils für einen weiteren Monat, sofern sich die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht wesentlich änderten, längstens jedoch bis zum 31.03.2016. Danach erfolge keine Eingliederungshilfe mehr, infolgedessen sei dann der örtliche Träger der Sozialhilfe für die übrige Versorgung zuständig.

Gegen die beiden Bescheide legte der Antragsteller Widerspruch ein. Es sei nicht zulässig, Leistungen, die schon erbracht worden seien, nachträglich zu kürzen. Durch die kurzfristige Einstellung der Leistungen bestehe Gefahr für die Antragstellerin. Auf die Widerspruchsbegründung vom 07.03.2016 wird Bezug genommen.

Die Antragstellerin begehrt nun einstweiligen Rechtsschutz. Sie begehrt inhaltlich die vorläufige Weitergewährung der Leistungen im bisherigen Umfang. Es handle sich für die Antragstellerin um eine Angelegenheit elementarer Bedeutung, inwieweit ihr trotz oder gerade wegen ihrer erheblichen Einschränkungen eine Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft erhalten bleiben könne. Es sei nicht davon auszugehen, dass der Widerspruch auf keinen Fall Erfolgsaussichten habe. Die Umstellung der Finanzierung weg vom Pflegemodell durch den Verein "Rückenwind" hätte so schwere Auswirkungen, dass allein die Rechtsfolgenabwägung zugunsten der Antragstellerin ausfallen müsse.

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,

den Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes vorläufig zu verpflichten, ihr Leistungen der Eingliederungshilfe im bisherigen Umfang zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Die Einstellung der Leistung zum April 2016 beruhe auf einem Hausbesuch ihres ärztlichen Dienstes. Der Bedarf der Antragstellerin sei künftig ausschließlich im Rahmen der Hilfe zur Pflege zu decken, für den der örtliche Träger zuständig sei. Aufgrund der Lähmung aller vier Extremitäten könne die Antragstellerin lediglich noch 2 bis 3 Mal in der Woche in den Pflegerollstuhl gesetzt und ortsnah an die frische Luft gebracht werden. Durch die ständige Bettlägerigkeit sei sie weder in die Gemeinde noch in die Nachbarschaft integriert. Am örtlichen Gemeinschaftsleben könne sie nicht teilnehmen. Kontakt bestehe nur zur Tochter.

Für die weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die Akten des Verwaltungsverfahrens. Diese haben bei der Entscheidung vorgelegen.

II.

Der auch als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auszulegende Antrag ist zulässig und begründet.

Das Gericht der Hauptsache kann gemäß § 86b Abs. 1 SGG auf Antrag ( ) 2. in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Diese Bestimmung kommt auch zur Anwendung, wenn die Verwaltung die aufschiebende Wirkung nicht beachtet, also die aufschiebende Wirkung festgestellt werden muss (Meyer-Ladewig/Keller, Kommentar zum SGG § 86b Rdnr. 5 und 15). Gemäß § 86b Abs. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache ferner auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines bestehenden Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Der geltend gemachte Hilfeanspruch (Anordnungsanspruch) und die besonderen Gründe für die Notwendigkeit der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund), die Eilbedürftigkeit, sind gemäß §§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft zu machen. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens bedarf es einer Interessenabwägung, ob dem Antragsteller unter Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligten unzumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Im vorliegenden Fall geht die Interessenabwägung zugunsten der Antragstellerin aus. Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, erhalten gemäß § 53 Abs.1 SGB XII Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Personen mit einer anderen körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung können Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten. Von einer Behinderung bedroht sind gemäß § 53 Abs. 2 SGB XII Personen, bei denen der Eintritt der Behinderung nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Dies gilt für Personen, für die vorbeugende Gesundheitshilfe und Hilfe bei Krankheit nach den §§ 47 und 48 erforderlich ist, nur, wenn auch bei Durchführung dieser Leistungen eine Behinderung einzutreten droht. Besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es gemäß § 53 Abs. 3 SGB XII, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört insbesondere, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihnen die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen. Für die Leistungen zur Teilhabe gelten gemäß § 53 Abs. 4 SGB XII die Vorschriften des Neunten Buches, soweit sich aus diesem Buch und den auf Grund dieses Buches erlassenen Rechtsverordnungen nichts Abweichendes ergibt. Die Zuständigkeit und die Voraussetzungen für die Leistungen zur Teilhabe richten sich nach diesem Buch.

Im Rahmen der Abwägung vermag das Gericht anhand der vorliegenden Aktenlage nicht zu erkennen, dass die Gewährung von Eingliederungshilfe bei der Antragstellerin keinen Zweck mehr machen würde. Die tatsächliche Beendigung der Gewährung von Eingliederungshilfe könnte im Falle der Rechtswidrigkeit zu schweren, unzumutbaren Nachteilen bei der Antragstellerin führen. Die Leistung wäre nicht mehr nachholbar. Gerade weil die Antragstellerin an allen vier Extremitäten gelähmt ist, besteht eine sehr schwere körperliche Behinderung. Gerade deshalb kann die Gewährung von Eingliederungshilfe besonders geboten sein, um ihr eine Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft überhaupt noch irgendwie zu ermöglichen. Der Ausgang des Hauptsacheverfahrens ist daher ungewiss. Die Interessenabwägung fällt hier zugunsten der Antragstellerin aus.
Rechtskraft
Aus
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